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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Lthik und Politik

völlig pflichtmäßig sein. Ja selbst da, wo die Kultur bereits fest begründet
ist, kauu el" Volk so sehr in sich sittlich abgeschwächt sein und alle Haltung
verloren haben, daß es einerseits in sich selbst der Möglichkeit seines Fort¬
bestands als selbständiger Staat entbehrt und andrerseits die politische Ent-
wicklung der angrenzenden Staaten unablässig stört; und dann ist seine Er¬
oberung durch diese letztern sittlich völlig gerechtfertigt, zumal da sie, als Ver¬
schmelzung desselben mit einer sittlich gesundem und lebeuskräftigeru Nation,
zugleich der Weg zu seiner sittlichen Wiederbelebung werden kann. Oder es
kann auch ein Volk zur Sicherung seiner politischen Existenz schlechterdings
eine Erweiterung seines Gebiets bedürfen und so, wenn es sich nicht selbst
aufgeben will, zu Eroberungen genötigt sein."

Scharf weist Rothe den Gedanken zurück, daß etwa gar der einzelne
Bürger, wenn die rechtmüßige Obrigkeit einen Krieg beschlossen habe, deshalb,
weil er ein Angriffskrieg oder sonst ungerecht sei, die Teilnahme daran ver¬
weigern dürfe. Dadurch würde er sich geradezu der Pflicht des Unterthanen¬
gehorsams entzieh" und gegen seine Obrigkeit auflehnen. Sei der Krieg wirklich
ein ungerechter, so habe diese das zu verantworten.

Der Zweck des Kriegs müsse der Frieden sein, und schon wahrend der
Kriegführung müsse sich immer die aufrichtige Bereitwilligkeit zeigen, von der
Entscheidung der Waffengewalt abzustehn und auf den Weg der Verhandlungen
zurückzukehren, ganz besonders nach Erlangung von Vorteilen über den Gegner.
Der Krieg dürfe nicht mit persönlicher Feindseligkeit geführt werden, und nie
gegen die Privatpersonen. Er dürfe nie ans Zerstörung der sittlichen Er¬
rungenschaften (im weitesten Sinne des Worts) des befehdeten Volks ausgehn,
und alle Zerstörung sei bei ihm nur insoweit gerechtfertigt, als sie entweder
zur Verteidigung oder zur möglichst schnellen und sichern Wiederherstellung
des Friedens unumgänglich sei. Jede eigentliche Grausamkeit müsse verbannt
bleiben. Werde der Krieg so mit Menschlichkeit geführt, so sei er, sittlich be¬
trachtet, "dnrchnns nicht lediglich ein Übel." Es hänge sich zwar an ihn un¬
vermeidlich viel Unheil nicht nnr, sondern auch Verwilderung nud sittliches
Verderben. Aber er sei auch nicht minder ein Schonplatz und eine Schule
hoher menschlicher Tugenden und ein sehr wichtiges Mittel zur Reinigung der
verdumpften, ungesunden sittlichen Atmosphäre, zur Erhebung des sittlichen
Gemeinbewußtseins und zur Erfrischung und Erstnrknng der Volker. Oft genng
sei er auch gerade ein wirksames Verbreituugsmittel der Kultur gewesen.

So hat vor fünfzig Jahren ein protestantischer Theologe in Heidelberg
geschrieben. Auch vom ausgesprochen kriegspvlitischeu und militärischen Stand¬
punkt aus wird man noch heute fast durchaus damit einverstanden sein können.
Und doch, welch ungeheurer Unterschied zwischen Rothes Auffassung und dein
Gewaltgeschrei der Imperialisten! Es ist klar, dieser Unterschied ist wesentlich
begründet in dem Unterschied zwischen der ethischen, humanistischen Welt- und
Lebensanschauung, für die wir wieder die Bahn freier machen wollen, und der
extrem realistischen und materialistische!?, die das Denken der Gebildeten unsrer


