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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Es giebt in Mitteldeutschland eine Menge Bergstädte und Dörfer von
ärmlichem Innern: enge Gassen, verfallne Mauern, alte Häuser. Sieht man
aber von oben hinein, so ist man erstaunt, wie sauber die Dächer gehalten
sind. Da sieht man keine Lücke. Und besonders wo das Material Dachschiefer
ist, da glänzt uns die ganze Stadt entgegen. Da sieht man denn auch die
Gassen und Häuser mit mildern Augen an. Wer lange im Tiefland gelebt
hat, besonders im amerikanischen, wo man zu den Häusern aufschaut wie zu
Bergeshöhen, der sagt sich vielleicht beim Blick in eins von diesen mittel¬
deutschen Thälern, wo das Städtchen zusammengedrängt ist wie eine Herde,
die sich schützen will, daß es nicht ganz ohne heilsame Folgen für die zur Un-
bescheidenheit neigende Menschennatur sein könne, gelegentlich den Schauplatz
ihres Dichtens und Trachtens und Überhebens aus der Vogelperspektive zu
betrachte" und sich zu überzeugen, wie eng und klein eigentlich ihre "Welt"
doch sei.

Es wäre interessant, zu wissen, wie weit die hohen steilen Dächer zurück-
gehn, und was ursprünglich an ihrer Stelle stand. Es ist nicht ausgeschlossen,
daß schol: auf vorhistorischen Pfahlbauten hvchgegiebelte Hütten standen. Naum-
burg an der Saale, Freyburg an der Unstrut gehören noch zu den ragenden
Städten, auch einige der lausitzischen, wie Bautzen, aber im allgemeinen sinkt
das Niveau der Stüdteprofile nach Osten hin. Dazu kommt aber auch sichtbar
ein Unterschied, der der neuem Zeit angehört. "Scharszinnige Gassen" sind
für alte Städte wie Lübeck, Hildesheim, Nürnberg und viele andre von dieser
gestaltenreichen, hochstrebenden, vielgetürmten Art ebenso bezeichnend, wie eine
gewisse Flachheit für die jüngern. Wenn man die "mittlere Höhe" der Städte
bestimmen wollte, würde man finden, daß sie in den letzten Jahrhunderten
immer kleiner geworden ist. Die kleinen Residenzstädte gehören natürlich zu
den flachsten, dein: in ihnen durste nichts das majestätische Überrageil des
Palastes stören, der selbst oft nicht sehr imposant war.

Daß aber die Verflachung nicht so ganz neu ist, zeigt mir der Schritt
von Naumburg nach Leipzig, der geographisch ein Hinabsteigen vom thüringischen
Hügelland in die sumpfige Ticflandbucht der Pleiße, ethnographisch ein Über¬
schreiten alter Völkergrenzen ist. Das große Leipzig hat kein kirchliches Bau¬
werk wie die nahen Dome von Naumburg und Merseburg auszuweisen. Im
Kampf mit Naumburg hat sich Leipzig als Meßstadt behauptet, als historische
Stätte steht Naumburg hoch darüber. Und wo wäre die architektonische Be¬
deutung Dresdens ohne die Bauten prachtliebender Kurfürsten, die großenteils
erst im achtzehnten Jahrhundert entstanden sind?

Mit der Überschreitung der Saale haben wir den alten Kulturboden ver¬
lassen und sind in das germanisierte slawische Kolonialland eingetreten. Auch
der Vvlksschlcig ist auf den beiden Seiten verschieden. Ich weiß wohl, daß
den Thüringern viel slawische Elemente beigemischt sind, und daß man ein
rein germanisches Volk erst westlich von der Werra trifft, wo dann allerdings
der Unterschied zwischen dem kräftigen, zähen Hessen und dem beweglichen,


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Es giebt in Mitteldeutschland eine Menge Bergstädte und Dörfer von
ärmlichem Innern: enge Gassen, verfallne Mauern, alte Häuser. Sieht man
aber von oben hinein, so ist man erstaunt, wie sauber die Dächer gehalten
sind. Da sieht man keine Lücke. Und besonders wo das Material Dachschiefer
ist, da glänzt uns die ganze Stadt entgegen. Da sieht man denn auch die
Gassen und Häuser mit mildern Augen an. Wer lange im Tiefland gelebt
hat, besonders im amerikanischen, wo man zu den Häusern aufschaut wie zu
Bergeshöhen, der sagt sich vielleicht beim Blick in eins von diesen mittel¬
deutschen Thälern, wo das Städtchen zusammengedrängt ist wie eine Herde,
die sich schützen will, daß es nicht ganz ohne heilsame Folgen für die zur Un-
bescheidenheit neigende Menschennatur sein könne, gelegentlich den Schauplatz
ihres Dichtens und Trachtens und Überhebens aus der Vogelperspektive zu
betrachte» und sich zu überzeugen, wie eng und klein eigentlich ihre „Welt"
doch sei.

Es wäre interessant, zu wissen, wie weit die hohen steilen Dächer zurück-
gehn, und was ursprünglich an ihrer Stelle stand. Es ist nicht ausgeschlossen,
daß schol: auf vorhistorischen Pfahlbauten hvchgegiebelte Hütten standen. Naum-
burg an der Saale, Freyburg an der Unstrut gehören noch zu den ragenden
Städten, auch einige der lausitzischen, wie Bautzen, aber im allgemeinen sinkt
das Niveau der Stüdteprofile nach Osten hin. Dazu kommt aber auch sichtbar
ein Unterschied, der der neuem Zeit angehört. „Scharszinnige Gassen" sind
für alte Städte wie Lübeck, Hildesheim, Nürnberg und viele andre von dieser
gestaltenreichen, hochstrebenden, vielgetürmten Art ebenso bezeichnend, wie eine
gewisse Flachheit für die jüngern. Wenn man die „mittlere Höhe" der Städte
bestimmen wollte, würde man finden, daß sie in den letzten Jahrhunderten
immer kleiner geworden ist. Die kleinen Residenzstädte gehören natürlich zu
den flachsten, dein: in ihnen durste nichts das majestätische Überrageil des
Palastes stören, der selbst oft nicht sehr imposant war.

