Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Getreidezölle und Handelsverträge

geeignet wäre. Diese Leutenot ist vor allem in den letzten fünf Jahren durch
die ungeheure, übermäßige, fast schwiudelhafte Ausdehnung der industriellen
Betriebe hervorgerufen oder doch bis zu ihrer heutigen Unertrüglichkeit gesteigert
worden. Die Landwirte haben Recht, diese Erscheinung als unnatürlich und
ungesund zu verdammen. Aber wie wollen sie ihr denn durch die Bundes-
genossenschaft mit der Industrie auf dem Wege der Zollgesetzgebung steuern?
Daß etwa gerade die industrielle Produktiv" für deu Export an dem Unglück
schuld trage, ist ja ein hinten und vorn hundertmal widerlegtes Märchen.
Die höhern Zahlen der Exportwerte seit 1895 beweisen gar nichts, denn erstens
sind sie hauptsächlich veranlaßt dnrch die starke Steigung des Preises fast aller
industriellen Produkte, und zweitens ist die Produktion für deu inneren Markt
erst recht forciert worden, namentlich die Produktion, die in der Steigerung
der einheimischen Produktions- und Verkehrsmittel besteht. Wenn, wie wir
erwarten und -- Gott verzeih uns die Sünde -- fast wünsche", ein ganz
kräftiger Krach dem schwindelhafte" "Aufschwung" der Industrie bald ein Ende
machen sollte und massenhaft Arbeiter, die der Schwindel vom Lande weg in
die Fabriken, Gruben, in den großstädtischen Handel und Verkehr gelockt hat,
arbeitslos werden, da werden die Herren Industriellen wie vor fünfundzwanzig
Jahren natürlich Zeter schreien und das Verlangen nach hohen Schutzzöllen
mit der Rücksicht ans ihre übermäßig vermehrte Arbeiterschaft begründen.
Sollen ihnen dann die Landwirte Vorspanndienste leisten? Wie die Sachen
jetzt liegen, wäre es wahrhaftig kein Unglück, sondern ein großes Glück, wenn
recht viele Arbeiter recht bald durch Arbeitslosigkeit in der Industrie und in
den Städten gezwungen würden, daran zu denken und darüber von ganzem
Herzen erfreut zu sein, daß auf dem Lande Arbeiterinangel herrscht, daß es
sich hier auch leben läßt, in vielen Beziehungen besser als in der Stadt und
in dein Fabrikort. Daß die Agrarier jetzt auch versuchen, die Forderung nach
exorbitanten Zollerhöhuugen im Rahmen der Zollvertragspvlitik damit zu be¬
gründen, daß sie das nur im Interesse der Laudarbeiterschaft, der sie dann
höhere Löhne geben würden, verlangten, zeugt von einer bedauerlichen Ver¬
blendung jedem halbwegs plausibeln Schlagwort gegenüber, und von einem
ganz ungeheuerlichen Doktrinarismus bei denen, die das wirklich glauben. In
xnixi wird unsre Landwirtschaft in den nächsten Jahrzehnten froh sein müssen,
wenn sie sich einer weitern Steigerung der ohnedies so schnell und stark ge-
stiegnen Löhne möglichst entzieh" kann. Die Zollpolitik kann in absey¬
barer Zeit der Leutenot absolut nicht steuern. Wenn die Zollerhöhnng, was
sie, in alter Weise gestaltet, unfehlbar thun wird, die Landwirte an der un¬
erläßlichen Herabsetzung des Grundwerth und an der ebenso wichtigen Ein-
schränkung der Kostspieligkeit des Betriebs, Intensität genannt, weiter hindert,
und wenn die industrielle Schutzzollpolitik die Großindustrien weiter zu künst¬
lichem "Aufschwung" bringen sollte, so wird die Leutenot nicht kleiner, sondern
größer werden.

