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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Staats oder gar des Reichs handelt, So habe" wir ja gesehen, wie sogar
Männer, die auf ihrem Gebiet ersten Ranges sind, ein Mommsen, ein Virchow,
in politischen fragen irre gegangen sind, sogar nicht einmal so viel Verständnis
.zeigten, daß sie sich von dem Genie, nachdem es sich als solches schon kund
gethan hatte, hätten belehren lassen. Und man kann nicht etwa sagen: Das
sind Ausnahmen, Stubengelehrte, denen die Freiheit des Blicks in Einseitigkeit
verloren gegangen ist. Wie viel Menschen giebt es denn, die nicht irgendmie
befangen wären? Gerade die, die sich um das politische Verständnis des
"Volkes" zu wenden scheinen, die politischen Schriftsteller und Redner, rechnen
sehr oft mit der Urteilslosigkeit und zeigen dies durch das, was sie dein Leser
und dem Hörer zu bieten wagen. Am stärksten pflegt diese Urteilslosigkeit
geködert zu werden in den Zeiten der Wahl, also gerade da, wo sich die
politische Reife besonders bethätigen sollte; und daß bei den Wahlen viel, sehr
viel Unverstand und Unvernunft im Spiel ist, wird niemand bezweifeln.

Trotzdem hat wohl niemand die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts
ernstlich erwogen, wenn auch Abänderungen des Abstiinmungsinvdns in Vorschlag
gebracht worden sind. Da es nun einmal besteht, so muß dem Staat daran
liegen, daß die Bürger durch die Wahl nicht bloß das Verlangen, sich politisch
zu bethätigen, befriedigen, sondern daß die Wahlen anch ein möglichst ver
"mistiges Ergebnis haben, d, h, möglichst einsichtsvolle Abgeordnete zur Teil¬
nahme an der Regierung berufen werden.

Als Voraussetzung dafür kann aber mir die politische Reife der Wähler
in Betracht kommen, und es ergiebt sich darum notwendig die Aufgabe, sie
zu fördern, Nun kann sich ja niemand anheischig machen, diese -- so wenig
wie irgend eine andre -- Reife, anch mit dem bescheidensten Maße gemessen,
jemand beizubringen; wohl aber kann den Wählern die Möglichkeit gegeben
werden, sich über politische Fragen zu unterrichten und aufzuklären. Geschieht
das bei uns? Und wie geschieht es?

Ich möchte von der Frage ausgehn! Wie erlangt denn jetzt im allgemeinen
die Masse der Bürger ihre politische Bildung? Oder noch einfacher: Wie
kommen die Wähler jetzt dazu, für die oder die Partei zu stimmen? Ohne
weiteres ist klar, daß dafür bestimmend sind erstens die Einflüsse des Hauses,
der Landschaft, des Standes, der Konfession usw,, kurz, alle die Verhältnisse,
von denen jeder umgeben ist, zweitens gedruckte Erörterungen über politische
Dinge, und drittens Reden der gewerbsmäßigen oder gelegentlich auftretenden
Agitatoren,

Die Reden spielen eine wichtige Rolle im allgemeinen nur in Zeiten
politischer Erregung, besonders! wenn eine Wahl bevorsteht; anch hier dienen
sie aber mehr, die Leute mit geringerm Interesse für Politik zur Teilnahme
der Wahl heranzuholen, als daß sie die Parteistellung erst veranlassen,
Daß die Leute sich verschiedne Reden anhören und erst danach sich entscheiden,
wem sie ihre Stimme geben wollen, wird verhältnismäßig selten vorkommen,'nie größere Bedeutung haben die Reden bei der sozinldemotratischen Partei,


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Staats oder gar des Reichs handelt, So habe» wir ja gesehen, wie sogar
Männer, die auf ihrem Gebiet ersten Ranges sind, ein Mommsen, ein Virchow,
in politischen fragen irre gegangen sind, sogar nicht einmal so viel Verständnis
.zeigten, daß sie sich von dem Genie, nachdem es sich als solches schon kund
gethan hatte, hätten belehren lassen. Und man kann nicht etwa sagen: Das
sind Ausnahmen, Stubengelehrte, denen die Freiheit des Blicks in Einseitigkeit
verloren gegangen ist. Wie viel Menschen giebt es denn, die nicht irgendmie
befangen wären? Gerade die, die sich um das politische Verständnis des
„Volkes" zu wenden scheinen, die politischen Schriftsteller und Redner, rechnen
sehr oft mit der Urteilslosigkeit und zeigen dies durch das, was sie dein Leser
und dem Hörer zu bieten wagen. Am stärksten pflegt diese Urteilslosigkeit
geködert zu werden in den Zeiten der Wahl, also gerade da, wo sich die
politische Reife besonders bethätigen sollte; und daß bei den Wahlen viel, sehr
viel Unverstand und Unvernunft im Spiel ist, wird niemand bezweifeln.

Trotzdem hat wohl niemand die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts
ernstlich erwogen, wenn auch Abänderungen des Abstiinmungsinvdns in Vorschlag
gebracht worden sind. Da es nun einmal besteht, so muß dem Staat daran
liegen, daß die Bürger durch die Wahl nicht bloß das Verlangen, sich politisch
zu bethätigen, befriedigen, sondern daß die Wahlen anch ein möglichst ver
»mistiges Ergebnis haben, d, h, möglichst einsichtsvolle Abgeordnete zur Teil¬
nahme an der Regierung berufen werden.

Als Voraussetzung dafür kann aber mir die politische Reife der Wähler
in Betracht kommen, und es ergiebt sich darum notwendig die Aufgabe, sie
zu fördern, Nun kann sich ja niemand anheischig machen, diese — so wenig
wie irgend eine andre — Reife, anch mit dem bescheidensten Maße gemessen,
jemand beizubringen; wohl aber kann den Wählern die Möglichkeit gegeben
werden, sich über politische Fragen zu unterrichten und aufzuklären. Geschieht
das bei uns? Und wie geschieht es?

Ich möchte von der Frage ausgehn! Wie erlangt denn jetzt im allgemeinen
die Masse der Bürger ihre politische Bildung? Oder noch einfacher: Wie
kommen die Wähler jetzt dazu, für die oder die Partei zu stimmen? Ohne
weiteres ist klar, daß dafür bestimmend sind erstens die Einflüsse des Hauses,
der Landschaft, des Standes, der Konfession usw,, kurz, alle die Verhältnisse,
von denen jeder umgeben ist, zweitens gedruckte Erörterungen über politische
Dinge, und drittens Reden der gewerbsmäßigen oder gelegentlich auftretenden
Agitatoren,

Die Reden spielen eine wichtige Rolle im allgemeinen nur in Zeiten
politischer Erregung, besonders! wenn eine Wahl bevorsteht; anch hier dienen
sie aber mehr, die Leute mit geringerm Interesse für Politik zur Teilnahme
der Wahl heranzuholen, als daß sie die Parteistellung erst veranlassen,
Daß die Leute sich verschiedne Reden anhören und erst danach sich entscheiden,
wem sie ihre Stimme geben wollen, wird verhältnismäßig selten vorkommen,'nie größere Bedeutung haben die Reden bei der sozinldemotratischen Partei,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/221>, abgerufen am 16.05.2024.