Daß aber die Verflachung nicht so ganz neu ist, zeigt mir der Schritt
von Naumburg nach Leipzig, der geographisch ein Hinabsteigen vom thüringischen
Hügelland in die sumpfige Ticflandbucht der Pleiße, ethnographisch ein Über¬
schreiten alter Völkergrenzen ist. Das große Leipzig hat kein kirchliches Bau¬
werk wie die nahen Dome von Naumburg und Merseburg auszuweisen. Im
Kampf mit Naumburg hat sich Leipzig als Meßstadt behauptet, als historische
Stätte steht Naumburg hoch darüber. Und wo wäre die architektonische Be¬
deutung Dresdens ohne die Bauten prachtliebender Kurfürsten, die großenteils
erst im achtzehnten Jahrhundert entstanden sind?

Mit der Überschreitung der Saale haben wir den alten Kulturboden ver¬
lassen und sind in das germanisierte slawische Kolonialland eingetreten. Auch
der Vvlksschlcig ist auf den beiden Seiten verschieden. Ich weiß wohl, daß
den Thüringern viel slawische Elemente beigemischt sind, und daß man ein
rein germanisches Volk erst westlich von der Werra trifft, wo dann allerdings
der Unterschied zwischen dem kräftigen, zähen Hessen und dem beweglichen,


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[0092] Lriefe ein»!? Zurückgekehrten Es giebt in Mitteldeutschland eine Menge Bergstädte und Dörfer von ärmlichem Innern: enge Gassen, verfallne Mauern, alte Häuser. Sieht man aber von oben hinein, so ist man erstaunt, wie sauber die Dächer gehalten sind. Da sieht man keine Lücke. Und besonders wo das Material Dachschiefer ist, da glänzt uns die ganze Stadt entgegen. Da sieht man denn auch die Gassen und Häuser mit mildern Augen an. Wer lange im Tiefland gelebt hat, besonders im amerikanischen, wo man zu den Häusern aufschaut wie zu Bergeshöhen, der sagt sich vielleicht beim Blick in eins von diesen mittel¬ deutschen Thälern, wo das Städtchen zusammengedrängt ist wie eine Herde, die sich schützen will, daß es nicht ganz ohne heilsame Folgen für die zur Un- bescheidenheit neigende Menschennatur sein könne, gelegentlich den Schauplatz ihres Dichtens und Trachtens und Überhebens aus der Vogelperspektive zu betrachte» und sich zu überzeugen, wie eng und klein eigentlich ihre „Welt" doch sei. Es wäre interessant, zu wissen, wie weit die hohen steilen Dächer zurück- gehn, und was ursprünglich an ihrer Stelle stand. Es ist nicht ausgeschlossen, daß schol: auf vorhistorischen Pfahlbauten hvchgegiebelte Hütten standen. Naum- burg an der Saale, Freyburg an der Unstrut gehören noch zu den ragenden Städten, auch einige der lausitzischen, wie Bautzen, aber im allgemeinen sinkt das Niveau der Stüdteprofile nach Osten hin. Dazu kommt aber auch sichtbar ein Unterschied, der der neuem Zeit angehört. „Scharszinnige Gassen" sind für alte Städte wie Lübeck, Hildesheim, Nürnberg und viele andre von dieser gestaltenreichen, hochstrebenden, vielgetürmten Art ebenso bezeichnend, wie eine gewisse Flachheit für die jüngern. Wenn man die „mittlere Höhe" der Städte bestimmen wollte, würde man finden, daß sie in den letzten Jahrhunderten immer kleiner geworden ist. Die kleinen Residenzstädte gehören natürlich zu den flachsten, dein: in ihnen durste nichts das majestätische Überrageil des Palastes stören, der selbst oft nicht sehr imposant war. Daß aber die Verflachung nicht so ganz neu ist, zeigt mir der Schritt von Naumburg nach Leipzig, der geographisch ein Hinabsteigen vom thüringischen Hügelland in die sumpfige Ticflandbucht der Pleiße, ethnographisch ein Über¬ schreiten alter Völkergrenzen ist. Das große Leipzig hat kein kirchliches Bau¬ werk wie die nahen Dome von Naumburg und Merseburg auszuweisen. Im Kampf mit Naumburg hat sich Leipzig als Meßstadt behauptet, als historische Stätte steht Naumburg hoch darüber. Und wo wäre die architektonische Be¬ deutung Dresdens ohne die Bauten prachtliebender Kurfürsten, die großenteils erst im achtzehnten Jahrhundert entstanden sind? Mit der Überschreitung der Saale haben wir den alten Kulturboden ver¬ lassen und sind in das germanisierte slawische Kolonialland eingetreten. Auch der Vvlksschlcig ist auf den beiden Seiten verschieden. Ich weiß wohl, daß den Thüringern viel slawische Elemente beigemischt sind, und daß man ein rein germanisches Volk erst westlich von der Werra trifft, wo dann allerdings der Unterschied zwischen dem kräftigen, zähen Hessen und dem beweglichen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/92>, abgerufen am 16.06.2024.