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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

naturwüchsige Tracht, sondern eine gesuchte, kokette." Wenn man nachher liest, daß
diese Damen im Freien am Boden sitzen, während Bauanlagen neben ihnen zu
erkennen sind, möchte man an die Szenen der Renaissance denken, wo die Damen
der Florentiner Gesellschaft in herrlichen Gärten, die sich an schöne Vaunnlagen
anlehnen, geistreiche und Liebesgespräche führen; Wolters schildert fast die Szenerie
von Boccaccios Decamerone. Furtwängler, der Münchner Archäologe, der früher
den mykenischen Frauentypus mit nackter Brust und dem nach unten breiter werdenden
mit Streifen gezierten "Glocken"rock in den bayrischen Sitzungsberichten (1899, II
Heft IV, S. 560 ff.) besprochen hat, hat in seinem Gemmenwerk, seiner jüngsten
großen Schöpfung, einen ausführlichen Exkurs über die mykenische Kultur. Er
sagt da III Seite 48: "daß eine höhere Geltung des weiblichen Geschlechts in der
Blüte der mykenischen Kultur überhaupt zu erkennen ist." -- Hand in Hand pflegt
damit eine gewisse sorgfältige Toilette zu geh". So lassen die raffinierter Toiletten
der mykenischen Damen auf ihre bevorzugte Stellung und eine entsprechende Kultur
M. schließen.


Glückliche Völkerkunde!

Als von kolonialpolitischer Seite kürzlich dem
preußischen Kultusministerium einige energische Mahnungen zugingen, die Völker¬
kunde endlich als Universitätsfach anzuerkennen und dieser Wissenschaft, die täglich
an Bedeutung zunimmt, die nötigen Lehrstühle zu schaffen, konnte der Minister
mit berechtigten! Stolze erwidern, daß in Berlin derartige Lehrstühle schon errichtet
seien. Sogar eine außerordentliche Professur für Kiel sei in Aussicht genommen!
Daß man in Berlin einfach einige Beamte des Museums für Völkerkunde, die
längst vorhanden waren und als Dozenten seit Jahren gelesen hatten, mit einem
offiziellen Titel versehen hatte, wurde als Nebensache nicht weiter betont. Zu diesen
wahrhaft glänzenden Erfolgen und der noch glänzender" Aussicht auf eine außer¬
ordentliche Professur in Kiel hat sich über Nacht ein "euer Beweis hoher mini¬
sterieller Fürsorge gesellt: Ein Mann, der seines Zeichens entwicklungsgeschichtlicher
Anatom ist und auf einer Reise um die Welt, die hauptsächlich einer neuseeländischen
Eidechsenart galt, auch einige Eingeborne gesehen hat, ist zum außerordentlichen
Professor für Anthropologie und Ethnologie ernannt worden. Mit welcher Genug¬
thuung wird man bei der nächsten Klage über stiefmütterliche Behandlung der
Völkerkunde auf diese neue Herrlichkeit hinweisen können! Glückliche Völkerkunde!
Dreimal glückliches Ministerium! Der Ausweg aus aller Not ist nun gefunden.
Man ernenne einfach beliebige Philologen, Theologen, Juristen oder Mediziner,
vorausgesetzt, daß sie einmal eine größere Reise gemacht oder in Kaftans Panoptikum
einige Wilde gesehen haben, nebenbei zu Professoren der Ethnologie, und alle
Klagen der unbequemen neuen Wissenschaft werden sofort verstummen. Man muß
sich zu helfen wissen!






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
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naturwüchsige Tracht, sondern eine gesuchte, kokette." Wenn man nachher liest, daß
diese Damen im Freien am Boden sitzen, während Bauanlagen neben ihnen zu
erkennen sind, möchte man an die Szenen der Renaissance denken, wo die Damen
der Florentiner Gesellschaft in herrlichen Gärten, die sich an schöne Vaunnlagen
anlehnen, geistreiche und Liebesgespräche führen; Wolters schildert fast die Szenerie
von Boccaccios Decamerone. Furtwängler, der Münchner Archäologe, der früher
den mykenischen Frauentypus mit nackter Brust und dem nach unten breiter werdenden
mit Streifen gezierten „Glocken"rock in den bayrischen Sitzungsberichten (1899, II
Heft IV, S. 560 ff.) besprochen hat, hat in seinem Gemmenwerk, seiner jüngsten
großen Schöpfung, einen ausführlichen Exkurs über die mykenische Kultur. Er
sagt da III Seite 48: „daß eine höhere Geltung des weiblichen Geschlechts in der
Blüte der mykenischen Kultur überhaupt zu erkennen ist." — Hand in Hand pflegt
damit eine gewisse sorgfältige Toilette zu geh«. So lassen die raffinierter Toiletten
der mykenischen Damen auf ihre bevorzugte Stellung und eine entsprechende Kultur
M. schließen.


Glückliche Völkerkunde!

