Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Giglio

Man spricht auf Giglio, was man bei dem gemischten Ursprung der Be¬
völkerung nicht erwarten sollte, ein reines Italienisch; aber dieses schöne
Italienisch auch zu lesen und zu schreiben, das versteht heute nur noch die
Minderzahl: 1537 Analphabeten giebt es gegenwärtig auf dieser Scholle,
791 Männer und 746 Frauen - - eine erschreckende Stichprobe aus der ita¬
lienischen Volksbildung! Und doch sind auf der Insel vier obere Elementar¬
schulen (Llkinöntcli-i supvrioi'i), je zwei in Castello und Porto, mit vier Lehr¬
kräften eingerichtet! Die religiöse Bildung beschränkt sich auf den Katechismus-
nuterricht, den der Pfarrer vor der Vesper erteilt, und an dem außer deu
schulpflichtigen Kindern auch Erwachsene teilnehmen, sowie auf die Erklärung
des Evangeliums an Sonn- und Feiertagen, die vom Altar aus erfolgt. Die
kirchlichen Gebräuche, Feste, Prozessionen usw, werden strengstens eingehalten,
besonders wird der 15. September von dem Volk in Giglio gefeiert als das
Fest seines Schutzpatrons, des heiligen Mamilicmus.

Selten mag man irgendwo einen schönern Menschenschlag finden als hier
auf Giglio: Modelle alter italienischer Meister, wohin man schaut! Mädchen
und Frauen mit Madonnengcsichtern voll Milde und Anmut, im Wuchs schlank
und geschmeidig, in den Bewegungen graziös; während die Männer ein freies,
offnes Benehmen zur Schau tragen, und die meisten es sich wohl anmerken
lassen, daß sie schon ferne Meere durchkreuzt haben (es sind im Durchschnitt
immer hundert Gigliesen als Matrosen auf hochseefahrenden Schiffen ein¬
gestellt). Die Tracht beider Geschlechter uuterscheidet sich uicht von der der
Landbewohner auf dem benachbarten toskanischen Festland, sie ist meist dunkel,
einfach, billig. Einfach bis zur Ärmlichkeit find anch die rohgemauertcn, ziegel¬
bedachten Häuser mitsamt den häuslichen Gerütschafteu, und genau so steht es
auch mit der Nahrung der Bewohner; im Winter giebt es die sogenannten
Minestrvni (aus Fisolen, Erbsen und Linsen), im Sommer die Minestre (Ge¬
müsesuppe) mit Zuthaten. Fleisch wird nur von den Wohlhabenden genossen;
im Oktober giebt es ausnahmsweise auch für die Armem Fische, Geflügel,
Hasen, Tauben.

Die Hauptabwechslung in diesem einfachen Leben und auch manchen Ver¬
dienst bringt die Badezeit vom 15. Juli bis zum 15. September. Da kommen
die Fremden vom Festland drüben, reiche Marcmmaner, vornehme Römer
(z. B. alljährlich die Familie des Marchese Dorici) und Florentiner, und wer
von ihnen des Schwimmens unkundig ist, kann es hier lernen: auf Giglio
schwimmt alles. Wie herrlich, so ein Meerbad an den sandigen Ufern von
Renella, von Porto, Carette, Caldcme, lauter Plätzen im Osten der Insel, die,
da sich die Insel so ziemlich von Süd nach Nord zieht, durch ihre Höhe ge¬
schützt, den ganzen Nachmittag im Schatten bleiben, ein Vorteil, den kein
einziges Seebad auf der ganzen italienischen Westküste bietet! Und wie hübsch
die Bootfahrtcn, die man um ein billiges von der Insel aus unternehmen
kann! Da hört man dann wohl am Abend von den stillen Gestaden her die
wohllautenden Gesänge der stimmbegabten Jnseljugend oder die schmetternden


Giglio

Man spricht auf Giglio, was man bei dem gemischten Ursprung der Be¬
völkerung nicht erwarten sollte, ein reines Italienisch; aber dieses schöne
Italienisch auch zu lesen und zu schreiben, das versteht heute nur noch die
Minderzahl: 1537 Analphabeten giebt es gegenwärtig auf dieser Scholle,
791 Männer und 746 Frauen - - eine erschreckende Stichprobe aus der ita¬
lienischen Volksbildung! Und doch sind auf der Insel vier obere Elementar¬
schulen (Llkinöntcli-i supvrioi'i), je zwei in Castello und Porto, mit vier Lehr¬
kräften eingerichtet! Die religiöse Bildung beschränkt sich auf den Katechismus-
nuterricht, den der Pfarrer vor der Vesper erteilt, und an dem außer deu
schulpflichtigen Kindern auch Erwachsene teilnehmen, sowie auf die Erklärung
des Evangeliums an Sonn- und Feiertagen, die vom Altar aus erfolgt. Die
kirchlichen Gebräuche, Feste, Prozessionen usw, werden strengstens eingehalten,
besonders wird der 15. September von dem Volk in Giglio gefeiert als das
Fest seines Schutzpatrons, des heiligen Mamilicmus.

