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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Abendland und Morgenland
Zur Jahreswende

!erodot Von Halikarnassos ist nicht nur der "Vater der Geschichte"
schlechtweg, wie man ihn von jeher genannt hat, sondern auch
der Vater der Weltgeschichte im besondern. Denn dieser kluge,
weltkundige Jonier hat zuerst die Entwicklung eines großen
I Völkerkreises, der ganzen ihm bekannten Welt im Zusammen¬
hang dargestellt, nicht etwa nur die politische Geschichte, sondern ebenso gut
die der Kultur, und er hat die ungeheure Stoffmasse, die er unermüdlich ge¬
sammelt hat, unter die Herrschaft einer großen Idee gestellt. Er sieht in dem,
was er schildert, eine Reihenfolge von Zusammenstößen zwischen Asien und
Europa, zwischen Morgen- und Abendland, in denen das sittliche Unrecht des
einen Teils immer wieder vergolten wird durch ein Unrecht des andern. In
der That beherrscht dieser Gegensatz die Weltgeschichte bis zur Stunde, und
er ist uns im letzten Jahre besonders deutlich geworden. Auf die Perserkriege,
die den Orient im Angriff zeigten, folgte als großartigster Rückschlag der
griechischen Welt der beispiellose Alexanderzug, der die griechische Kultur bis
an die Grenzen Indiens trug und dauernd ihr wenigstens die Herrschaft über
den gesamten Ostrand des Mittelmeerbeckens, über Kleinasien, Syrien und
Ägypten sicherte. Hier traten die Römer und nach ihnen ihre Rechtsnachfolger,
die Byzantiner, die Erbschaft des großen Makedoniers an, aber im Innern
dieses merkwürdigen Byzantinerstaats vollzog sich allmählich eine sonderbare
Umwandlung: vom romanisch-germanischen Westen gelöst und durch den kirch¬
lichen Gegensatz von ihm innerlich getrennt, orientcilisierte er sich im Geiste
seines Staats- und Kirchenwesens, in Sitte und Kunst. Dann kam mit dem
Islam ein neuer gewaltiger Vorstoß des Orients; er zerriß, von den Arabern
getragen, den Zusammenhang zwischen den Südründern und den Nordrändern
des Mittelmeers, er flutete mit der türkischen Völkerwelle über die Trümmer
des byzantinischen Reichs bis vor die Thore von Wien und drängte für einige


Grenzboten I 1S01 1


Abendland und Morgenland
Zur Jahreswende

!erodot Von Halikarnassos ist nicht nur der „Vater der Geschichte"
schlechtweg, wie man ihn von jeher genannt hat, sondern auch
der Vater der Weltgeschichte im besondern. Denn dieser kluge,
weltkundige Jonier hat zuerst die Entwicklung eines großen
I Völkerkreises, der ganzen ihm bekannten Welt im Zusammen¬
hang dargestellt, nicht etwa nur die politische Geschichte, sondern ebenso gut
die der Kultur, und er hat die ungeheure Stoffmasse, die er unermüdlich ge¬
sammelt hat, unter die Herrschaft einer großen Idee gestellt. Er sieht in dem,
was er schildert, eine Reihenfolge von Zusammenstößen zwischen Asien und
Europa, zwischen Morgen- und Abendland, in denen das sittliche Unrecht des
einen Teils immer wieder vergolten wird durch ein Unrecht des andern. In
der That beherrscht dieser Gegensatz die Weltgeschichte bis zur Stunde, und
er ist uns im letzten Jahre besonders deutlich geworden. Auf die Perserkriege,
die den Orient im Angriff zeigten, folgte als großartigster Rückschlag der
griechischen Welt der beispiellose Alexanderzug, der die griechische Kultur bis
an die Grenzen Indiens trug und dauernd ihr wenigstens die Herrschaft über
den gesamten Ostrand des Mittelmeerbeckens, über Kleinasien, Syrien und
Ägypten sicherte. Hier traten die Römer und nach ihnen ihre Rechtsnachfolger,
die Byzantiner, die Erbschaft des großen Makedoniers an, aber im Innern
dieses merkwürdigen Byzantinerstaats vollzog sich allmählich eine sonderbare
Umwandlung: vom romanisch-germanischen Westen gelöst und durch den kirch¬
lichen Gegensatz von ihm innerlich getrennt, orientcilisierte er sich im Geiste
seines Staats- und Kirchenwesens, in Sitte und Kunst. Dann kam mit dem
Islam ein neuer gewaltiger Vorstoß des Orients; er zerriß, von den Arabern
getragen, den Zusammenhang zwischen den Südründern und den Nordrändern
des Mittelmeers, er flutete mit der türkischen Völkerwelle über die Trümmer
des byzantinischen Reichs bis vor die Thore von Wien und drängte für einige


Grenzboten I 1S01 1
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[0009] [Abbildung] Abendland und Morgenland Zur Jahreswende !erodot Von Halikarnassos ist nicht nur der „Vater der Geschichte" schlechtweg, wie man ihn von jeher genannt hat, sondern auch der Vater der Weltgeschichte im besondern. Denn dieser kluge, weltkundige Jonier hat zuerst die Entwicklung eines großen I Völkerkreises, der ganzen ihm bekannten Welt im Zusammen¬ hang dargestellt, nicht etwa nur die politische Geschichte, sondern ebenso gut die der Kultur, und er hat die ungeheure Stoffmasse, die er unermüdlich ge¬ sammelt hat, unter die Herrschaft einer großen Idee gestellt. Er sieht in dem, was er schildert, eine Reihenfolge von Zusammenstößen zwischen Asien und Europa, zwischen Morgen- und Abendland, in denen das sittliche Unrecht des einen Teils immer wieder vergolten wird durch ein Unrecht des andern. In der That beherrscht dieser Gegensatz die Weltgeschichte bis zur Stunde, und er ist uns im letzten Jahre besonders deutlich geworden. Auf die Perserkriege, die den Orient im Angriff zeigten, folgte als großartigster Rückschlag der griechischen Welt der beispiellose Alexanderzug, der die griechische Kultur bis an die Grenzen Indiens trug und dauernd ihr wenigstens die Herrschaft über den gesamten Ostrand des Mittelmeerbeckens, über Kleinasien, Syrien und Ägypten sicherte. Hier traten die Römer und nach ihnen ihre Rechtsnachfolger, die Byzantiner, die Erbschaft des großen Makedoniers an, aber im Innern dieses merkwürdigen Byzantinerstaats vollzog sich allmählich eine sonderbare Umwandlung: vom romanisch-germanischen Westen gelöst und durch den kirch¬ lichen Gegensatz von ihm innerlich getrennt, orientcilisierte er sich im Geiste seines Staats- und Kirchenwesens, in Sitte und Kunst. Dann kam mit dem Islam ein neuer gewaltiger Vorstoß des Orients; er zerriß, von den Arabern getragen, den Zusammenhang zwischen den Südründern und den Nordrändern des Mittelmeers, er flutete mit der türkischen Völkerwelle über die Trümmer des byzantinischen Reichs bis vor die Thore von Wien und drängte für einige Grenzboten I 1S01 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/9>, abgerufen am 22.05.2024.