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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Neue Bücher über Musik

Im zweiten Stück (168 Seiten) legt Dr, Hermann Abert Die Lehre vom
Ethos in der griechischen Musik dar.

Wenn die frühere Generation den Hauptstrom musikgeschichtlicher Forschung
auf das Altertum leitete, so war das eine Verirrung. Denn überall fehlen
die lebendigen Denkmäler, auch bei den Griechen. Aber der erhaltne starke
Vorrat griechischer Musiktheorien war es, der die Gelehrten immer wieder anzog.
Sonderbarerweise ist aber dabei der Hauptteil dieser griechischen Musiktheorie
zu kurz gekommen. Das ist eben die Lehre vom Ethos, d. h. die Meinung,
die die Griechen vom geistigen Gehalt der Musik hatten. In diesem Punkt
können sie der Gegenwart kaum eindringlich genug als Muster vorgehalten
werden. Denn unter der hundertjährigen Vorherrschaft der Spielmnsik haben
wir die höhere Bestimmung der Musik, als einer über das Wort hinaus¬
gehenden Sprache des Herzens und der Phantasie, fast vergessen. Bei den
Tonlehrern des achtzehnten Jahrhunderts sind an einer Komposition noch
"die Affekte" die Hauptsache, heute sollens die "tönend bewegten Formen"
sein, und thatsächlich läufts bei vielen Komponisten auf Form und leere Schale,
bei vielen praktischen Musikern auf ein stumpfes Handwerkertum hinaus. Man
sehe sich nur einmal die von den Herren Widmann und Glück bei Bechthold
veröffentlichten Analysen Haydnscher und Mozartscher Sinfonien darauf hin an.
Wenn dergleichen für Erklärung ausgegeben und gedruckt werden kann, da
steht es schlimm, da ists an der Zeit, das griechische Ethos, das auch das
kleinste Motiv befragte: Was willst du? was wirst du in der Seele anrichten?
das die Musik als ein Hauptmittel der Charakterbildung und der Jugend¬
erziehung, das sie sogar als Heilmittel gegen Krankheiten ansah, wieder auf¬
zuwecken. Mancher ernste Dilettant, der so mit dahingelebt hat, wird viel¬
leicht durch die Bekanntschaft mit diesem Ethos aus der Gedankenlosigkeit
seines Musikbetriebs aufgeschreckt. Es ist deshalb ein Verdienst Aberts, daß
er die Lehre vom Ethos ausführlicher, als das bisher geschehn ist, vorträgt.
Den ganzen Gegensatz zwischen griechischer und moderner Musikempfindnng
-- modern im Sinne der geschilderten Abart -- macht der Verfasser zwar
nicht klar, aber sein Buch hat den Vorzug, daß es alles bringt, was zur
Natur und zur Geschichte des Ethos gehört, und denen, die danach verlangen,
auch die Wege zu den Quellen zeigt.

Im dritten Stück der Sammlung (137 Seiten) behandelt Heinrich
Rietsch: Die Tonkunst in der zweiten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts, aber mit einer sehr bestimmten Einschränkung. Nicht wie
seiner Zeit A. B. Marx in seiner Musik des neunzehnten Jahrhunderts gethan
hat, will Rietsch eine kritische Übersicht der gesamten musikalischen Arbeit der
Periode geben, sondern er begnügt sich damit, einmal eingehend die neuen tech¬
nischen Elemente zu zeigen, die durch die sogenannten Zukunftsmusiker oder
neudeutschen eingeführt worden sind. Das wirkliche Thema Rietschs ist: die
Umgestaltung der musikalischen Kunstmittel durch die Schule R. Wagners und
Fr. Liszts. '


Neue Bücher über Musik

Im zweiten Stück (168 Seiten) legt Dr, Hermann Abert Die Lehre vom
Ethos in der griechischen Musik dar.

Wenn die frühere Generation den Hauptstrom musikgeschichtlicher Forschung
auf das Altertum leitete, so war das eine Verirrung. Denn überall fehlen
die lebendigen Denkmäler, auch bei den Griechen. Aber der erhaltne starke
Vorrat griechischer Musiktheorien war es, der die Gelehrten immer wieder anzog.
Sonderbarerweise ist aber dabei der Hauptteil dieser griechischen Musiktheorie
zu kurz gekommen. Das ist eben die Lehre vom Ethos, d. h. die Meinung,
die die Griechen vom geistigen Gehalt der Musik hatten. In diesem Punkt
können sie der Gegenwart kaum eindringlich genug als Muster vorgehalten
werden. Denn unter der hundertjährigen Vorherrschaft der Spielmnsik haben
wir die höhere Bestimmung der Musik, als einer über das Wort hinaus¬
gehenden Sprache des Herzens und der Phantasie, fast vergessen. Bei den
Tonlehrern des achtzehnten Jahrhunderts sind an einer Komposition noch
„die Affekte" die Hauptsache, heute sollens die „tönend bewegten Formen"
sein, und thatsächlich läufts bei vielen Komponisten auf Form und leere Schale,
bei vielen praktischen Musikern auf ein stumpfes Handwerkertum hinaus. Man
sehe sich nur einmal die von den Herren Widmann und Glück bei Bechthold
veröffentlichten Analysen Haydnscher und Mozartscher Sinfonien darauf hin an.
Wenn dergleichen für Erklärung ausgegeben und gedruckt werden kann, da
steht es schlimm, da ists an der Zeit, das griechische Ethos, das auch das
kleinste Motiv befragte: Was willst du? was wirst du in der Seele anrichten?
das die Musik als ein Hauptmittel der Charakterbildung und der Jugend¬
erziehung, das sie sogar als Heilmittel gegen Krankheiten ansah, wieder auf¬
zuwecken. Mancher ernste Dilettant, der so mit dahingelebt hat, wird viel¬
leicht durch die Bekanntschaft mit diesem Ethos aus der Gedankenlosigkeit
seines Musikbetriebs aufgeschreckt. Es ist deshalb ein Verdienst Aberts, daß
er die Lehre vom Ethos ausführlicher, als das bisher geschehn ist, vorträgt.
Den ganzen Gegensatz zwischen griechischer und moderner Musikempfindnng
— modern im Sinne der geschilderten Abart — macht der Verfasser zwar
nicht klar, aber sein Buch hat den Vorzug, daß es alles bringt, was zur
Natur und zur Geschichte des Ethos gehört, und denen, die danach verlangen,
auch die Wege zu den Quellen zeigt.

