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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Bücher über Ibsen

Und wils hätte er denn in seiner Kritik der Gesellschaft und der Ehe vor¬
gebracht, was nicht unzähligemal gesagt worden wäre und unablässig gesagt
würde? Das; die Gesellschaft nichts langt und ihre Tugend eitel Heuchelei
ist, haben die Spötter gesagt von Aristophanes bis Juvenal, von Boccaccio
bis Sebastian Braut, von Rabelais bis Voltaire, von Lord Byron und Heine
bis zum Kladderadatsch, und haben die positiven Geister, die großen Reforma¬
toren gesagt von Jesaja und Sokrates bis auf Christus, vou Peter Damian
und Bernard von Clairvaux bis Savonarola, von Luther bis Carlyle. Und
wie Ibsen nichts einzureißen gefunden hat, so finden wir nichts aufzubauen
in dem Sinne, daß es sich um die Herstellung eines Neuen, nie Dagewesenen
handelte. Das dritte Reich, das so viel Gluck und Schönheit, als die Menschen¬
kinder ans Erden zu erlangen und zu ertragen vermögen, mit Liebe, Gerechtig¬
keit und Pflichterfüllung vereinigen soll, dieses Reich ist weder etwas Zukünf¬
tiges noch etwas Äußerliches, denn, sagt Christus, das Himmelreich kommt
nicht so, daß man es äußerlich wahrnehmen könnte ^er" ?c"^"r^^^'<7e^g) und
sagen könnte: siehe hier, siehe dort ist es, sondern es ist in eucriu Innern
(ki^vL v>c5v). Freilich muß es von einem jeden täglich gebaut werden, und
weil es niemals fertig ist, bittet die Christenheit darum in der zweiten und
dritten Bitte des Vaterunsers, aber anders wie es von jeher gekommen ist,
nämlich durch den guten Willen und die Anstrengungen jedes Einzelnen, kann
es auch in Zukunft nicht kommen: es ist etwas Individuelles, Subjektives.
Nun hängt ja freilich seine Verwirklichung zu einem guten, ja zum größern
Teil von den äußern Umständen ab, da nur Menschen keine Pfarrer Brand,
sondern auf Gemeinschaft angewiesen find, und insofern kann man von einem
äußern Bau des dritten Reichs -- Jesus nennt es das Himmelreich --
sprechen, als jede Zeit die Gesellschaftsverfassung zu reformieren, und was
darin das Himmelreich beeinträchtigt oder sein Kommen zu den Menschen
hindert, zu beseitigen hat, und den Kampf für die gerade in seiner Zeit not¬
wendige Revolution oder Reform darzustellen und durch seine Darstellung zu
fördern kann eine lohnende Aufgabe für den Dichter sein. Gerade diese Auf¬
gabe hat jedoch Ibsen ausdrücklich abgelehnt: "Die Menschen wollen nur
Spezialrevolutionen, Revolutionen im Äußerlichen, im Politischen. Aber das
sind lauter Lappalien. Um was es sich handelt, das ist das Revoltieren des
Menschengeistes" (Woerner S. 358 bis 359). Womit doch hoffentlich das
Reformieren gemeint ist, und das wird seit deu Zeiten der alten Propheten
unablässig betrieben.

Zum Schluß noch eine Bemerkung über einen einzelnen Punkt. Hedda
Gabler und John Gabriel Borkmann gehören in keine der beiden entgegen¬
gesetzten Reihen, in die sich die letzten Stücke Ibsens ordnen lassen, sie stehn
jedes für sich allein. Die Hedda nun bezeichnet Reich als den Lazarettgaul,
an dem alle Gebrechen der höhern Tochter demonstriert würden, und das Stück
als die Tragödie der höhern Tochter. Das darf man doch nicht unwider¬
sprochen hingehn lassen. Die höhere Töchtererziehuug mag so jämmerlich sein,


Grenzboten IV 1900 29
Bücher über Ibsen

Und wils hätte er denn in seiner Kritik der Gesellschaft und der Ehe vor¬
gebracht, was nicht unzähligemal gesagt worden wäre und unablässig gesagt
würde? Das; die Gesellschaft nichts langt und ihre Tugend eitel Heuchelei
ist, haben die Spötter gesagt von Aristophanes bis Juvenal, von Boccaccio
bis Sebastian Braut, von Rabelais bis Voltaire, von Lord Byron und Heine
bis zum Kladderadatsch, und haben die positiven Geister, die großen Reforma¬
toren gesagt von Jesaja und Sokrates bis auf Christus, vou Peter Damian
und Bernard von Clairvaux bis Savonarola, von Luther bis Carlyle. Und
wie Ibsen nichts einzureißen gefunden hat, so finden wir nichts aufzubauen
in dem Sinne, daß es sich um die Herstellung eines Neuen, nie Dagewesenen
handelte. Das dritte Reich, das so viel Gluck und Schönheit, als die Menschen¬
kinder ans Erden zu erlangen und zu ertragen vermögen, mit Liebe, Gerechtig¬
keit und Pflichterfüllung vereinigen soll, dieses Reich ist weder etwas Zukünf¬
tiges noch etwas Äußerliches, denn, sagt Christus, das Himmelreich kommt
nicht so, daß man es äußerlich wahrnehmen könnte ^er« ?c«^«r^^^'<7e^g) und
sagen könnte: siehe hier, siehe dort ist es, sondern es ist in eucriu Innern
(ki^vL v>c5v). Freilich muß es von einem jeden täglich gebaut werden, und
weil es niemals fertig ist, bittet die Christenheit darum in der zweiten und
dritten Bitte des Vaterunsers, aber anders wie es von jeher gekommen ist,
nämlich durch den guten Willen und die Anstrengungen jedes Einzelnen, kann
es auch in Zukunft nicht kommen: es ist etwas Individuelles, Subjektives.
Nun hängt ja freilich seine Verwirklichung zu einem guten, ja zum größern
Teil von den äußern Umständen ab, da nur Menschen keine Pfarrer Brand,
sondern auf Gemeinschaft angewiesen find, und insofern kann man von einem
äußern Bau des dritten Reichs — Jesus nennt es das Himmelreich —
sprechen, als jede Zeit die Gesellschaftsverfassung zu reformieren, und was
darin das Himmelreich beeinträchtigt oder sein Kommen zu den Menschen
hindert, zu beseitigen hat, und den Kampf für die gerade in seiner Zeit not¬
wendige Revolution oder Reform darzustellen und durch seine Darstellung zu
fördern kann eine lohnende Aufgabe für den Dichter sein. Gerade diese Auf¬
gabe hat jedoch Ibsen ausdrücklich abgelehnt: „Die Menschen wollen nur
Spezialrevolutionen, Revolutionen im Äußerlichen, im Politischen. Aber das
sind lauter Lappalien. Um was es sich handelt, das ist das Revoltieren des
Menschengeistes" (Woerner S. 358 bis 359). Womit doch hoffentlich das
Reformieren gemeint ist, und das wird seit deu Zeiten der alten Propheten
unablässig betrieben.

