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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Lernjahre eines Theologen

in denen er lebt. Beide fallen nicht zusammen, aber sie befruchten sich doch
gegenseitig. Die Theologie wird ihm viel fruchtbringende Ideen für sein
Wirken als Prediger, Katechet und Seelsorger geben. Und wieder seine Er¬
fahrungen an deu Herzen und Seelen der Menschen werden ihm deutlicher
als alle Bücher die empirische Grundlage seiner Wissenschaft, die Kenntnis der
wirklichen Welt und wirklichen Religion geben. Gewiß können sich die beiden
Welten auch gegenseitig stören und beeinträchtigen. Die Zeit, die die wissen¬
schaftliche Arbeit beansprucht, kann die Seelsorge und Liebesthätigkeit stören.
Oder der Pfarrer kann durch voreiliges, unvorsichtiges Vortragen wissenschaft¬
licher Theorien fehlen -- obwohl ich dies für nicht so gefährlich halte, wie
viele meinen: er wird weniger verwirren als vielmehr unverstanden bleiben
und über die Köpfe hinweg reden. Größere Menschenkenntnis wird ihn dazu
bringen, das Wesentliche, praktisch Wichtige zu lehren. So ist es meine Über¬
zeugung, daß sich wissenschaftliche Theologie und Kirche unberechtigterweise be¬
fehden. Jede soll anerkennen, daß die andre einen selbständigen Wert hat,
daß die Theologie nicht immer direkt der Kirche dienen kann, und dennoch in
gegenseitiger Befruchtung das Heil für beide liegt.

Die wissenschaftliche Theologie aber wird nur dann gesundes Leben haben,
wenn sie noch mehr als bisher in fruchtbare Berührung und Wechselwirkung
mit dem allgemein geistigen Leben der Nation, mit Philosophie, Wissenschaft
und Kunst tritt. Sie soll sich nicht scheuen, auf die von der Gegenwart ihr
aufgedrnngnen Fragestellungen einzugehn. Denn darin besteht ihre eigentüm¬
liche Aufgabe, zwischen dem überweltlichen Leben der Religion und dem sich in
den verschiednen Kulturgebieten auswirkenden weltlichen Leben der Nation zu
vermitteln. Sie darf sich darum uicht hoffärtig in einer besondern theologischen
Methode von dem Weltwissen abschließen. Sie soll auf die Zweifel und Be¬
denken des modernen Menschen eingehn, nicht hochmütig von ihrer Glciubens-
gcwißheit ans die Auseinandersetzung mit den der Religion Entfremdeten ver¬
schmähen. Nur so ist sie Nachfolgerin des sünderliebendcn Heilands. Bis
jetzt fehlt noch viel daran, daß dieses Ziel erreicht wäre. Die Schwerfälligkeit
des deutschen Gelehrtentums weiß oft genug noch nicht den Weg zum Herzen
des Volks zu finden, noch nicht den rechten Ton zu treffen, der auch außer¬
halb der Grenzen der Fachgenossen gehört wird. Verheißungsvolle Anfänge
sind da. Wenn diese Bahnen weiter beschritten werden, dann wird sich auch
die Theologie allgemeinerer Achtung erfreuen; sie wird an ihrem Teile dazu
beigetragen haben, daß die Zerklüftung unsers Volkslebens, von der wir aus¬
gingen, überwunden werde. Freilich ein neues religiöses Leben kann nur Gott
selbst geben. Wir aber haben die Arbeit zu thun, den Boden zu bereiten,
wo die Keime neuen Lebens gedeihen können.




Lernjahre eines Theologen

in denen er lebt. Beide fallen nicht zusammen, aber sie befruchten sich doch
gegenseitig. Die Theologie wird ihm viel fruchtbringende Ideen für sein
Wirken als Prediger, Katechet und Seelsorger geben. Und wieder seine Er¬
fahrungen an deu Herzen und Seelen der Menschen werden ihm deutlicher
als alle Bücher die empirische Grundlage seiner Wissenschaft, die Kenntnis der
wirklichen Welt und wirklichen Religion geben. Gewiß können sich die beiden
Welten auch gegenseitig stören und beeinträchtigen. Die Zeit, die die wissen¬
schaftliche Arbeit beansprucht, kann die Seelsorge und Liebesthätigkeit stören.
Oder der Pfarrer kann durch voreiliges, unvorsichtiges Vortragen wissenschaft¬
licher Theorien fehlen — obwohl ich dies für nicht so gefährlich halte, wie
viele meinen: er wird weniger verwirren als vielmehr unverstanden bleiben
und über die Köpfe hinweg reden. Größere Menschenkenntnis wird ihn dazu
bringen, das Wesentliche, praktisch Wichtige zu lehren. So ist es meine Über¬
zeugung, daß sich wissenschaftliche Theologie und Kirche unberechtigterweise be¬
fehden. Jede soll anerkennen, daß die andre einen selbständigen Wert hat,
daß die Theologie nicht immer direkt der Kirche dienen kann, und dennoch in
gegenseitiger Befruchtung das Heil für beide liegt.