Im dritten Stück der Sammlung (137 Seiten) behandelt Heinrich
Rietsch: Die Tonkunst in der zweiten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts, aber mit einer sehr bestimmten Einschränkung. Nicht wie
seiner Zeit A. B. Marx in seiner Musik des neunzehnten Jahrhunderts gethan
hat, will Rietsch eine kritische Übersicht der gesamten musikalischen Arbeit der
Periode geben, sondern er begnügt sich damit, einmal eingehend die neuen tech¬
nischen Elemente zu zeigen, die durch die sogenannten Zukunftsmusiker oder
neudeutschen eingeführt worden sind. Das wirkliche Thema Rietschs ist: die
Umgestaltung der musikalischen Kunstmittel durch die Schule R. Wagners und
Fr. Liszts. '


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[0362] Neue Bücher über Musik Im zweiten Stück (168 Seiten) legt Dr, Hermann Abert Die Lehre vom Ethos in der griechischen Musik dar. Wenn die frühere Generation den Hauptstrom musikgeschichtlicher Forschung auf das Altertum leitete, so war das eine Verirrung. Denn überall fehlen die lebendigen Denkmäler, auch bei den Griechen. Aber der erhaltne starke Vorrat griechischer Musiktheorien war es, der die Gelehrten immer wieder anzog. Sonderbarerweise ist aber dabei der Hauptteil dieser griechischen Musiktheorie zu kurz gekommen. Das ist eben die Lehre vom Ethos, d. h. die Meinung, die die Griechen vom geistigen Gehalt der Musik hatten. In diesem Punkt können sie der Gegenwart kaum eindringlich genug als Muster vorgehalten werden. Denn unter der hundertjährigen Vorherrschaft der Spielmnsik haben wir die höhere Bestimmung der Musik, als einer über das Wort hinaus¬ gehenden Sprache des Herzens und der Phantasie, fast vergessen. Bei den Tonlehrern des achtzehnten Jahrhunderts sind an einer Komposition noch „die Affekte" die Hauptsache, heute sollens die „tönend bewegten Formen" sein, und thatsächlich läufts bei vielen Komponisten auf Form und leere Schale, bei vielen praktischen Musikern auf ein stumpfes Handwerkertum hinaus. Man sehe sich nur einmal die von den Herren Widmann und Glück bei Bechthold veröffentlichten Analysen Haydnscher und Mozartscher Sinfonien darauf hin an. Wenn dergleichen für Erklärung ausgegeben und gedruckt werden kann, da steht es schlimm, da ists an der Zeit, das griechische Ethos, das auch das kleinste Motiv befragte: Was willst du? was wirst du in der Seele anrichten? das die Musik als ein Hauptmittel der Charakterbildung und der Jugend¬ erziehung, das sie sogar als Heilmittel gegen Krankheiten ansah, wieder auf¬ zuwecken. Mancher ernste Dilettant, der so mit dahingelebt hat, wird viel¬ leicht durch die Bekanntschaft mit diesem Ethos aus der Gedankenlosigkeit seines Musikbetriebs aufgeschreckt. Es ist deshalb ein Verdienst Aberts, daß er die Lehre vom Ethos ausführlicher, als das bisher geschehn ist, vorträgt. Den ganzen Gegensatz zwischen griechischer und moderner Musikempfindnng — modern im Sinne der geschilderten Abart — macht der Verfasser zwar nicht klar, aber sein Buch hat den Vorzug, daß es alles bringt, was zur Natur und zur Geschichte des Ethos gehört, und denen, die danach verlangen, auch die Wege zu den Quellen zeigt. Im dritten Stück der Sammlung (137 Seiten) behandelt Heinrich Rietsch: Die Tonkunst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, aber mit einer sehr bestimmten Einschränkung. Nicht wie seiner Zeit A. B. Marx in seiner Musik des neunzehnten Jahrhunderts gethan hat, will Rietsch eine kritische Übersicht der gesamten musikalischen Arbeit der Periode geben, sondern er begnügt sich damit, einmal eingehend die neuen tech¬ nischen Elemente zu zeigen, die durch die sogenannten Zukunftsmusiker oder neudeutschen eingeführt worden sind. Das wirkliche Thema Rietschs ist: die Umgestaltung der musikalischen Kunstmittel durch die Schule R. Wagners und Fr. Liszts. '

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/362>, abgerufen am 16.06.2024.