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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Ans der Wertherzeit

hätte ich es doch nur, als er das letzte mal vom Tode, von seinem vielleicht
nähen Tode so herzlich sprach, ahnen können, daß der Terre so nahe am
Rande des Grabes sei, dann hätte ich es ihm mehr geäußert, wie innig wert
er meinem Herzen ist."

Am 5. November 1775 riß der Tod den Dreiundzwanzigjährigen mitten
aus deu Vorsätze" und Entwürfen, ans die er selbst und seine Freunde so
große Hoffnungen gesetzt hatten. In der letzten Nacht ließ er sich die von
Elisa gedichteten Sterbelieder vorlesen. Die an sie geschriebnen Briefe hatte
er vernichtet. Sein früher Hingang wurde in Mitau tief betrauert, und es
sind zahlreiche Zeugnisse dafür vorhanden, wie großer Wertschätzung er sich
dort erfreute. Der Herzog selbst, der große Stücke auf ihn gehalten hatte,
ordnete ihm ein feierliches Begräbnis in der Dreifaltigkeitskirche an. Elisa
aber ließ in den Briefen an die Freundin ihren Klagen freien Lauf; sie wurde
nicht müde, sich von denen, die in den letzten Stunden um Hartmann gewesen
waren, von ihm erzählen zu lassen, und sie verteidigte ihn gegen Mißwollende
in der eignen Familie, die den Verstorbnen einen Schwärmer, Schwätzer, einen
Philosophen der Weiber nannten. "Noch ist keine Stunde meines Lebens
verflossen, schreibt sie ein Jahr später am Todestage des Freundes, ohne daß
sein Bild meiner Seele vorschwebte und den Vorsatz in mir befestigte, mich
seiner wert zu macheu," und als ihr Töchterchen gestorben ist, ist es ihr ein
süßer Gedanke, die beiden Lieben znsammenzudeuteu. Später ist Hartmanns
Andenken in Elisas Seele durch einen andern, einen jungen kurländischen
Adlichen verdrängt worden. Aber sie hat auch diese Neigung niedergekämpft
und ist keine neue Ehe eingegangen, obwohl sie im Jahre 1781 förmlich ge¬
schieden wurde, und die Verwandten ihr eifrig wegen einer neuen Verbindung
anlagen. Die Frau mit dem innigen Bedürfnis nach erwiederter Seelenliebe
lebte nnr noch in dem Gedanken, daß ihre Leiden eine heilsame Schule zu
ihrer Veredlung und sittlichen Vervollkommnung seien. Ungern aber vernimmt
man, daß sie in ihren alten Tagen diese Neigung sich selbst gänzlich abge¬
leugnet und sich bis zu der Behauptung verstiegen hat, sie sei schon damals,
als sie den Werther zuerst kennen lernte, von sittlicher Empörung über das
Buch ergriffen worden und habe Lotten seitdem gründlich gehaßt. Sie hatte
die Briefe nicht vernichtet, die eines Tages gegen sie und für die Gefühle
ih w. ". rer Jugend zeugen sollten.




Ans der Wertherzeit

hätte ich es doch nur, als er das letzte mal vom Tode, von seinem vielleicht
nähen Tode so herzlich sprach, ahnen können, daß der Terre so nahe am
Rande des Grabes sei, dann hätte ich es ihm mehr geäußert, wie innig wert
er meinem Herzen ist."

Am 5. November 1775 riß der Tod den Dreiundzwanzigjährigen mitten
aus deu Vorsätze» und Entwürfen, ans die er selbst und seine Freunde so
große Hoffnungen gesetzt hatten. In der letzten Nacht ließ er sich die von
Elisa gedichteten Sterbelieder vorlesen. Die an sie geschriebnen Briefe hatte
er vernichtet. Sein früher Hingang wurde in Mitau tief betrauert, und es
sind zahlreiche Zeugnisse dafür vorhanden, wie großer Wertschätzung er sich
dort erfreute. Der Herzog selbst, der große Stücke auf ihn gehalten hatte,
ordnete ihm ein feierliches Begräbnis in der Dreifaltigkeitskirche an. Elisa
aber ließ in den Briefen an die Freundin ihren Klagen freien Lauf; sie wurde
nicht müde, sich von denen, die in den letzten Stunden um Hartmann gewesen
waren, von ihm erzählen zu lassen, und sie verteidigte ihn gegen Mißwollende
in der eignen Familie, die den Verstorbnen einen Schwärmer, Schwätzer, einen
Philosophen der Weiber nannten. „Noch ist keine Stunde meines Lebens
verflossen, schreibt sie ein Jahr später am Todestage des Freundes, ohne daß
sein Bild meiner Seele vorschwebte und den Vorsatz in mir befestigte, mich
seiner wert zu macheu," und als ihr Töchterchen gestorben ist, ist es ihr ein
süßer Gedanke, die beiden Lieben znsammenzudeuteu. Später ist Hartmanns
Andenken in Elisas Seele durch einen andern, einen jungen kurländischen
Adlichen verdrängt worden. Aber sie hat auch diese Neigung niedergekämpft
und ist keine neue Ehe eingegangen, obwohl sie im Jahre 1781 förmlich ge¬
schieden wurde, und die Verwandten ihr eifrig wegen einer neuen Verbindung
anlagen. Die Frau mit dem innigen Bedürfnis nach erwiederter Seelenliebe
lebte nnr noch in dem Gedanken, daß ihre Leiden eine heilsame Schule zu
ihrer Veredlung und sittlichen Vervollkommnung seien. Ungern aber vernimmt
man, daß sie in ihren alten Tagen diese Neigung sich selbst gänzlich abge¬
leugnet und sich bis zu der Behauptung verstiegen hat, sie sei schon damals,
als sie den Werther zuerst kennen lernte, von sittlicher Empörung über das
Buch ergriffen worden und habe Lotten seitdem gründlich gehaßt. Sie hatte
die Briefe nicht vernichtet, die eines Tages gegen sie und für die Gefühle
ih w. «. rer Jugend zeugen sollten.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/463>, abgerufen am 16.06.2024.