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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Kinderarbeit

Zimmerplätze und andre Bauhofe, sowie auf solche Ziegeleien, über Tage
betriebne Brüche und Gruben, die nicht bloß vorübergehend oder in geringem
Umfang betrieben werden, angewandt werden sollen. Auf "Werkstätten" -- im
Unterschied von "Fabriken" --, in deren Betrieb eine "regelmäßige Benutzung
von Dampfkraft" stattfindet, ist das Verbot der Kinderarbeit vorläufig nur
noch im Sinne des § 135 der Novelle von 1878 ausgedehnt geblieben. (Art. IX
des Gesetzes vom 1. Juni 1891.)

Die Wirkung dieser verschärften Gesetzgebung wird klar, wenn man er¬
führe, daß im Jahre 1896 in den Fabriken und in den ihnen gleichgestellten
Anlagen im ganzen 27485 Kinder unter vierzehn Jahren arbeiteten, dagegen
1895 nur noch 4227. Seitdem ist die Zahl zwar wieder etwas gestiegen
(1896: 5312; 1897: 6151 und 1898: 6072), was durch den außergewöhnlich
starken Zugang neuer Arbeitskräfte zur Industrie erklärt wird; es ist vielleicht
nicht erfreulich, aber veranlaßt zu keinen Bedenken. Es handelt sich immer
nur um die aus der Schule entlassenen Kinder unter vierzehn Jahren, die
namentlich da zahlreich sind, wo, wie in Bayern, die Schulpflicht schon mit
dem dreizehnten Jahre abschließt, und die Kinder füglich nicht mehr von dem
Ergreifen oder Erlernen eines Erwerbs zurückgehalten werden können. Worauf
es ankommt ist, daß den jungen Arbeitern der volle Arbeiterschutz und die
volle Aufsicht der Behörde zu gute kommt. Wenn in Deutschland auch
früher niemals so entsetzliche Zustände in den Fabriken und Bergwerken ge¬
herrscht haben wie in England, so kann vollends jetzt von einer Ausbeutung
der Kinderarbeit in diesen Betrieben bei uns überhaupt nicht mehr die
Rede sein.

Leider sind nun aber die in Fabriken und den ihnen gleichgestellten An¬
lagen beschäftigten Kinder nur ein ganz verschwindender Bruchteil der arbeitenden
Kinder überhaupt. Freilich ist da zunächst zu fragen, was hier unter "arbeiten" ver¬
standen werden soll. Wir werden uns dabei wohl den zünftigen Herren Volkswirten
und Statistikern fügen müssen, die die Arbeit im Haushalt für den Haushalt
uicht als Arbeit anerkennen, wenn sie auch noch so mühsam, notwendig und
verdienstlich ist. Wenn Hausfrauen und Haustöchter im Hause für den Bedarf
des Hauses und der Familie nähen, stricken, waschen und platten, wenn sie in
Küche und Keller fleißig Hand anlegen und damit Hunderte, auch Tausende,
wo es danach hergeht, sparen, so ist das alles keine Arbeit, so sind sie trotz¬
dem nicht "erwerbthätig," wie der technische Ausdruck lautet. Nur wenn sie
gegen Entgelt in natura oder bar für Fremde arbeiten oder dem Familien¬
haupt, auch ohne Entgelt, in seinem Erwerb, Geschäft oder Betrieb, außerhalb
des Rahmens der Haushaltarbeit Dienste leisten, dann arbeiten sie, wie die
zünftigen Herren sagen, im volkswirtschaftlichen Sinne. Das gilt anch für
die Kinder. Wir haben hier also nichts mit der Arbeit zu thun, zu der ver¬
ständige Mütter ihre Töchter schon im Kindesalter im Haushalt heranziehn,
was leider auch in Deutschland unter den sogenannten Gebildeten immer mehr
abzukommen scheint. Die Scheu vor Handarbeit, die man bei den jungen


