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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Reformgedanken und Reformansätze im heutigen Italien

stiegen, und den Gesamtwert der landwirtschaftlichen Produktion giebt Ferraris
auf mehr als 3 Milliarden Franken jährlich an.

Aber er setzt hinzu, in Frankreich komme auf den Hektar das Doppelte
an Ertrag, und er fordert als Bedingungen jedes weitern Fortschritts für
Italien "Arbeit, genossenschaftliche Vereinigung, Unterricht und Kapital" (lavoro.
Ä880oig?.lors, istrunions, <zg.xitAlö). An Kapital fehlt es nun freilich vielfach,
denn der ländliche Grundbesitz trügt schwere Steuerkasten und ist oft auch
überschüttet. Denn es betragen die Hypothekenschnldcn im gesegneten Cam-
panien (den Provinzen Avellino, Benevento, Caserta, Neapel und Salerno)
nach einer Aufstellung von 1899 etwa 1100 Millionen Franken, während sie
in Venezien allerdings nur die Summe von 300 Millionen Franken erreichen.
Dazu kommt das Übergewicht der Latifundien in dein größten Teile des
Landes, die oft sehr extensiv bewirtschaftet werden, wie die meisten Großgüter
der römischen Campagna, die als Weideland den (81) Besitzern eine viel höhere
Rente (bis 30000 Lire) abwerfen, als wenn sie unter den Pflug genommen
wurden. Andre werden nach der alten Methode der intz^aclrig, an Teilbauern
(rechtlich auf ein Jahr, thatsächlich fast erblich) ausgethan, sodciß dem Eigen¬
tümer ein bestimmter Anteil an deu Erträge,? zufällt, und auch etwaige Melio¬
rationen ihm zu gute kommen (abzüglich der Kosten), noch andre um kleine
oder große Pächter (wie die 400 Landgüter um Rom in der Campagna) ver¬
pachtet, die ihrerseits nun oft wieder an kleinere Leute weiter verpachten; anch
die meist sehr schlecht bezahlte Tagelöhnernrbeit spielt auf den größern Gütern
eine wichtige Rolle. Die Eigentümer dieser Großgüter, die bis zu 20000
Hektaren und mehr Umfang haben, kümmern sich nur selten um ihre Bewirt¬
schaftung, sondern leben den größten Teil des Jahres in den Städten. Kleine
selbständige Eigentümer giebt es nur in Oberitalien und in einzelnen Teilen
Mittelitaliens; aber dort ist der Grundbesitz oft wieder so zersplittert, daß die
Parzellen allein eine Familie weder vollständig beschäftigen noch ernähren
können. So erzählt de Amieis von einem Turiner Pferdebahnkutscher, der
draußen am Tauaro ein paar Quadratmeter Land mit einer schönen Buche
hat und doch davou nicht lassen will. Aus dieser Verteilung des Grundbesitzes
und aus der Schwierigkeit, die oft stundenweit von den städtischen Wohnsitzen
der ackerbautreibenden Bevölkerung liegenden Fluren zu erreichen, erklärt sich,
daß zu Verbesserungen sehr oft entweder das Interesse oder die Mittel fehlen.

(Fortsetzung folgt)




Grenzboten IV 1S00S7
Reformgedanken und Reformansätze im heutigen Italien

stiegen, und den Gesamtwert der landwirtschaftlichen Produktion giebt Ferraris
auf mehr als 3 Milliarden Franken jährlich an.

