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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Wie der Volksgeist des heutigen Englands geworden ist

Arbeiterstands ist nur eine Seite dieses Entstchungsprozesses, dessen Elemente
aber natürlich so innig miteinander verflochten sind, daß sie der Verfasser alle
in seine Darstellung hineinziehn mußte, wenn er seinen Gegenstand klar machen
wollte. Es liegt in den geographischen Verhältnissen, daß sich in England
ein Volksgeist, eine gleichartige Weise des Empfindens und Denkens gebildet
hat, während in Deutschland keiner entstehn konnte. England ist ein Jnsel-
land von mäßiger Größe, dessen Landschaften durch bequeme Wasserwege mit¬
einander verbunden sind, und das bis zu den Zeiten der Elisabeth nicht mehr
Einwohner hatte als heute die Stadt Paris. In der Zeit dieser Königin
beginnt mit den überseeischen Unternehmungen die wirtschaftliche Umwälzung,
die im Verlauf von zweihundert Jahren England an Geld und Menschen reich
machte, zugleich aber sein Volk in zwei Hälften zerriß, von denen Disraeli
ohne Übertreibung sagen durfte, sie seien zwei Nationen und einander so fremd
und unbekannt, wie wenn sie in verschiednen Erdteilen oder auf verschiednen
Planeten wohnten. Staatsmännern erschien dieser Zustand gefährlich, edeln
Herzen empörend; sie schlugen Brücken zwischen den beiden nicht allein fremden,
sondern auch feindlichen Nationen, die Nation der Armen strebte selbst empor,
die von beiden Seiten ausgestreckten Hände und Herzen fanden einander, und
heute giebt es kaum einen Teil des arbeitenden Volks, der sich nicht in natio¬
naler Beziehung mit den Besitzenden solidarisch fühlte, nnr das Lumpen¬
proletariat steht außerhalb des nationalen Gedanken- und Empfindnngslreises.

Diese Wiederherstellung der Einheit des Volksgeistes aus einer höhern
Stufe umfaßt natürlich alle Lebensgebiete. Nostitz giebt deshalb zunächst einen
lichtvollen Abriß der englischen Verfassungsgeschichte und zeigt, wie die im
Parlament vertretne Aristokratie der Souverän geworden ist, wie dann das
Bürgertum ueben dem alten Grundadel emporstieg, zuerst zu ihm in Gegensatz
trat, dann mit ihm zu einer neuen Plutokratie verschmolz, wie diese Pluto-
kratie beide Häuser des Parlaments beherrschte, wie auch die beiden Parteien
der Whigs und der Tories keine sozial verschiednen Klassen waren, wie jedoch
durch die Parlamentsreformen das Unterhaus zuletzt eine wirkliche Volksver-
tretung geworden ist, die aus andern Schichten hervorgeht als das Oberhaus,
und wie demnach, da die Mehrheit des Unterhauses über die Ministerien ver¬
fügt und in allen wichtigen Fragen entscheidet, England heute, mit der?lass
zu sprechen, eine sich selbst regierende Demokratie genannt werden kann. That¬
sächlich freilich, schreibt Nostitz am Schluß dieses Abschnitts, liegen Staats¬
regierung und Verwaltung "bisher doch noch durchaus in den Händen der
obersten Zehntausend, welche eine neue Gentry aus bürgerlichen besitzenden
Ständen gebildet haben. Diese Gentry umfaßt viel weitere Kreise als die alte,
aber Arbeiterstand und kleines, ja sogar mittleres Bürgertum wie bloß wohl¬
habende Gewerbetreibende stehn auch heute noch in ihrer großen Masse außen.
Der Niesenunterschied zu früher liegt aber darin, daß sie nicht mehr einfach
beiseite stehn gelassen werden können, sondern daß sie geführt werden müssen.
Sie stimmen ab. Noch stellen sie im allgemeinen weder eigne Männer, noch


Wie der Volksgeist des heutigen Englands geworden ist

Arbeiterstands ist nur eine Seite dieses Entstchungsprozesses, dessen Elemente
aber natürlich so innig miteinander verflochten sind, daß sie der Verfasser alle
in seine Darstellung hineinziehn mußte, wenn er seinen Gegenstand klar machen
wollte. Es liegt in den geographischen Verhältnissen, daß sich in England
ein Volksgeist, eine gleichartige Weise des Empfindens und Denkens gebildet
hat, während in Deutschland keiner entstehn konnte. England ist ein Jnsel-
land von mäßiger Größe, dessen Landschaften durch bequeme Wasserwege mit¬
einander verbunden sind, und das bis zu den Zeiten der Elisabeth nicht mehr
Einwohner hatte als heute die Stadt Paris. In der Zeit dieser Königin
beginnt mit den überseeischen Unternehmungen die wirtschaftliche Umwälzung,
die im Verlauf von zweihundert Jahren England an Geld und Menschen reich
machte, zugleich aber sein Volk in zwei Hälften zerriß, von denen Disraeli
ohne Übertreibung sagen durfte, sie seien zwei Nationen und einander so fremd
und unbekannt, wie wenn sie in verschiednen Erdteilen oder auf verschiednen
Planeten wohnten. Staatsmännern erschien dieser Zustand gefährlich, edeln
Herzen empörend; sie schlugen Brücken zwischen den beiden nicht allein fremden,
sondern auch feindlichen Nationen, die Nation der Armen strebte selbst empor,
die von beiden Seiten ausgestreckten Hände und Herzen fanden einander, und
heute giebt es kaum einen Teil des arbeitenden Volks, der sich nicht in natio¬
naler Beziehung mit den Besitzenden solidarisch fühlte, nnr das Lumpen¬
proletariat steht außerhalb des nationalen Gedanken- und Empfindnngslreises.

