Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lernjahre eines Theologen

theologische Dozent und jeder Student der Theologie für sich in Anspruch.
Am treffendsten ist die Sachlage von Geibel") ausgedrückt-

So siud die Bekenntnisse thatsächlich keine Schranke des Forschens. Das
angeführte Wort Nietzsches gilt ganz besonders auch für das Studium der
Theologie. Das eigne Suchen ist schon darum notwendig, weil es fast ebenso
viel verschiedne Theologien als bedeutende Theologen giebt. Der Neuling
wird zwar oft damit beginnen, nur einen zu hören und auf des Meisters
Worte zu schwören. Die meisten Schüler pflegt nicht der zu haben, der metho¬
disch an: strengsten verfährt, sondern wer am meisten mit Affekt und Wärme
redet. Es mag much für viele ein guter Durchgangspunkt sein, zuerst im Nach¬
denken der Gedanken eines andern die eigne Denkkraft zu üben. Ein Schade
ist es nur, daß bei einer großen Menge die Weiterentwicklung zu frühzeitig
abgebrochen wird. Die Studienzeit ist kurz, das Examen droht. Viele suchen
sich aus Bequemlichkeit eine Überzeugung anzueignen, wie sie den prüfenden
Konsistorialräten genehm ist. Nach dem Examen ist die gewöhnliche Meinung:
Die Zeit des Prüfens und Forschens ist vorüber. Die meisten stagnieren, in
dem Etttwicklungsstadium, das sie zufällig gerade erreicht bilden. Immerhin
merken doch viele schon nach wenigen Semestern: Von dem, was dein Pro¬
fessor sagt, wird auf derselben oder einer benachbarten Hochschule von einem
andern das Gegenteil gelehrt. Zunächst übt der Neuling seine Kraft in hoch¬
mütigem Absprechen über die Gegner seines Professors. Wieder beharren
einige ihr Leben lang ans dieser Entwicklungsstufe. Der Weg, über dieses
Stadium hinauszukommen, ist wohl am einfachsten der: Man werfe sich mit
Energie auf eine Einzelarbeit, wozu etwa die ilbuugen eines Seminars an¬
leiten, und arbeite die entgegengesetzten Meinungen durch. Viele finden hier
keinen Ausweg. Ein wahrer Schauder vor den vielen sich widersprechenden
Meinungen ergreift sie. Wieder tritt die Bersnchnng des Mephistopheles an
die Seelen heran:

Es kommt hinzu ein Schauder vor dein ausgedehnten Wissensstoff, oft sogar
ein wahrer Horror vor allzu dicken Büchern. Dazu die Lockungen: das Alte,
Hergebrachte ist viel bequemer. Oder: viele Richtungen brauchen oder dürfen
von vornherein nicht gehört oder gelesen werden, denn sie sind seelcngefährlich,



*) Gedichte uns dem Nachlaß, Seite 261.
Lernjahre eines Theologen

theologische Dozent und jeder Student der Theologie für sich in Anspruch.
Am treffendsten ist die Sachlage von Geibel") ausgedrückt-