Lthik und Politik

völlig pflichtmäßig sein. Ja selbst da, wo die Kultur bereits fest begründet
ist, kauu el» Volk so sehr in sich sittlich abgeschwächt sein und alle Haltung
verloren haben, daß es einerseits in sich selbst der Möglichkeit seines Fort¬
bestands als selbständiger Staat entbehrt und andrerseits die politische Ent-
wicklung der angrenzenden Staaten unablässig stört; und dann ist seine Er¬
oberung durch diese letztern sittlich völlig gerechtfertigt, zumal da sie, als Ver¬
schmelzung desselben mit einer sittlich gesundem und lebeuskräftigeru Nation,
zugleich der Weg zu seiner sittlichen Wiederbelebung werden kann. Oder es
kann auch ein Volk zur Sicherung seiner politischen Existenz schlechterdings
eine Erweiterung seines Gebiets bedürfen und so, wenn es sich nicht selbst
aufgeben will, zu Eroberungen genötigt sein."

Scharf weist Rothe den Gedanken zurück, daß etwa gar der einzelne
Bürger, wenn die rechtmüßige Obrigkeit einen Krieg beschlossen habe, deshalb,
weil er ein Angriffskrieg oder sonst ungerecht sei, die Teilnahme daran ver¬
weigern dürfe. Dadurch würde er sich geradezu der Pflicht des Unterthanen¬
gehorsams entzieh« und gegen seine Obrigkeit auflehnen. Sei der Krieg wirklich
ein ungerechter, so habe diese das zu verantworten.

Der Zweck des Kriegs müsse der Frieden sein, und schon wahrend der
Kriegführung müsse sich immer die aufrichtige Bereitwilligkeit zeigen, von der
Entscheidung der Waffengewalt abzustehn und auf den Weg der Verhandlungen
zurückzukehren, ganz besonders nach Erlangung von Vorteilen über den Gegner.
Der Krieg dürfe nicht mit persönlicher Feindseligkeit geführt werden, und nie
gegen die Privatpersonen. Er dürfe nie ans Zerstörung der sittlichen Er¬
rungenschaften (im weitesten Sinne des Worts) des befehdeten Volks ausgehn,
und alle Zerstörung sei bei ihm nur insoweit gerechtfertigt, als sie entweder
zur Verteidigung oder zur möglichst schnellen und sichern Wiederherstellung
des Friedens unumgänglich sei. Jede eigentliche Grausamkeit müsse verbannt
bleiben. Werde der Krieg so mit Menschlichkeit geführt, so sei er, sittlich be¬
trachtet, „dnrchnns nicht lediglich ein Übel." Es hänge sich zwar an ihn un¬
vermeidlich viel Unheil nicht nnr, sondern auch Verwilderung nud sittliches
Verderben. Aber er sei auch nicht minder ein Schonplatz und eine Schule
hoher menschlicher Tugenden und ein sehr wichtiges Mittel zur Reinigung der
verdumpften, ungesunden sittlichen Atmosphäre, zur Erhebung des sittlichen
Gemeinbewußtseins und zur Erfrischung und Erstnrknng der Volker. Oft genng
sei er auch gerade ein wirksames Verbreituugsmittel der Kultur gewesen.

So hat vor fünfzig Jahren ein protestantischer Theologe in Heidelberg
geschrieben. Auch vom ausgesprochen kriegspvlitischeu und militärischen Stand¬
punkt aus wird man noch heute fast durchaus damit einverstanden sein können.
Und doch, welch ungeheurer Unterschied zwischen Rothes Auffassung und dein
Gewaltgeschrei der Imperialisten! Es ist klar, dieser Unterschied ist wesentlich
begründet in dem Unterschied zwischen der ethischen, humanistischen Welt- und
Lebensanschauung, für die wir wieder die Bahn freier machen wollen, und der
extrem realistischen und materialistische!?, die das Denken der Gebildeten unsrer