Aber er setzt hinzu, in Frankreich komme auf den Hektar das Doppelte
an Ertrag, und er fordert als Bedingungen jedes weitern Fortschritts für
Italien „Arbeit, genossenschaftliche Vereinigung, Unterricht und Kapital" (lavoro.
Ä880oig?.lors, istrunions, <zg.xitAlö). An Kapital fehlt es nun freilich vielfach,
denn der ländliche Grundbesitz trügt schwere Steuerkasten und ist oft auch
überschüttet. Denn es betragen die Hypothekenschnldcn im gesegneten Cam-
panien (den Provinzen Avellino, Benevento, Caserta, Neapel und Salerno)
nach einer Aufstellung von 1899 etwa 1100 Millionen Franken, während sie
in Venezien allerdings nur die Summe von 300 Millionen Franken erreichen.
Dazu kommt das Übergewicht der Latifundien in dein größten Teile des
Landes, die oft sehr extensiv bewirtschaftet werden, wie die meisten Großgüter
der römischen Campagna, die als Weideland den (81) Besitzern eine viel höhere
Rente (bis 30000 Lire) abwerfen, als wenn sie unter den Pflug genommen
wurden. Andre werden nach der alten Methode der intz^aclrig, an Teilbauern
(rechtlich auf ein Jahr, thatsächlich fast erblich) ausgethan, sodciß dem Eigen¬
tümer ein bestimmter Anteil an deu Erträge,? zufällt, und auch etwaige Melio¬
rationen ihm zu gute kommen (abzüglich der Kosten), noch andre um kleine
oder große Pächter (wie die 400 Landgüter um Rom in der Campagna) ver¬
pachtet, die ihrerseits nun oft wieder an kleinere Leute weiter verpachten; anch
die meist sehr schlecht bezahlte Tagelöhnernrbeit spielt auf den größern Gütern
eine wichtige Rolle. Die Eigentümer dieser Großgüter, die bis zu 20000
Hektaren und mehr Umfang haben, kümmern sich nur selten um ihre Bewirt¬
schaftung, sondern leben den größten Teil des Jahres in den Städten. Kleine
selbständige Eigentümer giebt es nur in Oberitalien und in einzelnen Teilen
Mittelitaliens; aber dort ist der Grundbesitz oft wieder so zersplittert, daß die
Parzellen allein eine Familie weder vollständig beschäftigen noch ernähren
können. So erzählt de Amieis von einem Turiner Pferdebahnkutscher, der
draußen am Tauaro ein paar Quadratmeter Land mit einer schönen Buche
hat und doch davou nicht lassen will. Aus dieser Verteilung des Grundbesitzes
und aus der Schwierigkeit, die oft stundenweit von den städtischen Wohnsitzen
der ackerbautreibenden Bevölkerung liegenden Fluren zu erreichen, erklärt sich,
daß zu Verbesserungen sehr oft entweder das Interesse oder die Mittel fehlen.

(Fortsetzung folgt)




Grenzboten IV 1S00S7
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[0495] Reformgedanken und Reformansätze im heutigen Italien stiegen, und den Gesamtwert der landwirtschaftlichen Produktion giebt Ferraris auf mehr als 3 Milliarden Franken jährlich an. Aber er setzt hinzu, in Frankreich komme auf den Hektar das Doppelte an Ertrag, und er fordert als Bedingungen jedes weitern Fortschritts für Italien „Arbeit, genossenschaftliche Vereinigung, Unterricht und Kapital" (lavoro. Ä880oig?.lors, istrunions, <zg.xitAlö). An Kapital fehlt es nun freilich vielfach, denn der ländliche Grundbesitz trügt schwere Steuerkasten und ist oft auch überschüttet. Denn es betragen die Hypothekenschnldcn im gesegneten Cam- panien (den Provinzen Avellino, Benevento, Caserta, Neapel und Salerno) nach einer Aufstellung von 1899 etwa 1100 Millionen Franken, während sie in Venezien allerdings nur die Summe von 300 Millionen Franken erreichen. Dazu kommt das Übergewicht der Latifundien in dein größten Teile des Landes, die oft sehr extensiv bewirtschaftet werden, wie die meisten Großgüter der römischen Campagna, die als Weideland den (81) Besitzern eine viel höhere Rente (bis 30000 Lire) abwerfen, als wenn sie unter den Pflug genommen wurden. Andre werden nach der alten Methode der intz^aclrig, an Teilbauern (rechtlich auf ein Jahr, thatsächlich fast erblich) ausgethan, sodciß dem Eigen¬ tümer ein bestimmter Anteil an deu Erträge,? zufällt, und auch etwaige Melio¬ rationen ihm zu gute kommen (abzüglich der Kosten), noch andre um kleine oder große Pächter (wie die 400 Landgüter um Rom in der Campagna) ver¬ pachtet, die ihrerseits nun oft wieder an kleinere Leute weiter verpachten; anch die meist sehr schlecht bezahlte Tagelöhnernrbeit spielt auf den größern Gütern eine wichtige Rolle. Die Eigentümer dieser Großgüter, die bis zu 20000 Hektaren und mehr Umfang haben, kümmern sich nur selten um ihre Bewirt¬ schaftung, sondern leben den größten Teil des Jahres in den Städten. Kleine selbständige Eigentümer giebt es nur in Oberitalien und in einzelnen Teilen Mittelitaliens; aber dort ist der Grundbesitz oft wieder so zersplittert, daß die Parzellen allein eine Familie weder vollständig beschäftigen noch ernähren können. So erzählt de Amieis von einem Turiner Pferdebahnkutscher, der draußen am Tauaro ein paar Quadratmeter Land mit einer schönen Buche hat und doch davou nicht lassen will. Aus dieser Verteilung des Grundbesitzes und aus der Schwierigkeit, die oft stundenweit von den städtischen Wohnsitzen der ackerbautreibenden Bevölkerung liegenden Fluren zu erreichen, erklärt sich, daß zu Verbesserungen sehr oft entweder das Interesse oder die Mittel fehlen. (Fortsetzung folgt) Grenzboten IV 1S00S7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/495>, abgerufen am 16.06.2024.