So siud die Bekenntnisse thatsächlich keine Schranke des Forschens. Das
angeführte Wort Nietzsches gilt ganz besonders auch für das Studium der
Theologie. Das eigne Suchen ist schon darum notwendig, weil es fast ebenso
viel verschiedne Theologien als bedeutende Theologen giebt. Der Neuling
wird zwar oft damit beginnen, nur einen zu hören und auf des Meisters
Worte zu schwören. Die meisten Schüler pflegt nicht der zu haben, der metho¬
disch an: strengsten verfährt, sondern wer am meisten mit Affekt und Wärme
redet. Es mag much für viele ein guter Durchgangspunkt sein, zuerst im Nach¬
denken der Gedanken eines andern die eigne Denkkraft zu üben. Ein Schade
ist es nur, daß bei einer großen Menge die Weiterentwicklung zu frühzeitig
abgebrochen wird. Die Studienzeit ist kurz, das Examen droht. Viele suchen
sich aus Bequemlichkeit eine Überzeugung anzueignen, wie sie den prüfenden
Konsistorialräten genehm ist. Nach dem Examen ist die gewöhnliche Meinung:
Die Zeit des Prüfens und Forschens ist vorüber. Die meisten stagnieren, in
dem Etttwicklungsstadium, das sie zufällig gerade erreicht bilden. Immerhin
merken doch viele schon nach wenigen Semestern: Von dem, was dein Pro¬
fessor sagt, wird auf derselben oder einer benachbarten Hochschule von einem
andern das Gegenteil gelehrt. Zunächst übt der Neuling seine Kraft in hoch¬
mütigem Absprechen über die Gegner seines Professors. Wieder beharren
einige ihr Leben lang ans dieser Entwicklungsstufe. Der Weg, über dieses
Stadium hinauszukommen, ist wohl am einfachsten der: Man werfe sich mit
Energie auf eine Einzelarbeit, wozu etwa die ilbuugen eines Seminars an¬
leiten, und arbeite die entgegengesetzten Meinungen durch. Viele finden hier
keinen Ausweg. Ein wahrer Schauder vor den vielen sich widersprechenden
Meinungen ergreift sie. Wieder tritt die Bersnchnng des Mephistopheles an
die Seelen heran:

Es kommt hinzu ein Schauder vor dein ausgedehnten Wissensstoff, oft sogar
ein wahrer Horror vor allzu dicken Büchern. Dazu die Lockungen: das Alte,
Hergebrachte ist viel bequemer. Oder: viele Richtungen brauchen oder dürfen
von vornherein nicht gehört oder gelesen werden, denn sie sind seelcngefährlich,



