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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Neue Weltgeschichten

noch für sich verständlich, weil der ununterbrochne Austausch von materiellen
und geistigen Gütern, wie er während des Altertums im römischen Reiche,
während des Mittelalters im ganzen Abendlande bestand und in der Neuzeit
über den gesamten Erdball geht, damals noch nicht bestand, vor allem aber
politische Berührungen noch Ausnahmen waren. Auf Einzelheiten einzugehn
ist hier nicht der Ort, aber wir wünschen dem gutausgestatteten Unternehmen
den besten Fortgang.

Nur eine Weltgeschichte in Umrissen (Federzeichnungen eines Deutschen,
ein Rückblick am Schlüsse des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin, E. S. Mittler
und Sohn, 2. Auflage 1898, VI und 526 S.) will ein geistvoller, welt¬
erfahrner, patriotischer Mann in einem mäßigen Bande seinen Volks- und
Zeitgenossen bieten. Wie von einer hohen Warte herab sieht er die Länder
und Völker zu seinen Füßen liegen. Es ist ihm alles gewissermaßen immer
gegenwärtig, und ungesucht ergeben sich ihm so immer wieder Parallelen, die
zuweilen blitzartig über zeitlich wie räumlich weit entfernte Erscheinungen Licht
verbreiten. Er ist zugleich tief religiös und patriotisch; er glaubt an einen
sittlichen, gottgewollten Gang und Zweck der geschichtlichen Entwicklung und be¬
trachtet die Religion als die innerste Kraft ("ohne lebendige Religion kein
lebendiges, bewegendes Volk," S. 481). Er will nicht nur erzählen, verfolgt
überhaupt keinen eigentlich wissenschaftlichen Zweck, sondern er will vor allem
seinem Volke den Spiegel vorhalten (vgl. z. B. S. 208) und es auf die Zu¬
kunft vorbereiten durch die Betrachtung der Vergangenheit; denn in die Selbst-
verherrlichung, von der bei uns patriotische Reden im Stolze darauf, "wie
wirs so herrlich weit gebracht" und ohne Hinweis auf die schweren Aufgaben
der Zukunft, für die wir uoch so wenig vorbereitet siud, wiederzuhallen pflegen,
stimmt er keineswegs mit ein; er sagt seinen Lesern oft herbe Wahrheiten und
die herbsten dem deutschen Reichstage (S. 493). In der großen Zahl hervor¬
ragender Männer, die Deutschland hervorgebracht hat, sieht er eher ein Zeichen
der Schwäche als der Stärke unsers Volkstums, da die Zukunft einer Nation
viel mehr durch eine gleichmüßige politische Tüchtigkeit, als durch einzelne
große Männer verbürgt werde. Seine Erzählung beschränkt auch er auf die
weltgeschichtlichen, d. h. die thätigen, andre bestimmenden Völker. Doch ist
deren Kreis in einer beständigen Veränderung und Erweiterung begriffen.
Indem er sich die geistvolle Auffassung eines von ihm nicht genannten
russischen Gelehrten aneignet, der die feste Erdoberfläche nach der Haupt¬
wasserscheide in eine atlantische und eine pazifische Welt (Ost- und Südasien,
Ostrand von Afrika, Westrand von Amerika und Australien) teilt (S. 309),
läßt er die passiven Völker dieser zweiten (pazifischen) Zone zunächst ganz
beiseite und behandelt in der "Zeit vor Christi Geburt" sowie in der guten
Hälfte der "Zeit nach Christi Geburt" nur den mittclmcerländischen Kulturkreis
vom "Reich der Pharaonen" bis zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts; erst
mit Cromwell beginnt für ihn "die atlantische Welt." Die Reiche des antiken
Orients werden nur in großen Zügen geschildert, mit Recht, denn ihre Herrscher


Neue Weltgeschichten

noch für sich verständlich, weil der ununterbrochne Austausch von materiellen
und geistigen Gütern, wie er während des Altertums im römischen Reiche,
während des Mittelalters im ganzen Abendlande bestand und in der Neuzeit
über den gesamten Erdball geht, damals noch nicht bestand, vor allem aber
politische Berührungen noch Ausnahmen waren. Auf Einzelheiten einzugehn
ist hier nicht der Ort, aber wir wünschen dem gutausgestatteten Unternehmen
den besten Fortgang.