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[0286] Lthik und Politik völlig pflichtmäßig sein. Ja selbst da, wo die Kultur bereits fest begründet ist, kauu el» Volk so sehr in sich sittlich abgeschwächt sein und alle Haltung verloren haben, daß es einerseits in sich selbst der Möglichkeit seines Fort¬ bestands als selbständiger Staat entbehrt und andrerseits die politische Ent- wicklung der angrenzenden Staaten unablässig stört; und dann ist seine Er¬ oberung durch diese letztern sittlich völlig gerechtfertigt, zumal da sie, als Ver¬ schmelzung desselben mit einer sittlich gesundem und lebeuskräftigeru Nation, zugleich der Weg zu seiner sittlichen Wiederbelebung werden kann. Oder es kann auch ein Volk zur Sicherung seiner politischen Existenz schlechterdings eine Erweiterung seines Gebiets bedürfen und so, wenn es sich nicht selbst aufgeben will, zu Eroberungen genötigt sein." Scharf weist Rothe den Gedanken zurück, daß etwa gar der einzelne Bürger, wenn die rechtmüßige Obrigkeit einen Krieg beschlossen habe, deshalb, weil er ein Angriffskrieg oder sonst ungerecht sei, die Teilnahme daran ver¬ weigern dürfe. Dadurch würde er sich geradezu der Pflicht des Unterthanen¬ gehorsams entzieh« und gegen seine Obrigkeit auflehnen. Sei der Krieg wirklich ein ungerechter, so habe diese das zu verantworten. Der Zweck des Kriegs müsse der Frieden sein, und schon wahrend der Kriegführung müsse sich immer die aufrichtige Bereitwilligkeit zeigen, von der Entscheidung der Waffengewalt abzustehn und auf den Weg der Verhandlungen zurückzukehren, ganz besonders nach Erlangung von Vorteilen über den Gegner. Der Krieg dürfe nicht mit persönlicher Feindseligkeit geführt werden, und nie gegen die Privatpersonen. Er dürfe nie ans Zerstörung der sittlichen Er¬ rungenschaften (im weitesten Sinne des Worts) des befehdeten Volks ausgehn, und alle Zerstörung sei bei ihm nur insoweit gerechtfertigt, als sie entweder zur Verteidigung oder zur möglichst schnellen und sichern Wiederherstellung des Friedens unumgänglich sei. Jede eigentliche Grausamkeit müsse verbannt bleiben. Werde der Krieg so mit Menschlichkeit geführt, so sei er, sittlich be¬ trachtet, „dnrchnns nicht lediglich ein Übel." Es hänge sich zwar an ihn un¬ vermeidlich viel Unheil nicht nnr, sondern auch Verwilderung nud sittliches Verderben. Aber er sei auch nicht minder ein Schonplatz und eine Schule hoher menschlicher Tugenden und ein sehr wichtiges Mittel zur Reinigung der verdumpften, ungesunden sittlichen Atmosphäre, zur Erhebung des sittlichen Gemeinbewußtseins und zur Erfrischung und Erstnrknng der Volker. Oft genng sei er auch gerade ein wirksames Verbreituugsmittel der Kultur gewesen. So hat vor fünfzig Jahren ein protestantischer Theologe in Heidelberg geschrieben. Auch vom ausgesprochen kriegspvlitischeu und militärischen Stand¬ punkt aus wird man noch heute fast durchaus damit einverstanden sein können. Und doch, welch ungeheurer Unterschied zwischen Rothes Auffassung und dein Gewaltgeschrei der Imperialisten! Es ist klar, dieser Unterschied ist wesentlich begründet in dem Unterschied zwischen der ethischen, humanistischen Welt- und Lebensanschauung, für die wir wieder die Bahn freier machen wollen, und der extrem realistischen und materialistische!?, die das Denken der Gebildeten unsrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/286>, abgerufen am 15.06.2024.