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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Die Handelspolitik im Jahre

Sinne, ganz abgesehen von den sonstigen Nachteilen, die man ihr nachsagt,
den Abschluß günstiger Handelsverträge für uns erst recht unmöglich machen
müsse, denn die Hauptgetreideexportläuder, an deren Erschließung und Offen¬
haltung unserm Judnstrieexport am meisten liege, namentlich Rußland, würden
am wenigsten darauf eingehn, daß unsre Getreidezölle gerade dann am höchsten
werden sollten, wenn sie die Getreideausfuhr nach Deutschland am nötigsten
brauchten. Thatsächlich kommt Wohl der Gedanke einer gleitenden Getreide¬
zollskala in keiner Form vorläufig für unsre praktische Handelspolitik in Be¬
tracht. Es wird mit festen, für die Vertragsdauer gebundnen Getreidezöllen
gerechnet werden müssen, oder mit dem Nichtzustandekommen der Handelsver¬
träge überhaupt.

Über die schädlichen Wirkungen der Erhöhung solcher festen, für die Ver¬
tragsdauer gebundnen Getreidezölle für die Landwirtschaft selbst scheint man
sich trotz Conrads und der Mehrzahl der deutschen Nationalökonomen wieder¬
holter und eindringlicher Warnungen an den maßgebenden Regierungsstellen
immer noch nicht klar zu sein oder sich doch auf jede Weise hinwegtäuschen
zu wollen. Kein unbefangner Beurteiler der Sache, sollte man meinen,
könnte noch zu bestreiten wagen, daß auch diese Zollerhöhung den Verkehrs-
wert des landwirtschaftlichen Bodens wieder mehr steigern wird als den Er¬
tragswert, daß also dadurch die verhängnisvolle Differenz zwischen diesen
beiden Werten und damit zugleich die gefährliche Überschuldung der Landgüter
größer statt kleiner, der Hauptgrund des landwirtschaftlichen Notstands also
verschärft statt gemildert werden muß. Man wird, wenn man nicht ganz un¬
wahrscheinliche, ja unmögliche Umwälzungen auf dem Weltgetreidemarkt voraus¬
setzt, erwarten müssen, daß die Zollerhöhung nach Ablauf der neu zu schließenden
Handelsverträge nicht nur die heutigen Klagen der Landwirte nicht zum Schweigen
gebracht haben wird, sondern daß diese dann noch lauter ertönen werden, und
unsre Landwirtschaft thatsächlich auch noch schwächer und gegenüber dem Welt¬
markt widerstaudsuufähiger geworden sein "vird als heute. Will man, so muß
man doch fragen, dann etwa die Getreidezölle noch weiter lind immer weiter
erhöhen? Will man die Getreide- und Brotpreise in Deutschland, die schon
die höchsten in den Welt- und Großstanten sind, immer weiter gegen die Aus¬
landspreise künstlich in die Höhe treiben lassen? Will man die deutsche Ge¬
treideproduktion, die dank der irrationeller Bodenpreise und der unsers Er-
achtens teilweis irrationeller Betricbsintensitüt schon jetzt vielleicht die teuerste
in der Welt ist, noch mehr und immer mehr verteuern? Oder wie denkt man
sich denn sonst die Lösung der Getreidezollfrage nach fünfzehn und nach dreißig
Jahren?

Zum Teil glaubt man sich dieser Fragen einfach entschlagen zu können
mit der Behauptung, der gegenwärtige Notstand sei so akut, daß ohne Rück¬
sicht auf seine wahrscheinlichen Übeln Nachwirkungen das Mittel der Zoll-
erhöhuug angewandt werden müsse, wenn nicht der sofortige Zusammenbruch
des landwirtschaftlichen Betriebs überhaupt und damit eine furchtbar schwere


Die Handelspolitik im Jahre

Sinne, ganz abgesehen von den sonstigen Nachteilen, die man ihr nachsagt,
den Abschluß günstiger Handelsverträge für uns erst recht unmöglich machen
müsse, denn die Hauptgetreideexportläuder, an deren Erschließung und Offen¬
haltung unserm Judnstrieexport am meisten liege, namentlich Rußland, würden
am wenigsten darauf eingehn, daß unsre Getreidezölle gerade dann am höchsten
werden sollten, wenn sie die Getreideausfuhr nach Deutschland am nötigsten
brauchten. Thatsächlich kommt Wohl der Gedanke einer gleitenden Getreide¬
zollskala in keiner Form vorläufig für unsre praktische Handelspolitik in Be¬
tracht. Es wird mit festen, für die Vertragsdauer gebundnen Getreidezöllen
gerechnet werden müssen, oder mit dem Nichtzustandekommen der Handelsver¬
träge überhaupt.

Über die schädlichen Wirkungen der Erhöhung solcher festen, für die Ver¬
tragsdauer gebundnen Getreidezölle für die Landwirtschaft selbst scheint man
sich trotz Conrads und der Mehrzahl der deutschen Nationalökonomen wieder¬
holter und eindringlicher Warnungen an den maßgebenden Regierungsstellen
immer noch nicht klar zu sein oder sich doch auf jede Weise hinwegtäuschen
zu wollen. Kein unbefangner Beurteiler der Sache, sollte man meinen,
könnte noch zu bestreiten wagen, daß auch diese Zollerhöhung den Verkehrs-
wert des landwirtschaftlichen Bodens wieder mehr steigern wird als den Er¬
tragswert, daß also dadurch die verhängnisvolle Differenz zwischen diesen
beiden Werten und damit zugleich die gefährliche Überschuldung der Landgüter
größer statt kleiner, der Hauptgrund des landwirtschaftlichen Notstands also
verschärft statt gemildert werden muß. Man wird, wenn man nicht ganz un¬
wahrscheinliche, ja unmögliche Umwälzungen auf dem Weltgetreidemarkt voraus¬
setzt, erwarten müssen, daß die Zollerhöhung nach Ablauf der neu zu schließenden
Handelsverträge nicht nur die heutigen Klagen der Landwirte nicht zum Schweigen
gebracht haben wird, sondern daß diese dann noch lauter ertönen werden, und
unsre Landwirtschaft thatsächlich auch noch schwächer und gegenüber dem Welt¬
markt widerstaudsuufähiger geworden sein »vird als heute. Will man, so muß
man doch fragen, dann etwa die Getreidezölle noch weiter lind immer weiter
erhöhen? Will man die Getreide- und Brotpreise in Deutschland, die schon
die höchsten in den Welt- und Großstanten sind, immer weiter gegen die Aus¬
landspreise künstlich in die Höhe treiben lassen? Will man die deutsche Ge¬
treideproduktion, die dank der irrationeller Bodenpreise und der unsers Er-
achtens teilweis irrationeller Betricbsintensitüt schon jetzt vielleicht die teuerste
in der Welt ist, noch mehr und immer mehr verteuern? Oder wie denkt man
sich denn sonst die Lösung der Getreidezollfrage nach fünfzehn und nach dreißig
Jahren?

Zum Teil glaubt man sich dieser Fragen einfach entschlagen zu können
mit der Behauptung, der gegenwärtige Notstand sei so akut, daß ohne Rück¬
sicht auf seine wahrscheinlichen Übeln Nachwirkungen das Mittel der Zoll-
erhöhuug angewandt werden müsse, wenn nicht der sofortige Zusammenbruch
des landwirtschaftlichen Betriebs überhaupt und damit eine furchtbar schwere


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/74>, abgerufen am 05.06.2024.