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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Neue Weltgeschichten

Widerspruch sei, das zeitliche Nacheinander der geschichtlichen Vorgänge in ein
räumliches, ein geographisch-ethnographisches Schema zwängen zu wollen, und
daß die Geschichtschreibung gewisser Werturteile nicht entraten, also auch auf
die Einschätzung des historischen Werth von Völkern und Kulturen nicht ver¬
zichten könne, aber auch zugestand, daß die neue Methode manche bisher un¬
beachtete Seiten der Geschichtsentwicklung zur Geltung bringe, also vielfach
anregend wirke, und die einzelnem Völker- und Läudergeschichten tüchtige Ar¬
beiten nicht nur sein könnten, sondern auch wirklich seien. In diesem Urteil
haben mich weder Antikritiken, noch Vorreden, noch der lebhafte Beifall, den,
wie uns versichert wird, die neue Weltgeschichte im In- und Auslande ge¬
funden hat, irre gemacht. Ich denke, die "alte" Methode, nach der seit
zweiundeinhalb Jahrtausenden die Geschichte der Welt, natürlich immer nur
der jedesmal bekannten und interessanten Welt, geschrieben worden ist, wird
fröhlich weiter bestehn und weiter vervollkomment werden, wenn wir es auch
trotz aller Bemühungen, den chronologischen Faden festzuhalten, bei der nun
einmal unausrottbaren UnVollkommenheit des Menschen nicht zu gleicher Zeit
auf verschiednen Schauplätzen auch nur geistig verweilen zu können, niemals
fertig bringen werden, zugleich zu schildern und zu lesen, was bei den Azteken,
Chinesen und Franzosen gleichzeitig vorgegangen ist. Aus dieser natürlichen
Unzulänglichkeit zumeist beruhn die Mängel, die der alten Methode von der
neuen vorgeworfen werden; der Fehler der neuen liegt im Prinzip.

Die neu erschienenen Teile von Helmolts Weltgeschichte haben mich ver¬
alteten Menschen in diesem Urteil nicht erschüttert, sondern wesentlich bestärkt.
Im vierten Bande, wo der geographische und historische Zusammenhang so
stark war, zeigt sich die Methode, den innern geistigen Zusammenhang zu
Gunsten des äußern, geographischen zu zerreißen, in einer für mein Gefühl
geradezu unerträglichen Weise. Es ist mir, als ob ich eine vom geographischen
Standpunkt ans geschriebn? Goethebiographie läse, etwa nach dem Schema:
1- Frankfurt; 2. südliche Richtung: Straßburg, Schweizerreisen, Italien; 3. west¬
liche Richtung: Campagne in Frankreich; 4. nördliche Richtung: Wetzlar, Rhein¬
reisen, Reise nach Berlin; 5. östliche Richtung: Weimar, Leipzig, Dresden,
Karlsbad, Feldlager in Schlesien. Man würde sicher auch nach dieser "Methode"
vielerlei Interessantes zu sehen bekommen, aber den Menschen und Dichter als
Ganzes gewiß nicht. Die Geschichte der Mittelmeerländer zerfällt im Altertum
-- um dieses handelt es sich nämlich wesentlich in dem vorliegenden vierten
Bande -- in zwei große Perioden: das politische und vielfach auch "kulturelle"
Sonderdasein der einzelnen Völker, und ihre allmähliche Zusammenfassung im
römischen Reiche, das die griechische Kultur in mannigfacher Schattierung be¬
herrscht. Diese Anordnung beruht nicht auf "Teleologie" -- beileibe nicht,
denn es wäre höchst unzeitgemäß, wenn man in der Weltgeschichte irgendwie
höhere "Zwecke" suchen wollte --, sondern sie entspricht einfach dem natürlichen
Gange der Dinge, gegen deu man geradezu die Augen verschließen muß, daß
man ihn nicht sieht und darstellt. Statt dessen lesen wir hier z. B. vom Islam