Die wissenschaftliche Theologie aber wird nur dann gesundes Leben haben,
wenn sie noch mehr als bisher in fruchtbare Berührung und Wechselwirkung
mit dem allgemein geistigen Leben der Nation, mit Philosophie, Wissenschaft
und Kunst tritt. Sie soll sich nicht scheuen, auf die von der Gegenwart ihr
aufgedrnngnen Fragestellungen einzugehn. Denn darin besteht ihre eigentüm¬
liche Aufgabe, zwischen dem überweltlichen Leben der Religion und dem sich in
den verschiednen Kulturgebieten auswirkenden weltlichen Leben der Nation zu
vermitteln. Sie darf sich darum uicht hoffärtig in einer besondern theologischen
Methode von dem Weltwissen abschließen. Sie soll auf die Zweifel und Be¬
denken des modernen Menschen eingehn, nicht hochmütig von ihrer Glciubens-
gcwißheit ans die Auseinandersetzung mit den der Religion Entfremdeten ver¬
schmähen. Nur so ist sie Nachfolgerin des sünderliebendcn Heilands. Bis
jetzt fehlt noch viel daran, daß dieses Ziel erreicht wäre. Die Schwerfälligkeit
des deutschen Gelehrtentums weiß oft genug noch nicht den Weg zum Herzen
des Volks zu finden, noch nicht den rechten Ton zu treffen, der auch außer¬
halb der Grenzen der Fachgenossen gehört wird. Verheißungsvolle Anfänge
sind da. Wenn diese Bahnen weiter beschritten werden, dann wird sich auch
die Theologie allgemeinerer Achtung erfreuen; sie wird an ihrem Teile dazu
beigetragen haben, daß die Zerklüftung unsers Volkslebens, von der wir aus¬
gingen, überwunden werde. Freilich ein neues religiöses Leben kann nur Gott
selbst geben. Wir aber haben die Arbeit zu thun, den Boden zu bereiten,
wo die Keime neuen Lebens gedeihen können.




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[0305] Lernjahre eines Theologen in denen er lebt. Beide fallen nicht zusammen, aber sie befruchten sich doch gegenseitig. Die Theologie wird ihm viel fruchtbringende Ideen für sein Wirken als Prediger, Katechet und Seelsorger geben. Und wieder seine Er¬ fahrungen an deu Herzen und Seelen der Menschen werden ihm deutlicher als alle Bücher die empirische Grundlage seiner Wissenschaft, die Kenntnis der wirklichen Welt und wirklichen Religion geben. Gewiß können sich die beiden Welten auch gegenseitig stören und beeinträchtigen. Die Zeit, die die wissen¬ schaftliche Arbeit beansprucht, kann die Seelsorge und Liebesthätigkeit stören. Oder der Pfarrer kann durch voreiliges, unvorsichtiges Vortragen wissenschaft¬ licher Theorien fehlen — obwohl ich dies für nicht so gefährlich halte, wie viele meinen: er wird weniger verwirren als vielmehr unverstanden bleiben und über die Köpfe hinweg reden. Größere Menschenkenntnis wird ihn dazu bringen, das Wesentliche, praktisch Wichtige zu lehren. So ist es meine Über¬ zeugung, daß sich wissenschaftliche Theologie und Kirche unberechtigterweise be¬ fehden. Jede soll anerkennen, daß die andre einen selbständigen Wert hat, daß die Theologie nicht immer direkt der Kirche dienen kann, und dennoch in gegenseitiger Befruchtung das Heil für beide liegt. Die wissenschaftliche Theologie aber wird nur dann gesundes Leben haben, wenn sie noch mehr als bisher in fruchtbare Berührung und Wechselwirkung mit dem allgemein geistigen Leben der Nation, mit Philosophie, Wissenschaft und Kunst tritt. Sie soll sich nicht scheuen, auf die von der Gegenwart ihr aufgedrnngnen Fragestellungen einzugehn. Denn darin besteht ihre eigentüm¬ liche Aufgabe, zwischen dem überweltlichen Leben der Religion und dem sich in den verschiednen Kulturgebieten auswirkenden weltlichen Leben der Nation zu vermitteln. Sie darf sich darum uicht hoffärtig in einer besondern theologischen Methode von dem Weltwissen abschließen. Sie soll auf die Zweifel und Be¬ denken des modernen Menschen eingehn, nicht hochmütig von ihrer Glciubens- gcwißheit ans die Auseinandersetzung mit den der Religion Entfremdeten ver¬ schmähen. Nur so ist sie Nachfolgerin des sünderliebendcn Heilands. Bis jetzt fehlt noch viel daran, daß dieses Ziel erreicht wäre. Die Schwerfälligkeit des deutschen Gelehrtentums weiß oft genug noch nicht den Weg zum Herzen des Volks zu finden, noch nicht den rechten Ton zu treffen, der auch außer¬ halb der Grenzen der Fachgenossen gehört wird. Verheißungsvolle Anfänge sind da. Wenn diese Bahnen weiter beschritten werden, dann wird sich auch die Theologie allgemeinerer Achtung erfreuen; sie wird an ihrem Teile dazu beigetragen haben, daß die Zerklüftung unsers Volkslebens, von der wir aus¬ gingen, überwunden werde. Freilich ein neues religiöses Leben kann nur Gott selbst geben. Wir aber haben die Arbeit zu thun, den Boden zu bereiten, wo die Keime neuen Lebens gedeihen können.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/305>, abgerufen am 16.06.2024.