Nur eine Weltgeschichte in Umrissen (Federzeichnungen eines Deutschen,
ein Rückblick am Schlüsse des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin, E. S. Mittler
und Sohn, 2. Auflage 1898, VI und 526 S.) will ein geistvoller, welt¬
erfahrner, patriotischer Mann in einem mäßigen Bande seinen Volks- und
Zeitgenossen bieten. Wie von einer hohen Warte herab sieht er die Länder
und Völker zu seinen Füßen liegen. Es ist ihm alles gewissermaßen immer
gegenwärtig, und ungesucht ergeben sich ihm so immer wieder Parallelen, die
zuweilen blitzartig über zeitlich wie räumlich weit entfernte Erscheinungen Licht
verbreiten. Er ist zugleich tief religiös und patriotisch; er glaubt an einen
sittlichen, gottgewollten Gang und Zweck der geschichtlichen Entwicklung und be¬
trachtet die Religion als die innerste Kraft („ohne lebendige Religion kein
lebendiges, bewegendes Volk," S. 481). Er will nicht nur erzählen, verfolgt
überhaupt keinen eigentlich wissenschaftlichen Zweck, sondern er will vor allem
seinem Volke den Spiegel vorhalten (vgl. z. B. S. 208) und es auf die Zu¬
kunft vorbereiten durch die Betrachtung der Vergangenheit; denn in die Selbst-
verherrlichung, von der bei uns patriotische Reden im Stolze darauf, „wie
wirs so herrlich weit gebracht" und ohne Hinweis auf die schweren Aufgaben
der Zukunft, für die wir uoch so wenig vorbereitet siud, wiederzuhallen pflegen,
stimmt er keineswegs mit ein; er sagt seinen Lesern oft herbe Wahrheiten und
die herbsten dem deutschen Reichstage (S. 493). In der großen Zahl hervor¬
ragender Männer, die Deutschland hervorgebracht hat, sieht er eher ein Zeichen
der Schwäche als der Stärke unsers Volkstums, da die Zukunft einer Nation
viel mehr durch eine gleichmüßige politische Tüchtigkeit, als durch einzelne
große Männer verbürgt werde. Seine Erzählung beschränkt auch er auf die
weltgeschichtlichen, d. h. die thätigen, andre bestimmenden Völker. Doch ist
deren Kreis in einer beständigen Veränderung und Erweiterung begriffen.
Indem er sich die geistvolle Auffassung eines von ihm nicht genannten
russischen Gelehrten aneignet, der die feste Erdoberfläche nach der Haupt¬
wasserscheide in eine atlantische und eine pazifische Welt (Ost- und Südasien,
Ostrand von Afrika, Westrand von Amerika und Australien) teilt (S. 309),
läßt er die passiven Völker dieser zweiten (pazifischen) Zone zunächst ganz
beiseite und behandelt in der „Zeit vor Christi Geburt" sowie in der guten
Hälfte der „Zeit nach Christi Geburt" nur den mittclmcerländischen Kulturkreis
vom „Reich der Pharaonen" bis zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts; erst
mit Cromwell beginnt für ihn „die atlantische Welt." Die Reiche des antiken
Orients werden nur in großen Zügen geschildert, mit Recht, denn ihre Herrscher


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[0522] Neue Weltgeschichten noch für sich verständlich, weil der ununterbrochne Austausch von materiellen und geistigen Gütern, wie er während des Altertums im römischen Reiche, während des Mittelalters im ganzen Abendlande bestand und in der Neuzeit über den gesamten Erdball geht, damals noch nicht bestand, vor allem aber politische Berührungen noch Ausnahmen waren. Auf Einzelheiten einzugehn ist hier nicht der Ort, aber wir wünschen dem gutausgestatteten Unternehmen den besten Fortgang. Nur eine Weltgeschichte in Umrissen (Federzeichnungen eines Deutschen, ein Rückblick am Schlüsse des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin, E. S. Mittler und Sohn, 2. Auflage 1898, VI und 526 S.) will ein geistvoller, welt¬ erfahrner, patriotischer Mann in einem mäßigen Bande seinen Volks- und Zeitgenossen bieten. Wie von einer hohen Warte herab sieht er die Länder und Völker zu seinen Füßen liegen. Es ist ihm alles gewissermaßen immer gegenwärtig, und ungesucht ergeben sich ihm so immer wieder Parallelen, die zuweilen blitzartig über zeitlich wie räumlich weit entfernte Erscheinungen Licht verbreiten. Er ist zugleich tief religiös und patriotisch; er glaubt an einen sittlichen, gottgewollten Gang und Zweck der geschichtlichen Entwicklung und be¬ trachtet die Religion als die innerste Kraft („ohne lebendige Religion kein lebendiges, bewegendes Volk," S. 481). Er will nicht nur erzählen, verfolgt überhaupt keinen eigentlich wissenschaftlichen Zweck, sondern er will vor allem seinem Volke den Spiegel vorhalten (vgl. z. B. S. 208) und es auf die Zu¬ kunft vorbereiten durch die Betrachtung der Vergangenheit; denn in die Selbst- verherrlichung, von der bei uns patriotische Reden im Stolze darauf, „wie wirs so herrlich weit gebracht" und ohne Hinweis auf die schweren Aufgaben der Zukunft, für die wir uoch so wenig vorbereitet siud, wiederzuhallen pflegen, stimmt er keineswegs mit ein; er sagt seinen Lesern oft herbe Wahrheiten und die herbsten dem deutschen Reichstage (S. 493). In der großen Zahl hervor¬ ragender Männer, die Deutschland hervorgebracht hat, sieht er eher ein Zeichen der Schwäche als der Stärke unsers Volkstums, da die Zukunft einer Nation viel mehr durch eine gleichmüßige politische Tüchtigkeit, als durch einzelne große Männer verbürgt werde. Seine Erzählung beschränkt auch er auf die weltgeschichtlichen, d. h. die thätigen, andre bestimmenden Völker. Doch ist deren Kreis in einer beständigen Veränderung und Erweiterung begriffen. Indem er sich die geistvolle Auffassung eines von ihm nicht genannten russischen Gelehrten aneignet, der die feste Erdoberfläche nach der Haupt¬ wasserscheide in eine atlantische und eine pazifische Welt (Ost- und Südasien, Ostrand von Afrika, Westrand von Amerika und Australien) teilt (S. 309), läßt er die passiven Völker dieser zweiten (pazifischen) Zone zunächst ganz beiseite und behandelt in der „Zeit vor Christi Geburt" sowie in der guten Hälfte der „Zeit nach Christi Geburt" nur den mittclmcerländischen Kulturkreis vom „Reich der Pharaonen" bis zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts; erst mit Cromwell beginnt für ihn „die atlantische Welt." Die Reiche des antiken Orients werden nur in großen Zügen geschildert, mit Recht, denn ihre Herrscher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/522>, abgerufen am 16.06.2024.