Neue Weltgeschichten

Widerspruch sei, das zeitliche Nacheinander der geschichtlichen Vorgänge in ein
räumliches, ein geographisch-ethnographisches Schema zwängen zu wollen, und
daß die Geschichtschreibung gewisser Werturteile nicht entraten, also auch auf
die Einschätzung des historischen Werth von Völkern und Kulturen nicht ver¬
zichten könne, aber auch zugestand, daß die neue Methode manche bisher un¬
beachtete Seiten der Geschichtsentwicklung zur Geltung bringe, also vielfach
anregend wirke, und die einzelnem Völker- und Läudergeschichten tüchtige Ar¬
beiten nicht nur sein könnten, sondern auch wirklich seien. In diesem Urteil
haben mich weder Antikritiken, noch Vorreden, noch der lebhafte Beifall, den,
wie uns versichert wird, die neue Weltgeschichte im In- und Auslande ge¬
funden hat, irre gemacht. Ich denke, die „alte" Methode, nach der seit
zweiundeinhalb Jahrtausenden die Geschichte der Welt, natürlich immer nur
der jedesmal bekannten und interessanten Welt, geschrieben worden ist, wird
fröhlich weiter bestehn und weiter vervollkomment werden, wenn wir es auch
trotz aller Bemühungen, den chronologischen Faden festzuhalten, bei der nun
einmal unausrottbaren UnVollkommenheit des Menschen nicht zu gleicher Zeit
auf verschiednen Schauplätzen auch nur geistig verweilen zu können, niemals
fertig bringen werden, zugleich zu schildern und zu lesen, was bei den Azteken,
Chinesen und Franzosen gleichzeitig vorgegangen ist. Aus dieser natürlichen
Unzulänglichkeit zumeist beruhn die Mängel, die der alten Methode von der
neuen vorgeworfen werden; der Fehler der neuen liegt im Prinzip.

Die neu erschienenen Teile von Helmolts Weltgeschichte haben mich ver¬
alteten Menschen in diesem Urteil nicht erschüttert, sondern wesentlich bestärkt.
Im vierten Bande, wo der geographische und historische Zusammenhang so
stark war, zeigt sich die Methode, den innern geistigen Zusammenhang zu
Gunsten des äußern, geographischen zu zerreißen, in einer für mein Gefühl
geradezu unerträglichen Weise. Es ist mir, als ob ich eine vom geographischen
Standpunkt ans geschriebn? Goethebiographie läse, etwa nach dem Schema:
1- Frankfurt; 2. südliche Richtung: Straßburg, Schweizerreisen, Italien; 3. west¬
liche Richtung: Campagne in Frankreich; 4. nördliche Richtung: Wetzlar, Rhein¬
reisen, Reise nach Berlin; 5. östliche Richtung: Weimar, Leipzig, Dresden,
Karlsbad, Feldlager in Schlesien. Man würde sicher auch nach dieser „Methode"
vielerlei Interessantes zu sehen bekommen, aber den Menschen und Dichter als
Ganzes gewiß nicht. Die Geschichte der Mittelmeerländer zerfällt im Altertum
— um dieses handelt es sich nämlich wesentlich in dem vorliegenden vierten
Bande — in zwei große Perioden: das politische und vielfach auch „kulturelle"
Sonderdasein der einzelnen Völker, und ihre allmähliche Zusammenfassung im
römischen Reiche, das die griechische Kultur in mannigfacher Schattierung be¬
herrscht. Diese Anordnung beruht nicht auf „Teleologie" — beileibe nicht,
denn es wäre höchst unzeitgemäß, wenn man in der Weltgeschichte irgendwie
höhere „Zwecke" suchen wollte —, sondern sie entspricht einfach dem natürlichen
Gange der Dinge, gegen deu man geradezu die Augen verschließen muß, daß
man ihn nicht sieht und darstellt. Statt dessen lesen wir hier z. B. vom Islam