Als von kolonialpolitischer Seite kürzlich dem
preußischen Kultusministerium einige energische Mahnungen zugingen, die Völker¬
kunde endlich als Universitätsfach anzuerkennen und dieser Wissenschaft, die täglich
an Bedeutung zunimmt, die nötigen Lehrstühle zu schaffen, konnte der Minister
mit berechtigten! Stolze erwidern, daß in Berlin derartige Lehrstühle schon errichtet
seien. Sogar eine außerordentliche Professur für Kiel sei in Aussicht genommen!
Daß man in Berlin einfach einige Beamte des Museums für Völkerkunde, die
längst vorhanden waren und als Dozenten seit Jahren gelesen hatten, mit einem
offiziellen Titel versehen hatte, wurde als Nebensache nicht weiter betont. Zu diesen
wahrhaft glänzenden Erfolgen und der noch glänzender» Aussicht auf eine außer¬
ordentliche Professur in Kiel hat sich über Nacht ein »euer Beweis hoher mini¬
sterieller Fürsorge gesellt: Ein Mann, der seines Zeichens entwicklungsgeschichtlicher
Anatom ist und auf einer Reise um die Welt, die hauptsächlich einer neuseeländischen
Eidechsenart galt, auch einige Eingeborne gesehen hat, ist zum außerordentlichen
Professor für Anthropologie und Ethnologie ernannt worden. Mit welcher Genug¬
thuung wird man bei der nächsten Klage über stiefmütterliche Behandlung der
Völkerkunde auf diese neue Herrlichkeit hinweisen können! Glückliche Völkerkunde!
Dreimal glückliches Ministerium! Der Ausweg aus aller Not ist nun gefunden.
Man ernenne einfach beliebige Philologen, Theologen, Juristen oder Mediziner,
vorausgesetzt, daß sie einmal eine größere Reise gemacht oder in Kaftans Panoptikum
einige Wilde gesehen haben, nebenbei zu Professoren der Ethnologie, und alle
Klagen der unbequemen neuen Wissenschaft werden sofort verstummen. Man muß
sich zu helfen wissen!






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0702] Maßgebliches und Unmaßgebliches naturwüchsige Tracht, sondern eine gesuchte, kokette." Wenn man nachher liest, daß diese Damen im Freien am Boden sitzen, während Bauanlagen neben ihnen zu erkennen sind, möchte man an die Szenen der Renaissance denken, wo die Damen der Florentiner Gesellschaft in herrlichen Gärten, die sich an schöne Vaunnlagen anlehnen, geistreiche und Liebesgespräche führen; Wolters schildert fast die Szenerie von Boccaccios Decamerone. Furtwängler, der Münchner Archäologe, der früher den mykenischen Frauentypus mit nackter Brust und dem nach unten breiter werdenden mit Streifen gezierten „Glocken"rock in den bayrischen Sitzungsberichten (1899, II Heft IV, S. 560 ff.) besprochen hat, hat in seinem Gemmenwerk, seiner jüngsten großen Schöpfung, einen ausführlichen Exkurs über die mykenische Kultur. Er sagt da III Seite 48: „daß eine höhere Geltung des weiblichen Geschlechts in der Blüte der mykenischen Kultur überhaupt zu erkennen ist." — Hand in Hand pflegt damit eine gewisse sorgfältige Toilette zu geh«. So lassen die raffinierter Toiletten der mykenischen Damen auf ihre bevorzugte Stellung und eine entsprechende Kultur M. schließen. Glückliche Völkerkunde! Als von kolonialpolitischer Seite kürzlich dem preußischen Kultusministerium einige energische Mahnungen zugingen, die Völker¬ kunde endlich als Universitätsfach anzuerkennen und dieser Wissenschaft, die täglich an Bedeutung zunimmt, die nötigen Lehrstühle zu schaffen, konnte der Minister mit berechtigten! Stolze erwidern, daß in Berlin derartige Lehrstühle schon errichtet seien. Sogar eine außerordentliche Professur für Kiel sei in Aussicht genommen! Daß man in Berlin einfach einige Beamte des Museums für Völkerkunde, die längst vorhanden waren und als Dozenten seit Jahren gelesen hatten, mit einem offiziellen Titel versehen hatte, wurde als Nebensache nicht weiter betont. Zu diesen wahrhaft glänzenden Erfolgen und der noch glänzender» Aussicht auf eine außer¬ ordentliche Professur in Kiel hat sich über Nacht ein »euer Beweis hoher mini¬ sterieller Fürsorge gesellt: Ein Mann, der seines Zeichens entwicklungsgeschichtlicher Anatom ist und auf einer Reise um die Welt, die hauptsächlich einer neuseeländischen Eidechsenart galt, auch einige Eingeborne gesehen hat, ist zum außerordentlichen Professor für Anthropologie und Ethnologie ernannt worden. Mit welcher Genug¬ thuung wird man bei der nächsten Klage über stiefmütterliche Behandlung der Völkerkunde auf diese neue Herrlichkeit hinweisen können! Glückliche Völkerkunde! Dreimal glückliches Ministerium! Der Ausweg aus aller Not ist nun gefunden. Man ernenne einfach beliebige Philologen, Theologen, Juristen oder Mediziner, vorausgesetzt, daß sie einmal eine größere Reise gemacht oder in Kaftans Panoptikum einige Wilde gesehen haben, nebenbei zu Professoren der Ethnologie, und alle Klagen der unbequemen neuen Wissenschaft werden sofort verstummen. Man muß sich zu helfen wissen! Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/702>, abgerufen am 16.06.2024.