Zum Schluß noch eine Bemerkung über einen einzelnen Punkt. Hedda
Gabler und John Gabriel Borkmann gehören in keine der beiden entgegen¬
gesetzten Reihen, in die sich die letzten Stücke Ibsens ordnen lassen, sie stehn
jedes für sich allein. Die Hedda nun bezeichnet Reich als den Lazarettgaul,
an dem alle Gebrechen der höhern Tochter demonstriert würden, und das Stück
als die Tragödie der höhern Tochter. Das darf man doch nicht unwider¬
sprochen hingehn lassen. Die höhere Töchtererziehuug mag so jämmerlich sein,


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[0251] Bücher über Ibsen Und wils hätte er denn in seiner Kritik der Gesellschaft und der Ehe vor¬ gebracht, was nicht unzähligemal gesagt worden wäre und unablässig gesagt würde? Das; die Gesellschaft nichts langt und ihre Tugend eitel Heuchelei ist, haben die Spötter gesagt von Aristophanes bis Juvenal, von Boccaccio bis Sebastian Braut, von Rabelais bis Voltaire, von Lord Byron und Heine bis zum Kladderadatsch, und haben die positiven Geister, die großen Reforma¬ toren gesagt von Jesaja und Sokrates bis auf Christus, vou Peter Damian und Bernard von Clairvaux bis Savonarola, von Luther bis Carlyle. Und wie Ibsen nichts einzureißen gefunden hat, so finden wir nichts aufzubauen in dem Sinne, daß es sich um die Herstellung eines Neuen, nie Dagewesenen handelte. Das dritte Reich, das so viel Gluck und Schönheit, als die Menschen¬ kinder ans Erden zu erlangen und zu ertragen vermögen, mit Liebe, Gerechtig¬ keit und Pflichterfüllung vereinigen soll, dieses Reich ist weder etwas Zukünf¬ tiges noch etwas Äußerliches, denn, sagt Christus, das Himmelreich kommt nicht so, daß man es äußerlich wahrnehmen könnte ^er« ?c«^«r^^^'<7e^g) und sagen könnte: siehe hier, siehe dort ist es, sondern es ist in eucriu Innern (ki^vL v>c5v). Freilich muß es von einem jeden täglich gebaut werden, und weil es niemals fertig ist, bittet die Christenheit darum in der zweiten und dritten Bitte des Vaterunsers, aber anders wie es von jeher gekommen ist, nämlich durch den guten Willen und die Anstrengungen jedes Einzelnen, kann es auch in Zukunft nicht kommen: es ist etwas Individuelles, Subjektives. Nun hängt ja freilich seine Verwirklichung zu einem guten, ja zum größern Teil von den äußern Umständen ab, da nur Menschen keine Pfarrer Brand, sondern auf Gemeinschaft angewiesen find, und insofern kann man von einem äußern Bau des dritten Reichs — Jesus nennt es das Himmelreich — sprechen, als jede Zeit die Gesellschaftsverfassung zu reformieren, und was darin das Himmelreich beeinträchtigt oder sein Kommen zu den Menschen hindert, zu beseitigen hat, und den Kampf für die gerade in seiner Zeit not¬ wendige Revolution oder Reform darzustellen und durch seine Darstellung zu fördern kann eine lohnende Aufgabe für den Dichter sein. Gerade diese Auf¬ gabe hat jedoch Ibsen ausdrücklich abgelehnt: „Die Menschen wollen nur Spezialrevolutionen, Revolutionen im Äußerlichen, im Politischen. Aber das sind lauter Lappalien. Um was es sich handelt, das ist das Revoltieren des Menschengeistes" (Woerner S. 358 bis 359). Womit doch hoffentlich das Reformieren gemeint ist, und das wird seit deu Zeiten der alten Propheten unablässig betrieben. Zum Schluß noch eine Bemerkung über einen einzelnen Punkt. Hedda Gabler und John Gabriel Borkmann gehören in keine der beiden entgegen¬ gesetzten Reihen, in die sich die letzten Stücke Ibsens ordnen lassen, sie stehn jedes für sich allein. Die Hedda nun bezeichnet Reich als den Lazarettgaul, an dem alle Gebrechen der höhern Tochter demonstriert würden, und das Stück als die Tragödie der höhern Tochter. Das darf man doch nicht unwider¬ sprochen hingehn lassen. Die höhere Töchtererziehuug mag so jämmerlich sein, Grenzboten IV 1900 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/251>, abgerufen am 16.06.2024.