Wer könnte bei einer so komplizierten Lage, wie die ist, in die das ur-


Getreidezölle und Handelsverträge

geeignet wäre. Diese Leutenot ist vor allem in den letzten fünf Jahren durch
die ungeheure, übermäßige, fast schwiudelhafte Ausdehnung der industriellen
Betriebe hervorgerufen oder doch bis zu ihrer heutigen Unertrüglichkeit gesteigert
worden. Die Landwirte haben Recht, diese Erscheinung als unnatürlich und
ungesund zu verdammen. Aber wie wollen sie ihr denn durch die Bundes-
genossenschaft mit der Industrie auf dem Wege der Zollgesetzgebung steuern?
Daß etwa gerade die industrielle Produktiv» für deu Export an dem Unglück
schuld trage, ist ja ein hinten und vorn hundertmal widerlegtes Märchen.
Die höhern Zahlen der Exportwerte seit 1895 beweisen gar nichts, denn erstens
sind sie hauptsächlich veranlaßt dnrch die starke Steigung des Preises fast aller
industriellen Produkte, und zweitens ist die Produktion für deu inneren Markt
erst recht forciert worden, namentlich die Produktion, die in der Steigerung
der einheimischen Produktions- und Verkehrsmittel besteht. Wenn, wie wir
erwarten und — Gott verzeih uns die Sünde — fast wünsche», ein ganz
kräftiger Krach dem schwindelhafte» „Aufschwung" der Industrie bald ein Ende
machen sollte und massenhaft Arbeiter, die der Schwindel vom Lande weg in
die Fabriken, Gruben, in den großstädtischen Handel und Verkehr gelockt hat,
arbeitslos werden, da werden die Herren Industriellen wie vor fünfundzwanzig
Jahren natürlich Zeter schreien und das Verlangen nach hohen Schutzzöllen
mit der Rücksicht ans ihre übermäßig vermehrte Arbeiterschaft begründen.
Sollen ihnen dann die Landwirte Vorspanndienste leisten? Wie die Sachen
jetzt liegen, wäre es wahrhaftig kein Unglück, sondern ein großes Glück, wenn
recht viele Arbeiter recht bald durch Arbeitslosigkeit in der Industrie und in
den Städten gezwungen würden, daran zu denken und darüber von ganzem
Herzen erfreut zu sein, daß auf dem Lande Arbeiterinangel herrscht, daß es
sich hier auch leben läßt, in vielen Beziehungen besser als in der Stadt und
in dein Fabrikort. Daß die Agrarier jetzt auch versuchen, die Forderung nach
exorbitanten Zollerhöhuugen im Rahmen der Zollvertragspvlitik damit zu be¬
gründen, daß sie das nur im Interesse der Laudarbeiterschaft, der sie dann
höhere Löhne geben würden, verlangten, zeugt von einer bedauerlichen Ver¬
blendung jedem halbwegs plausibeln Schlagwort gegenüber, und von einem
ganz ungeheuerlichen Doktrinarismus bei denen, die das wirklich glauben. In
xnixi wird unsre Landwirtschaft in den nächsten Jahrzehnten froh sein müssen,
wenn sie sich einer weitern Steigerung der ohnedies so schnell und stark ge-
stiegnen Löhne möglichst entzieh» kann. Die Zollpolitik kann in absey¬
barer Zeit der Leutenot absolut nicht steuern. Wenn die Zollerhöhnng, was
sie, in alter Weise gestaltet, unfehlbar thun wird, die Landwirte an der un¬
erläßlichen Herabsetzung des Grundwerth und an der ebenso wichtigen Ein-
schränkung der Kostspieligkeit des Betriebs, Intensität genannt, weiter hindert,
und wenn die industrielle Schutzzollpolitik die Großindustrien weiter zu künst¬
lichem „Aufschwung" bringen sollte, so wird die Leutenot nicht kleiner, sondern
größer werden.

