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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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hätten ein solches Urteil nicht erstritten. In der letzten großen Gelbfieber¬
epidemie zu Santos sind viele Schiffsmannschaften, die gezwungen dahin mit¬
gegangen waren, gestorben, nachgesandte Mannschaften ebenfalls, ja einige
Schiffe sind von den Reedern dort sogar aufgegeben worden. Ob die Vorschrift
des Entwurfs der neuen Seemnnnsordnung der Mannschaft etwas nützen wird,
steht meines Trachtens sehr dahin. Sie lautet § 69, Absatz 1 Ur. 4: "Ein
Schiffsmann kann seine Entlassung fordern, wenn das Schiff nach einem Hafen
bestimmt ist, gegen dessen Herlnnfte schon zur Zeit der Aumusterung laut
vorher erfolgter amtlicher Bekanntmachung der zustündigen deutschen Behörde
wegen Pest-, Cholera- oder Gelbfiebergcfahr die gesundheitspolizeiliche Kontrolle
angeordnet war, sofern nicht der Schiffsmann sich in Kenntnis des Bestim¬
mungshafens hat anmustern lassen."

In dein Entwurf der neuen Seemannsorduung heißt es in § 79: "Der
Schiffsmann ist der Disziplinargewalt, der Schiffsjunge der väterlichen Zucht
des Schiffers vou Antritt des Dienstes bis dessen Beendigung unterworfen."
Die Seemannsordnnng von 1872 hatte die väterliche Zucht, die bis dahin be¬
standen hatte, abgeschafft, weil sie zu oft mißbraucht wurde, und verbietet über¬
haupt jede körperliche Züchtigung als Strafe. Sind denn in den verflossenen
achtundzwanzig Jahren die Schiffsjungen so viel schlimmer geworden, daß mit
ihnen ohne gesetzliche Prügel uicht mehr auszukommen ist? Daß die Ver¬
hetzung der Arbeiter die aus diesen Kreisen stammenden Jungen vielfach roh
und zügellos gemacht hat, zeigen uns freilich oft genug die Zeitungen und die
eigne Erfahrung, denn überall, wo es Radau giebt, sind die halbwüchsigen
Herren Jungen die schlimmsten. Jedoch ist diese Sorte, Gott sei Dank, an
Bord wenig zu finden, denn sie fürchten durch die dort herrschende Disziplin
Einbuße an ihrer Menschenwürde zu erleiden. Wie mag es in Zukunft mit
der Wiedereinführung der väterlichen Zucht werden? Ich befürchte nicht
besser als früher. Wie wird sie auf den Nachwuchs wirken? Besser situierte
Eltern und Vormünder werden sich noch zwei- oder dreimal mehr besinnen
als früher, ehe sie ihre fünfzehn bis achtzehn Jahre alten Söhne und Mündel
aus Tertia oder Sekunda zur See gehn lassen, wo sie im zwanzigsten Jahr¬
hundert mit gesetzlich erlaubten Prügeln bedacht werden dürfen. Hoffentlich
merzt der Reichstag die väterliche Zucht des Schiffers wieder aus, denn der
notwendigen Vermehrung unsrer Seeleute ist sie absolut hinderlich.

Im vorstehenden habe ich versucht, den Binnenländern einige Schatten-
seiten des seemännischen Lebens zu schildern, aber ich will nicht verhehlen, daß
es auch Lichtseiten hat, die meines Wissens in der deutschen Litteratur nie¬
mand anziehender geschildert hat, als der Kontreadmiral a. D. Werner in
seinen Seebildern, die zuerst im Daheim erschienen und später in seinem Buche
von der deutschen Flotte gesammelt herausgegeben worden sind. Ich bitte den
Leser, auch diese nachzulesen und sich dann ein Urteil zu machen, ob die
Bezahlung der Seeleute und ihre soziale und geschäftliche Stellung wirklich
so gut sind, wie sie von Flotten- und Schulschisfschwürmern gerade jetzt