Kinderarbeit

Zimmerplätze und andre Bauhofe, sowie auf solche Ziegeleien, über Tage
betriebne Brüche und Gruben, die nicht bloß vorübergehend oder in geringem
Umfang betrieben werden, angewandt werden sollen. Auf „Werkstätten" — im
Unterschied von „Fabriken" —, in deren Betrieb eine „regelmäßige Benutzung
von Dampfkraft" stattfindet, ist das Verbot der Kinderarbeit vorläufig nur
noch im Sinne des § 135 der Novelle von 1878 ausgedehnt geblieben. (Art. IX
des Gesetzes vom 1. Juni 1891.)

Die Wirkung dieser verschärften Gesetzgebung wird klar, wenn man er¬
führe, daß im Jahre 1896 in den Fabriken und in den ihnen gleichgestellten
Anlagen im ganzen 27485 Kinder unter vierzehn Jahren arbeiteten, dagegen
1895 nur noch 4227. Seitdem ist die Zahl zwar wieder etwas gestiegen
(1896: 5312; 1897: 6151 und 1898: 6072), was durch den außergewöhnlich
starken Zugang neuer Arbeitskräfte zur Industrie erklärt wird; es ist vielleicht
nicht erfreulich, aber veranlaßt zu keinen Bedenken. Es handelt sich immer
nur um die aus der Schule entlassenen Kinder unter vierzehn Jahren, die
namentlich da zahlreich sind, wo, wie in Bayern, die Schulpflicht schon mit
dem dreizehnten Jahre abschließt, und die Kinder füglich nicht mehr von dem
Ergreifen oder Erlernen eines Erwerbs zurückgehalten werden können. Worauf
es ankommt ist, daß den jungen Arbeitern der volle Arbeiterschutz und die
volle Aufsicht der Behörde zu gute kommt. Wenn in Deutschland auch
früher niemals so entsetzliche Zustände in den Fabriken und Bergwerken ge¬
herrscht haben wie in England, so kann vollends jetzt von einer Ausbeutung
der Kinderarbeit in diesen Betrieben bei uns überhaupt nicht mehr die
Rede sein.

Leider sind nun aber die in Fabriken und den ihnen gleichgestellten An¬
lagen beschäftigten Kinder nur ein ganz verschwindender Bruchteil der arbeitenden
Kinder überhaupt. Freilich ist da zunächst zu fragen, was hier unter „arbeiten" ver¬
standen werden soll. Wir werden uns dabei wohl den zünftigen Herren Volkswirten
und Statistikern fügen müssen, die die Arbeit im Haushalt für den Haushalt
uicht als Arbeit anerkennen, wenn sie auch noch so mühsam, notwendig und
verdienstlich ist. Wenn Hausfrauen und Haustöchter im Hause für den Bedarf
des Hauses und der Familie nähen, stricken, waschen und platten, wenn sie in
Küche und Keller fleißig Hand anlegen und damit Hunderte, auch Tausende,
wo es danach hergeht, sparen, so ist das alles keine Arbeit, so sind sie trotz¬
dem nicht „erwerbthätig," wie der technische Ausdruck lautet. Nur wenn sie
gegen Entgelt in natura oder bar für Fremde arbeiten oder dem Familien¬
haupt, auch ohne Entgelt, in seinem Erwerb, Geschäft oder Betrieb, außerhalb
des Rahmens der Haushaltarbeit Dienste leisten, dann arbeiten sie, wie die
zünftigen Herren sagen, im volkswirtschaftlichen Sinne. Das gilt anch für
die Kinder. Wir haben hier also nichts mit der Arbeit zu thun, zu der ver¬
ständige Mütter ihre Töchter schon im Kindesalter im Haushalt heranziehn,
was leider auch in Deutschland unter den sogenannten Gebildeten immer mehr
abzukommen scheint. Die Scheu vor Handarbeit, die man bei den jungen