*) Gedichte uns dem Nachlaß, Seite 261.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0193" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/291270"/>
            <fw type="header" place="top"> Lernjahre eines Theologen</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_697" prev="#ID_696"> theologische Dozent und jeder Student der Theologie für sich in Anspruch.<lb/>
Am treffendsten ist die Sachlage von Geibel") ausgedrückt-</p><lb/>
            <lg xml:id="POEMID_3" type="poem">
              <l/>
            </lg><lb/>
            <p xml:id="ID_698"> So siud die Bekenntnisse thatsächlich keine Schranke des Forschens. Das<lb/>
angeführte Wort Nietzsches gilt ganz besonders auch für das Studium der<lb/>
Theologie. Das eigne Suchen ist schon darum notwendig, weil es fast ebenso<lb/>
viel verschiedne Theologien als bedeutende Theologen giebt. Der Neuling<lb/>
wird zwar oft damit beginnen, nur einen zu hören und auf des Meisters<lb/>
Worte zu schwören. Die meisten Schüler pflegt nicht der zu haben, der metho¬<lb/>
disch an: strengsten verfährt, sondern wer am meisten mit Affekt und Wärme<lb/>
redet. Es mag much für viele ein guter Durchgangspunkt sein, zuerst im Nach¬<lb/>
denken der Gedanken eines andern die eigne Denkkraft zu üben. Ein Schade<lb/>
ist es nur, daß bei einer großen Menge die Weiterentwicklung zu frühzeitig<lb/>
abgebrochen wird. Die Studienzeit ist kurz, das Examen droht. Viele suchen<lb/>
sich aus Bequemlichkeit eine Überzeugung anzueignen, wie sie den prüfenden<lb/>
Konsistorialräten genehm ist. Nach dem Examen ist die gewöhnliche Meinung:<lb/>
Die Zeit des Prüfens und Forschens ist vorüber. Die meisten stagnieren, in<lb/>
dem Etttwicklungsstadium, das sie zufällig gerade erreicht bilden. Immerhin<lb/>
merken doch viele schon nach wenigen Semestern: Von dem, was dein Pro¬<lb/>
fessor sagt, wird auf derselben oder einer benachbarten Hochschule von einem<lb/>
andern das Gegenteil gelehrt. Zunächst übt der Neuling seine Kraft in hoch¬<lb/>
mütigem Absprechen über die Gegner seines Professors. Wieder beharren<lb/>
einige ihr Leben lang ans dieser Entwicklungsstufe. Der Weg, über dieses<lb/>
Stadium hinauszukommen, ist wohl am einfachsten der: Man werfe sich mit<lb/>
Energie auf eine Einzelarbeit, wozu etwa die ilbuugen eines Seminars an¬<lb/>
leiten, und arbeite die entgegengesetzten Meinungen durch. Viele finden hier<lb/>
keinen Ausweg. Ein wahrer Schauder vor den vielen sich widersprechenden<lb/>
Meinungen ergreift sie. Wieder tritt die Bersnchnng des Mephistopheles an<lb/>
die Seelen heran:</p><lb/>
            <lg xml:id="POEMID_4" type="poem">
              <l/>
            </lg><lb/>
            <p xml:id="ID_699" next="#ID_700"> Es kommt hinzu ein Schauder vor dein ausgedehnten Wissensstoff, oft sogar<lb/>
ein wahrer Horror vor allzu dicken Büchern. Dazu die Lockungen: das Alte,<lb/>
Hergebrachte ist viel bequemer. Oder: viele Richtungen brauchen oder dürfen<lb/>
von vornherein nicht gehört oder gelesen werden, denn sie sind seelcngefährlich,</p><lb/>
            <note xml:id="FID_19" place="foot"> *) Gedichte uns dem Nachlaß, Seite 261.</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0193] Lernjahre eines Theologen theologische Dozent und jeder Student der Theologie für sich in Anspruch. Am treffendsten ist die Sachlage von Geibel") ausgedrückt- So siud die Bekenntnisse thatsächlich keine Schranke des Forschens. Das angeführte Wort Nietzsches gilt ganz besonders auch für das Studium der Theologie. Das eigne Suchen ist schon darum notwendig, weil es fast ebenso viel verschiedne Theologien als bedeutende Theologen giebt. Der Neuling wird zwar oft damit beginnen, nur einen zu hören und auf des Meisters Worte zu schwören. Die meisten Schüler pflegt nicht der zu haben, der metho¬ disch an: strengsten verfährt, sondern wer am meisten mit Affekt und Wärme redet. Es mag much für viele ein guter Durchgangspunkt sein, zuerst im Nach¬ denken der Gedanken eines andern die eigne Denkkraft zu üben. Ein Schade ist es nur, daß bei einer großen Menge die Weiterentwicklung zu frühzeitig abgebrochen wird. Die Studienzeit ist kurz, das Examen droht. Viele suchen sich aus Bequemlichkeit eine Überzeugung anzueignen, wie sie den prüfenden Konsistorialräten genehm ist. Nach dem Examen ist die gewöhnliche Meinung: Die Zeit des Prüfens und Forschens ist vorüber. Die meisten stagnieren, in dem Etttwicklungsstadium, das sie zufällig gerade erreicht bilden. Immerhin merken doch viele schon nach wenigen Semestern: Von dem, was dein Pro¬ fessor sagt, wird auf derselben oder einer benachbarten Hochschule von einem andern das Gegenteil gelehrt. Zunächst übt der Neuling seine Kraft in hoch¬ mütigem Absprechen über die Gegner seines Professors. Wieder beharren einige ihr Leben lang ans dieser Entwicklungsstufe. Der Weg, über dieses Stadium hinauszukommen, ist wohl am einfachsten der: Man werfe sich mit Energie auf eine Einzelarbeit, wozu etwa die ilbuugen eines Seminars an¬ leiten, und arbeite die entgegengesetzten Meinungen durch. Viele finden hier keinen Ausweg. Ein wahrer Schauder vor den vielen sich widersprechenden Meinungen ergreift sie. Wieder tritt die Bersnchnng des Mephistopheles an die Seelen heran: Es kommt hinzu ein Schauder vor dein ausgedehnten Wissensstoff, oft sogar ein wahrer Horror vor allzu dicken Büchern. Dazu die Lockungen: das Alte, Hergebrachte ist viel bequemer. Oder: viele Richtungen brauchen oder dürfen von vornherein nicht gehört oder gelesen werden, denn sie sind seelcngefährlich, *) Gedichte uns dem Nachlaß, Seite 261.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/193
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/193>, abgerufen am 16.06.2024.