hätten ein solches Urteil nicht erstritten. In der letzten großen Gelbfieber¬
epidemie zu Santos sind viele Schiffsmannschaften, die gezwungen dahin mit¬
gegangen waren, gestorben, nachgesandte Mannschaften ebenfalls, ja einige
Schiffe sind von den Reedern dort sogar aufgegeben worden. Ob die Vorschrift
des Entwurfs der neuen Seemnnnsordnung der Mannschaft etwas nützen wird,
steht meines Trachtens sehr dahin. Sie lautet § 69, Absatz 1 Ur. 4: „Ein
Schiffsmann kann seine Entlassung fordern, wenn das Schiff nach einem Hafen
bestimmt ist, gegen dessen Herlnnfte schon zur Zeit der Aumusterung laut
vorher erfolgter amtlicher Bekanntmachung der zustündigen deutschen Behörde
wegen Pest-, Cholera- oder Gelbfiebergcfahr die gesundheitspolizeiliche Kontrolle
angeordnet war, sofern nicht der Schiffsmann sich in Kenntnis des Bestim¬
mungshafens hat anmustern lassen."

In dein Entwurf der neuen Seemannsorduung heißt es in § 79: „Der
Schiffsmann ist der Disziplinargewalt, der Schiffsjunge der väterlichen Zucht
des Schiffers vou Antritt des Dienstes bis dessen Beendigung unterworfen."
Die Seemannsordnnng von 1872 hatte die väterliche Zucht, die bis dahin be¬
standen hatte, abgeschafft, weil sie zu oft mißbraucht wurde, und verbietet über¬
haupt jede körperliche Züchtigung als Strafe. Sind denn in den verflossenen
achtundzwanzig Jahren die Schiffsjungen so viel schlimmer geworden, daß mit
ihnen ohne gesetzliche Prügel uicht mehr auszukommen ist? Daß die Ver¬
hetzung der Arbeiter die aus diesen Kreisen stammenden Jungen vielfach roh
und zügellos gemacht hat, zeigen uns freilich oft genug die Zeitungen und die
eigne Erfahrung, denn überall, wo es Radau giebt, sind die halbwüchsigen
Herren Jungen die schlimmsten. Jedoch ist diese Sorte, Gott sei Dank, an
Bord wenig zu finden, denn sie fürchten durch die dort herrschende Disziplin
Einbuße an ihrer Menschenwürde zu erleiden. Wie mag es in Zukunft mit
der Wiedereinführung der väterlichen Zucht werden? Ich befürchte nicht
besser als früher. Wie wird sie auf den Nachwuchs wirken? Besser situierte
Eltern und Vormünder werden sich noch zwei- oder dreimal mehr besinnen
als früher, ehe sie ihre fünfzehn bis achtzehn Jahre alten Söhne und Mündel
aus Tertia oder Sekunda zur See gehn lassen, wo sie im zwanzigsten Jahr¬
hundert mit gesetzlich erlaubten Prügeln bedacht werden dürfen. Hoffentlich
merzt der Reichstag die väterliche Zucht des Schiffers wieder aus, denn der
notwendigen Vermehrung unsrer Seeleute ist sie absolut hinderlich.

Im vorstehenden habe ich versucht, den Binnenländern einige Schatten-
seiten des seemännischen Lebens zu schildern, aber ich will nicht verhehlen, daß
es auch Lichtseiten hat, die meines Wissens in der deutschen Litteratur nie¬
mand anziehender geschildert hat, als der Kontreadmiral a. D. Werner in
seinen Seebildern, die zuerst im Daheim erschienen und später in seinem Buche
von der deutschen Flotte gesammelt herausgegeben worden sind. Ich bitte den
Leser, auch diese nachzulesen und sich dann ein Urteil zu machen, ob die
Bezahlung der Seeleute und ihre soziale und geschäftliche Stellung wirklich
so gut sind, wie sie von Flotten- und Schulschisfschwürmern gerade jetzt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/412>, abgerufen am 16.06.2024.