Wer könnte bei einer so komplizierten Lage, wie die ist, in die das ur-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0187" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/291264"/>
          <fw type="header" place="top"> Getreidezölle und Handelsverträge</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_685" prev="#ID_684"> geeignet wäre. Diese Leutenot ist vor allem in den letzten fünf Jahren durch<lb/>
die ungeheure, übermäßige, fast schwiudelhafte Ausdehnung der industriellen<lb/>
Betriebe hervorgerufen oder doch bis zu ihrer heutigen Unertrüglichkeit gesteigert<lb/>
worden. Die Landwirte haben Recht, diese Erscheinung als unnatürlich und<lb/>
ungesund zu verdammen. Aber wie wollen sie ihr denn durch die Bundes-<lb/>
genossenschaft mit der Industrie auf dem Wege der Zollgesetzgebung steuern?<lb/>
Daß etwa gerade die industrielle Produktiv» für deu Export an dem Unglück<lb/>
schuld trage, ist ja ein hinten und vorn hundertmal widerlegtes Märchen.<lb/>
Die höhern Zahlen der Exportwerte seit 1895 beweisen gar nichts, denn erstens<lb/>
sind sie hauptsächlich veranlaßt dnrch die starke Steigung des Preises fast aller<lb/>
industriellen Produkte, und zweitens ist die Produktion für deu inneren Markt<lb/>
erst recht forciert worden, namentlich die Produktion, die in der Steigerung<lb/>
der einheimischen Produktions- und Verkehrsmittel besteht. Wenn, wie wir<lb/>
erwarten und &#x2014; Gott verzeih uns die Sünde &#x2014; fast wünsche», ein ganz<lb/>
kräftiger Krach dem schwindelhafte» &#x201E;Aufschwung" der Industrie bald ein Ende<lb/>
machen sollte und massenhaft Arbeiter, die der Schwindel vom Lande weg in<lb/>
die Fabriken, Gruben, in den großstädtischen Handel und Verkehr gelockt hat,<lb/>
arbeitslos werden, da werden die Herren Industriellen wie vor fünfundzwanzig<lb/>
Jahren natürlich Zeter schreien und das Verlangen nach hohen Schutzzöllen<lb/>
mit der Rücksicht ans ihre übermäßig vermehrte Arbeiterschaft begründen.<lb/>
Sollen ihnen dann die Landwirte Vorspanndienste leisten? Wie die Sachen<lb/>
jetzt liegen, wäre es wahrhaftig kein Unglück, sondern ein großes Glück, wenn<lb/>
recht viele Arbeiter recht bald durch Arbeitslosigkeit in der Industrie und in<lb/>
den Städten gezwungen würden, daran zu denken und darüber von ganzem<lb/>
Herzen erfreut zu sein, daß auf dem Lande Arbeiterinangel herrscht, daß es<lb/>
sich hier auch leben läßt, in vielen Beziehungen besser als in der Stadt und<lb/>
in dein Fabrikort. Daß die Agrarier jetzt auch versuchen, die Forderung nach<lb/>
exorbitanten Zollerhöhuugen im Rahmen der Zollvertragspvlitik damit zu be¬<lb/>
gründen, daß sie das nur im Interesse der Laudarbeiterschaft, der sie dann<lb/>
höhere Löhne geben würden, verlangten, zeugt von einer bedauerlichen Ver¬<lb/>
blendung jedem halbwegs plausibeln Schlagwort gegenüber, und von einem<lb/>
ganz ungeheuerlichen Doktrinarismus bei denen, die das wirklich glauben. In<lb/>
xnixi wird unsre Landwirtschaft in den nächsten Jahrzehnten froh sein müssen,<lb/>
wenn sie sich einer weitern Steigerung der ohnedies so schnell und stark ge-<lb/>
stiegnen Löhne möglichst entzieh» kann. Die Zollpolitik kann in absey¬<lb/>
barer Zeit der Leutenot absolut nicht steuern. Wenn die Zollerhöhnng, was<lb/>
sie, in alter Weise gestaltet, unfehlbar thun wird, die Landwirte an der un¬<lb/>
erläßlichen Herabsetzung des Grundwerth und an der ebenso wichtigen Ein-<lb/>
schränkung der Kostspieligkeit des Betriebs, Intensität genannt, weiter hindert,<lb/>
und wenn die industrielle Schutzzollpolitik die Großindustrien weiter zu künst¬<lb/>