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[0517] Neue Weltgeschichten Widerspruch sei, das zeitliche Nacheinander der geschichtlichen Vorgänge in ein räumliches, ein geographisch-ethnographisches Schema zwängen zu wollen, und daß die Geschichtschreibung gewisser Werturteile nicht entraten, also auch auf die Einschätzung des historischen Werth von Völkern und Kulturen nicht ver¬ zichten könne, aber auch zugestand, daß die neue Methode manche bisher un¬ beachtete Seiten der Geschichtsentwicklung zur Geltung bringe, also vielfach anregend wirke, und die einzelnem Völker- und Läudergeschichten tüchtige Ar¬ beiten nicht nur sein könnten, sondern auch wirklich seien. In diesem Urteil haben mich weder Antikritiken, noch Vorreden, noch der lebhafte Beifall, den, wie uns versichert wird, die neue Weltgeschichte im In- und Auslande ge¬ funden hat, irre gemacht. Ich denke, die „alte" Methode, nach der seit zweiundeinhalb Jahrtausenden die Geschichte der Welt, natürlich immer nur der jedesmal bekannten und interessanten Welt, geschrieben worden ist, wird fröhlich weiter bestehn und weiter vervollkomment werden, wenn wir es auch trotz aller Bemühungen, den chronologischen Faden festzuhalten, bei der nun einmal unausrottbaren UnVollkommenheit des Menschen nicht zu gleicher Zeit auf verschiednen Schauplätzen auch nur geistig verweilen zu können, niemals fertig bringen werden, zugleich zu schildern und zu lesen, was bei den Azteken, Chinesen und Franzosen gleichzeitig vorgegangen ist. Aus dieser natürlichen Unzulänglichkeit zumeist beruhn die Mängel, die der alten Methode von der neuen vorgeworfen werden; der Fehler der neuen liegt im Prinzip. Die neu erschienenen Teile von Helmolts Weltgeschichte haben mich ver¬ alteten Menschen in diesem Urteil nicht erschüttert, sondern wesentlich bestärkt. Im vierten Bande, wo der geographische und historische Zusammenhang so stark war, zeigt sich die Methode, den innern geistigen Zusammenhang zu Gunsten des äußern, geographischen zu zerreißen, in einer für mein Gefühl geradezu unerträglichen Weise. Es ist mir, als ob ich eine vom geographischen Standpunkt ans geschriebn? Goethebiographie läse, etwa nach dem Schema: 1- Frankfurt; 2. südliche Richtung: Straßburg, Schweizerreisen, Italien; 3. west¬ liche Richtung: Campagne in Frankreich; 4. nördliche Richtung: Wetzlar, Rhein¬ reisen, Reise nach Berlin; 5. östliche Richtung: Weimar, Leipzig, Dresden, Karlsbad, Feldlager in Schlesien. Man würde sicher auch nach dieser „Methode" vielerlei Interessantes zu sehen bekommen, aber den Menschen und Dichter als Ganzes gewiß nicht. Die Geschichte der Mittelmeerländer zerfällt im Altertum — um dieses handelt es sich nämlich wesentlich in dem vorliegenden vierten Bande — in zwei große Perioden: das politische und vielfach auch „kulturelle" Sonderdasein der einzelnen Völker, und ihre allmähliche Zusammenfassung im römischen Reiche, das die griechische Kultur in mannigfacher Schattierung be¬ herrscht. Diese Anordnung beruht nicht auf „Teleologie" — beileibe nicht, denn es wäre höchst unzeitgemäß, wenn man in der Weltgeschichte irgendwie höhere „Zwecke" suchen wollte —, sondern sie entspricht einfach dem natürlichen Gange der Dinge, gegen deu man geradezu die Augen verschließen muß, daß man ihn nicht sieht und darstellt. Statt dessen lesen wir hier z. B. vom Islam

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/517>, abgerufen am 16.06.2024.