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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Ivie der Volksgeist des heutige" Englands geworden ist

jedoch auch dank ihm und dem konservativen, bedächtigen, auf das platt Nütz¬
liche gerichteten und gar nicht doktrinären englischen Volkscharakter die Reform
kein dem Volke unverständliches Werk der Bureaukratie, sondern des Volks
eignes Werk. Man erhebt dort nichts zum Gesetz, dessen Notwendigkeit nicht
allgemein eingesehen wird, was nicht privatim längst erprobt und jahrelang
stürmisch gefordert worden ist; die Gesetzgeber thun nicht eher einen Schritt
vorwärts, als bis ihnen das Wasser in den Hals läuft, brauchen dann aber
auch keinen Schritt rückwärts zu thun.

Ideal sind auch heute die englischen Arbeiterzustände noch lauge nicht.
Die Arbeiter in den Schweißtrciberwerkstätten sind schlimmer dran als Neger¬
sklaven, Iiorribls Iivnclcm, wie die v-ni^ Neph 1883 Ostlondvn genannt
haben, ist anch heute noch eine Hölle, Kinder werden zu Tausenden von ihren
Eltern und sogenannten Pflegeeltern mißhandelt, und Herr Asquith hat am
16. September dieses Jahres in einer Wahlversammlung zu Ladybank ver¬
sichert, daß von den vierzig Millionen Einwohnern der vereinigten Königreiche
eine große Menge unter Bedingungen lebe und arbeite, die eine Schande für
die Menschheit seien. Aber der Fortschritt ist unbestreitbar, und der heutige
Zustand von dem vor hundert Jahren himmelweit entfernt. Die Löhne sind
allgemein gestiegen, die Arbeitszeit ist allgemein gekürzt. Kinderausbeutung
und Kindermißhandlung kommen, wenn auch noch sehr häufig, so doch nur ver¬
einzelt, nicht in Fabriken und Gruben massenhaft vor: die große Schande des
englischen Volks, die systematische Begründung des Nationalreichtums auf
Kindermißhandlung, ist ausgetilgt; das englische Volk zerfüllt nicht mehr in
Adel und Pöbel, sondern ist wieder ein aus gleichberechtigten Bürgern be¬
stehendes Volk. Sehr richtig sagt Nostitz Seite 777: "Der soziale Friede be¬
ruht darauf, daß entweder ein festes Über- oder Unterordnungsverhältnis oder
die Gleichberechtigung der verschiednen Bevölkerungsschichten allgemein anerkannt
ist." England hat den zweiten Weg zum sozialen Frieden beschritten; die
volle Gleichberechtigung der Arbeiter ist dort theoretisch unbestritten anerkannt,
und der praktischen Verwirklichung dieser Gleichberechtigung nähert man sich
zusehends. Nostitz verkennt nicht die Gefahren dieser Demokratisierung, noch
auch die des Sozialismus, sogar in der milden, dafür aber auch deu höchsten
Ständen genehmen Form, die er in England angenommen hat. Aber die
Dinge sind nun einmal, wie sie sind, und, so lautet der Schluß seines Buchs:
"Niemand vermag es zu sagen, wie die Entwicklung verlaufen wird. Nur
soviel ist wohl sicher, daß der innere Wert der obern Stunde wesentlich, wenn
nicht entscheidend sein wird. Sie würden reif sein abzutreten, wenn sie sich
in schwächlichem Kleinmut damit begnügen würden, kopfschüttelnd und schwarz¬
seherisch an der Zukunft zu verzweifeln, statt mit Thatkraft, Vertrauen und
Großmut, mit einem auf praktische Ziele gerichteten Höhensinn an dem innern
Leben ihres Volks mitzubauen'und das Ihre zu thun, solange es noch die gute
Stunde ist. Sie würden es verdienen, weggefegt zu werden, wenn sie in scham¬
loser Selbstsucht zufrieden wären, allein an der Tafel des Lebens zu sitzen,