lichem &#x201E;Aufschwung" bringen sollte, so wird die Leutenot nicht kleiner, sondern<lb/>
größer werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_686" next="#ID_687"> Wer könnte bei einer so komplizierten Lage, wie die ist, in die das ur-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0187] Getreidezölle und Handelsverträge geeignet wäre. Diese Leutenot ist vor allem in den letzten fünf Jahren durch die ungeheure, übermäßige, fast schwiudelhafte Ausdehnung der industriellen Betriebe hervorgerufen oder doch bis zu ihrer heutigen Unertrüglichkeit gesteigert worden. Die Landwirte haben Recht, diese Erscheinung als unnatürlich und ungesund zu verdammen. Aber wie wollen sie ihr denn durch die Bundes- genossenschaft mit der Industrie auf dem Wege der Zollgesetzgebung steuern? Daß etwa gerade die industrielle Produktiv» für deu Export an dem Unglück schuld trage, ist ja ein hinten und vorn hundertmal widerlegtes Märchen. Die höhern Zahlen der Exportwerte seit 1895 beweisen gar nichts, denn erstens sind sie hauptsächlich veranlaßt dnrch die starke Steigung des Preises fast aller industriellen Produkte, und zweitens ist die Produktion für deu inneren Markt erst recht forciert worden, namentlich die Produktion, die in der Steigerung der einheimischen Produktions- und Verkehrsmittel besteht. Wenn, wie wir erwarten und — Gott verzeih uns die Sünde — fast wünsche», ein ganz kräftiger Krach dem schwindelhafte» „Aufschwung" der Industrie bald ein Ende machen sollte und massenhaft Arbeiter, die der Schwindel vom Lande weg in die Fabriken, Gruben, in den großstädtischen Handel und Verkehr gelockt hat, arbeitslos werden, da werden die Herren Industriellen wie vor fünfundzwanzig Jahren natürlich Zeter schreien und das Verlangen nach hohen Schutzzöllen mit der Rücksicht ans ihre übermäßig vermehrte Arbeiterschaft begründen. Sollen ihnen dann die Landwirte Vorspanndienste leisten? Wie die Sachen jetzt liegen, wäre es wahrhaftig kein Unglück, sondern ein großes Glück, wenn recht viele Arbeiter recht bald durch Arbeitslosigkeit in der Industrie und in den Städten gezwungen würden, daran zu denken und darüber von ganzem Herzen erfreut zu sein, daß auf dem Lande Arbeiterinangel herrscht, daß es sich hier auch leben läßt, in vielen Beziehungen besser als in der Stadt und in dein Fabrikort. Daß die Agrarier jetzt auch versuchen, die Forderung nach exorbitanten Zollerhöhuugen im Rahmen der Zollvertragspvlitik damit zu be¬ gründen, daß sie das nur im Interesse der Laudarbeiterschaft, der sie dann höhere Löhne geben würden, verlangten, zeugt von einer bedauerlichen Ver¬ blendung jedem halbwegs plausibeln Schlagwort gegenüber, und von einem ganz ungeheuerlichen Doktrinarismus bei denen, die das wirklich glauben. In xnixi wird unsre Landwirtschaft in den nächsten Jahrzehnten froh sein müssen, wenn sie sich einer weitern Steigerung der ohnedies so schnell und stark ge- stiegnen Löhne möglichst entzieh» kann. Die Zollpolitik kann in absey¬ barer Zeit der Leutenot absolut nicht steuern. Wenn die Zollerhöhnng, was sie, in alter Weise gestaltet, unfehlbar thun wird, die Landwirte an der un¬ erläßlichen Herabsetzung des Grundwerth und an der ebenso wichtigen Ein- schränkung der Kostspieligkeit des Betriebs, Intensität genannt, weiter hindert, und wenn die industrielle Schutzzollpolitik die Großindustrien weiter zu künst¬ lichem „Aufschwung" bringen sollte, so wird die Leutenot nicht kleiner, sondern größer werden. Wer könnte bei einer so komplizierten Lage, wie die ist, in die das ur-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/187
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/187>, abgerufen am 16.06.2024.