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[0384] Kinderarbeit Zimmerplätze und andre Bauhofe, sowie auf solche Ziegeleien, über Tage betriebne Brüche und Gruben, die nicht bloß vorübergehend oder in geringem Umfang betrieben werden, angewandt werden sollen. Auf „Werkstätten" — im Unterschied von „Fabriken" —, in deren Betrieb eine „regelmäßige Benutzung von Dampfkraft" stattfindet, ist das Verbot der Kinderarbeit vorläufig nur noch im Sinne des § 135 der Novelle von 1878 ausgedehnt geblieben. (Art. IX des Gesetzes vom 1. Juni 1891.) Die Wirkung dieser verschärften Gesetzgebung wird klar, wenn man er¬ führe, daß im Jahre 1896 in den Fabriken und in den ihnen gleichgestellten Anlagen im ganzen 27485 Kinder unter vierzehn Jahren arbeiteten, dagegen 1895 nur noch 4227. Seitdem ist die Zahl zwar wieder etwas gestiegen (1896: 5312; 1897: 6151 und 1898: 6072), was durch den außergewöhnlich starken Zugang neuer Arbeitskräfte zur Industrie erklärt wird; es ist vielleicht nicht erfreulich, aber veranlaßt zu keinen Bedenken. Es handelt sich immer nur um die aus der Schule entlassenen Kinder unter vierzehn Jahren, die namentlich da zahlreich sind, wo, wie in Bayern, die Schulpflicht schon mit dem dreizehnten Jahre abschließt, und die Kinder füglich nicht mehr von dem Ergreifen oder Erlernen eines Erwerbs zurückgehalten werden können. Worauf es ankommt ist, daß den jungen Arbeitern der volle Arbeiterschutz und die volle Aufsicht der Behörde zu gute kommt. Wenn in Deutschland auch früher niemals so entsetzliche Zustände in den Fabriken und Bergwerken ge¬ herrscht haben wie in England, so kann vollends jetzt von einer Ausbeutung der Kinderarbeit in diesen Betrieben bei uns überhaupt nicht mehr die Rede sein. Leider sind nun aber die in Fabriken und den ihnen gleichgestellten An¬ lagen beschäftigten Kinder nur ein ganz verschwindender Bruchteil der arbeitenden Kinder überhaupt. Freilich ist da zunächst zu fragen, was hier unter „arbeiten" ver¬ standen werden soll. Wir werden uns dabei wohl den zünftigen Herren Volkswirten und Statistikern fügen müssen, die die Arbeit im Haushalt für den Haushalt uicht als Arbeit anerkennen, wenn sie auch noch so mühsam, notwendig und verdienstlich ist. Wenn Hausfrauen und Haustöchter im Hause für den Bedarf des Hauses und der Familie nähen, stricken, waschen und platten, wenn sie in Küche und Keller fleißig Hand anlegen und damit Hunderte, auch Tausende, wo es danach hergeht, sparen, so ist das alles keine Arbeit, so sind sie trotz¬ dem nicht „erwerbthätig," wie der technische Ausdruck lautet. Nur wenn sie gegen Entgelt in natura oder bar für Fremde arbeiten oder dem Familien¬ haupt, auch ohne Entgelt, in seinem Erwerb, Geschäft oder Betrieb, außerhalb des Rahmens der Haushaltarbeit Dienste leisten, dann arbeiten sie, wie die zünftigen Herren sagen, im volkswirtschaftlichen Sinne. Das gilt anch für die Kinder. Wir haben hier also nichts mit der Arbeit zu thun, zu der ver¬ ständige Mütter ihre Töchter schon im Kindesalter im Haushalt heranziehn, was leider auch in Deutschland unter den sogenannten Gebildeten immer mehr abzukommen scheint. Die Scheu vor Handarbeit, die man bei den jungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/384>, abgerufen am 16.06.2024.