Ivie der Volksgeist des heutige» Englands geworden ist

jedoch auch dank ihm und dem konservativen, bedächtigen, auf das platt Nütz¬
liche gerichteten und gar nicht doktrinären englischen Volkscharakter die Reform
kein dem Volke unverständliches Werk der Bureaukratie, sondern des Volks
eignes Werk. Man erhebt dort nichts zum Gesetz, dessen Notwendigkeit nicht
allgemein eingesehen wird, was nicht privatim längst erprobt und jahrelang
stürmisch gefordert worden ist; die Gesetzgeber thun nicht eher einen Schritt
vorwärts, als bis ihnen das Wasser in den Hals läuft, brauchen dann aber
auch keinen Schritt rückwärts zu thun.

Ideal sind auch heute die englischen Arbeiterzustände noch lauge nicht.
Die Arbeiter in den Schweißtrciberwerkstätten sind schlimmer dran als Neger¬
sklaven, Iiorribls Iivnclcm, wie die v-ni^ Neph 1883 Ostlondvn genannt
haben, ist anch heute noch eine Hölle, Kinder werden zu Tausenden von ihren
Eltern und sogenannten Pflegeeltern mißhandelt, und Herr Asquith hat am
16. September dieses Jahres in einer Wahlversammlung zu Ladybank ver¬
sichert, daß von den vierzig Millionen Einwohnern der vereinigten Königreiche
eine große Menge unter Bedingungen lebe und arbeite, die eine Schande für
die Menschheit seien. Aber der Fortschritt ist unbestreitbar, und der heutige
Zustand von dem vor hundert Jahren himmelweit entfernt. Die Löhne sind
allgemein gestiegen, die Arbeitszeit ist allgemein gekürzt. Kinderausbeutung
und Kindermißhandlung kommen, wenn auch noch sehr häufig, so doch nur ver¬
einzelt, nicht in Fabriken und Gruben massenhaft vor: die große Schande des
englischen Volks, die systematische Begründung des Nationalreichtums auf
Kindermißhandlung, ist ausgetilgt; das englische Volk zerfüllt nicht mehr in
Adel und Pöbel, sondern ist wieder ein aus gleichberechtigten Bürgern be¬
stehendes Volk. Sehr richtig sagt Nostitz Seite 777: „Der soziale Friede be¬
ruht darauf, daß entweder ein festes Über- oder Unterordnungsverhältnis oder
die Gleichberechtigung der verschiednen Bevölkerungsschichten allgemein anerkannt
ist." England hat den zweiten Weg zum sozialen Frieden beschritten; die
volle Gleichberechtigung der Arbeiter ist dort theoretisch unbestritten anerkannt,
und der praktischen Verwirklichung dieser Gleichberechtigung nähert man sich
zusehends. Nostitz verkennt nicht die Gefahren dieser Demokratisierung, noch
auch die des Sozialismus, sogar in der milden, dafür aber auch deu höchsten
Ständen genehmen Form, die er in England angenommen hat. Aber die
Dinge sind nun einmal, wie sie sind, und, so lautet der Schluß seines Buchs:
„Niemand vermag es zu sagen, wie die Entwicklung verlaufen wird. Nur
soviel ist wohl sicher, daß der innere Wert der obern Stunde wesentlich, wenn
nicht entscheidend sein wird. Sie würden reif sein abzutreten, wenn sie sich
in schwächlichem Kleinmut damit begnügen würden, kopfschüttelnd und schwarz¬
seherisch an der Zukunft zu verzweifeln, statt mit Thatkraft, Vertrauen und
Großmut, mit einem auf praktische Ziele gerichteten Höhensinn an dem innern
Leben ihres Volks mitzubauen'und das Ihre zu thun, solange es noch die gute
Stunde ist. Sie würden es verdienen, weggefegt zu werden, wenn sie in scham¬
loser Selbstsucht zufrieden wären, allein an der Tafel des Lebens zu sitzen,