Diese Wiederherstellung der Einheit des Volksgeistes aus einer höhern
Stufe umfaßt natürlich alle Lebensgebiete. Nostitz giebt deshalb zunächst einen
lichtvollen Abriß der englischen Verfassungsgeschichte und zeigt, wie die im
Parlament vertretne Aristokratie der Souverän geworden ist, wie dann das
Bürgertum ueben dem alten Grundadel emporstieg, zuerst zu ihm in Gegensatz
trat, dann mit ihm zu einer neuen Plutokratie verschmolz, wie diese Pluto-
kratie beide Häuser des Parlaments beherrschte, wie auch die beiden Parteien
der Whigs und der Tories keine sozial verschiednen Klassen waren, wie jedoch
durch die Parlamentsreformen das Unterhaus zuletzt eine wirkliche Volksver-
tretung geworden ist, die aus andern Schichten hervorgeht als das Oberhaus,
und wie demnach, da die Mehrheit des Unterhauses über die Ministerien ver¬
fügt und in allen wichtigen Fragen entscheidet, England heute, mit der?lass
zu sprechen, eine sich selbst regierende Demokratie genannt werden kann. That¬
sächlich freilich, schreibt Nostitz am Schluß dieses Abschnitts, liegen Staats¬
regierung und Verwaltung „bisher doch noch durchaus in den Händen der
obersten Zehntausend, welche eine neue Gentry aus bürgerlichen besitzenden
Ständen gebildet haben. Diese Gentry umfaßt viel weitere Kreise als die alte,
aber Arbeiterstand und kleines, ja sogar mittleres Bürgertum wie bloß wohl¬
habende Gewerbetreibende stehn auch heute noch in ihrer großen Masse außen.
Der Niesenunterschied zu früher liegt aber darin, daß sie nicht mehr einfach
beiseite stehn gelassen werden können, sondern daß sie geführt werden müssen.
Sie stimmen ab. Noch stellen sie im allgemeinen weder eigne Männer, noch


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[0394] Wie der Volksgeist des heutigen Englands geworden ist Arbeiterstands ist nur eine Seite dieses Entstchungsprozesses, dessen Elemente aber natürlich so innig miteinander verflochten sind, daß sie der Verfasser alle in seine Darstellung hineinziehn mußte, wenn er seinen Gegenstand klar machen wollte. Es liegt in den geographischen Verhältnissen, daß sich in England ein Volksgeist, eine gleichartige Weise des Empfindens und Denkens gebildet hat, während in Deutschland keiner entstehn konnte. England ist ein Jnsel- land von mäßiger Größe, dessen Landschaften durch bequeme Wasserwege mit¬ einander verbunden sind, und das bis zu den Zeiten der Elisabeth nicht mehr Einwohner hatte als heute die Stadt Paris. In der Zeit dieser Königin beginnt mit den überseeischen Unternehmungen die wirtschaftliche Umwälzung, die im Verlauf von zweihundert Jahren England an Geld und Menschen reich machte, zugleich aber sein Volk in zwei Hälften zerriß, von denen Disraeli ohne Übertreibung sagen durfte, sie seien zwei Nationen und einander so fremd und unbekannt, wie wenn sie in verschiednen Erdteilen oder auf verschiednen Planeten wohnten. Staatsmännern erschien dieser Zustand gefährlich, edeln Herzen empörend; sie schlugen Brücken zwischen den beiden nicht allein fremden, sondern auch feindlichen Nationen, die Nation der Armen strebte selbst empor, die von beiden Seiten ausgestreckten Hände und Herzen fanden einander, und heute giebt es kaum einen Teil des arbeitenden Volks, der sich nicht in natio¬ naler Beziehung mit den Besitzenden solidarisch fühlte, nnr das Lumpen¬ proletariat steht außerhalb des nationalen Gedanken- und Empfindnngslreises. Diese Wiederherstellung der Einheit des Volksgeistes aus einer höhern Stufe umfaßt natürlich alle Lebensgebiete. Nostitz giebt deshalb zunächst einen lichtvollen Abriß der englischen Verfassungsgeschichte und zeigt, wie die im Parlament vertretne Aristokratie der Souverän geworden ist, wie dann das Bürgertum ueben dem alten Grundadel emporstieg, zuerst zu ihm in Gegensatz trat, dann mit ihm zu einer neuen Plutokratie verschmolz, wie diese Pluto- kratie beide Häuser des Parlaments beherrschte, wie auch die beiden Parteien der Whigs und der Tories keine sozial verschiednen Klassen waren, wie jedoch durch die Parlamentsreformen das Unterhaus zuletzt eine wirkliche Volksver- tretung geworden ist, die aus andern Schichten hervorgeht als das Oberhaus, und wie demnach, da die Mehrheit des Unterhauses über die Ministerien ver¬ fügt und in allen wichtigen Fragen entscheidet, England heute, mit der?lass zu sprechen, eine sich selbst regierende Demokratie genannt werden kann. That¬ sächlich freilich, schreibt Nostitz am Schluß dieses Abschnitts, liegen Staats¬ regierung und Verwaltung „bisher doch noch durchaus in den Händen der obersten Zehntausend, welche eine neue Gentry aus bürgerlichen besitzenden Ständen gebildet haben. Diese Gentry umfaßt viel weitere Kreise als die alte, aber Arbeiterstand und kleines, ja sogar mittleres Bürgertum wie bloß wohl¬ habende Gewerbetreibende stehn auch heute noch in ihrer großen Masse außen. Der Niesenunterschied zu früher liegt aber darin, daß sie nicht mehr einfach beiseite stehn gelassen werden können, sondern daß sie geführt werden müssen. Sie stimmen ab. Noch stellen sie im allgemeinen weder eigne Männer, noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/394>, abgerufen am 16.06.2024.