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[0456] Ivie der Volksgeist des heutige» Englands geworden ist jedoch auch dank ihm und dem konservativen, bedächtigen, auf das platt Nütz¬ liche gerichteten und gar nicht doktrinären englischen Volkscharakter die Reform kein dem Volke unverständliches Werk der Bureaukratie, sondern des Volks eignes Werk. Man erhebt dort nichts zum Gesetz, dessen Notwendigkeit nicht allgemein eingesehen wird, was nicht privatim längst erprobt und jahrelang stürmisch gefordert worden ist; die Gesetzgeber thun nicht eher einen Schritt vorwärts, als bis ihnen das Wasser in den Hals läuft, brauchen dann aber auch keinen Schritt rückwärts zu thun. Ideal sind auch heute die englischen Arbeiterzustände noch lauge nicht. Die Arbeiter in den Schweißtrciberwerkstätten sind schlimmer dran als Neger¬ sklaven, Iiorribls Iivnclcm, wie die v-ni^ Neph 1883 Ostlondvn genannt haben, ist anch heute noch eine Hölle, Kinder werden zu Tausenden von ihren Eltern und sogenannten Pflegeeltern mißhandelt, und Herr Asquith hat am 16. September dieses Jahres in einer Wahlversammlung zu Ladybank ver¬ sichert, daß von den vierzig Millionen Einwohnern der vereinigten Königreiche eine große Menge unter Bedingungen lebe und arbeite, die eine Schande für die Menschheit seien. Aber der Fortschritt ist unbestreitbar, und der heutige Zustand von dem vor hundert Jahren himmelweit entfernt. Die Löhne sind allgemein gestiegen, die Arbeitszeit ist allgemein gekürzt. Kinderausbeutung und Kindermißhandlung kommen, wenn auch noch sehr häufig, so doch nur ver¬ einzelt, nicht in Fabriken und Gruben massenhaft vor: die große Schande des englischen Volks, die systematische Begründung des Nationalreichtums auf Kindermißhandlung, ist ausgetilgt; das englische Volk zerfüllt nicht mehr in Adel und Pöbel, sondern ist wieder ein aus gleichberechtigten Bürgern be¬ stehendes Volk. Sehr richtig sagt Nostitz Seite 777: „Der soziale Friede be¬ ruht darauf, daß entweder ein festes Über- oder Unterordnungsverhältnis oder die Gleichberechtigung der verschiednen Bevölkerungsschichten allgemein anerkannt ist." England hat den zweiten Weg zum sozialen Frieden beschritten; die volle Gleichberechtigung der Arbeiter ist dort theoretisch unbestritten anerkannt, und der praktischen Verwirklichung dieser Gleichberechtigung nähert man sich zusehends. Nostitz verkennt nicht die Gefahren dieser Demokratisierung, noch auch die des Sozialismus, sogar in der milden, dafür aber auch deu höchsten Ständen genehmen Form, die er in England angenommen hat. Aber die Dinge sind nun einmal, wie sie sind, und, so lautet der Schluß seines Buchs: „Niemand vermag es zu sagen, wie die Entwicklung verlaufen wird. Nur soviel ist wohl sicher, daß der innere Wert der obern Stunde wesentlich, wenn nicht entscheidend sein wird. Sie würden reif sein abzutreten, wenn sie sich in schwächlichem Kleinmut damit begnügen würden, kopfschüttelnd und schwarz¬ seherisch an der Zukunft zu verzweifeln, statt mit Thatkraft, Vertrauen und Großmut, mit einem auf praktische Ziele gerichteten Höhensinn an dem innern Leben ihres Volks mitzubauen'und das Ihre zu thun, solange es noch die gute Stunde ist. Sie würden es verdienen, weggefegt zu werden, wenn sie in scham¬ loser Selbstsucht zufrieden wären, allein an der Tafel des Lebens zu sitzen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/456>, abgerufen am 16.06.2024.