Selten mag man irgendwo einen schönern Menschenschlag finden als hier
auf Giglio: Modelle alter italienischer Meister, wohin man schaut! Mädchen
und Frauen mit Madonnengcsichtern voll Milde und Anmut, im Wuchs schlank
und geschmeidig, in den Bewegungen graziös; während die Männer ein freies,
offnes Benehmen zur Schau tragen, und die meisten es sich wohl anmerken
lassen, daß sie schon ferne Meere durchkreuzt haben (es sind im Durchschnitt
immer hundert Gigliesen als Matrosen auf hochseefahrenden Schiffen ein¬
gestellt). Die Tracht beider Geschlechter uuterscheidet sich uicht von der der
Landbewohner auf dem benachbarten toskanischen Festland, sie ist meist dunkel,
einfach, billig. Einfach bis zur Ärmlichkeit find anch die rohgemauertcn, ziegel¬
bedachten Häuser mitsamt den häuslichen Gerütschafteu, und genau so steht es
auch mit der Nahrung der Bewohner; im Winter giebt es die sogenannten
Minestrvni (aus Fisolen, Erbsen und Linsen), im Sommer die Minestre (Ge¬
müsesuppe) mit Zuthaten. Fleisch wird nur von den Wohlhabenden genossen;
im Oktober giebt es ausnahmsweise auch für die Armem Fische, Geflügel,
Hasen, Tauben.

Die Hauptabwechslung in diesem einfachen Leben und auch manchen Ver¬
dienst bringt die Badezeit vom 15. Juli bis zum 15. September. Da kommen
die Fremden vom Festland drüben, reiche Marcmmaner, vornehme Römer
(z. B. alljährlich die Familie des Marchese Dorici) und Florentiner, und wer
von ihnen des Schwimmens unkundig ist, kann es hier lernen: auf Giglio
schwimmt alles. Wie herrlich, so ein Meerbad an den sandigen Ufern von
Renella, von Porto, Carette, Caldcme, lauter Plätzen im Osten der Insel, die,
da sich die Insel so ziemlich von Süd nach Nord zieht, durch ihre Höhe ge¬
schützt, den ganzen Nachmittag im Schatten bleiben, ein Vorteil, den kein
einziges Seebad auf der ganzen italienischen Westküste bietet! Und wie hübsch
die Bootfahrtcn, die man um ein billiges von der Insel aus unternehmen
kann! Da hört man dann wohl am Abend von den stillen Gestaden her die
wohllautenden Gesänge der stimmbegabten Jnseljugend oder die schmetternden


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0092" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/233972"/>
          <fw type="header" place="top"> Giglio</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_280"> Man spricht auf Giglio, was man bei dem gemischten Ursprung der Be¬<lb/>
völkerung nicht erwarten sollte, ein reines Italienisch; aber dieses schöne<lb/>
Italienisch auch zu lesen und zu schreiben, das versteht heute nur noch die<lb/>
Minderzahl: 1537 Analphabeten giebt es gegenwärtig auf dieser Scholle,<lb/>
791 Männer und 746 Frauen - - eine erschreckende Stichprobe aus der ita¬<lb/>
lienischen Volksbildung! Und doch sind auf der Insel vier obere Elementar¬<lb/>
schulen (Llkinöntcli-i supvrioi'i), je zwei in Castello und Porto, mit vier Lehr¬<lb/>
kräften eingerichtet! Die religiöse Bildung beschränkt sich auf den Katechismus-<lb/>
nuterricht, den der Pfarrer vor der Vesper erteilt, und an dem außer deu<lb/>
schulpflichtigen Kindern auch Erwachsene teilnehmen, sowie auf die Erklärung<lb/>
des Evangeliums an Sonn- und Feiertagen, die vom Altar aus erfolgt. Die<lb/>
kirchlichen Gebräuche, Feste, Prozessionen usw, werden strengstens eingehalten,<lb/>
besonders wird der 15. September von dem Volk in Giglio gefeiert als das<lb/>
Fest seines Schutzpatrons, des heiligen Mamilicmus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_281"> Selten mag man irgendwo einen schönern Menschenschlag finden als hier<lb/>
auf Giglio: Modelle alter italienischer Meister, wohin man schaut! Mädchen<lb/>
und Frauen mit Madonnengcsichtern voll Milde und Anmut, im Wuchs schlank<lb/>
und geschmeidig, in den Bewegungen graziös; während die Männer ein freies,<lb/>
offnes Benehmen zur Schau tragen, und die meisten es sich wohl anmerken<lb/>
lassen, daß sie schon ferne Meere durchkreuzt haben (es sind im Durchschnitt<lb/>
immer hundert Gigliesen als Matrosen auf hochseefahrenden Schiffen ein¬<lb/>
gestellt). Die Tracht beider Geschlechter uuterscheidet sich uicht von der der<lb/>
Landbewohner auf dem benachbarten toskanischen Festland, sie ist meist dunkel,<lb/>
einfach, billig. Einfach bis zur Ärmlichkeit find anch die rohgemauertcn, ziegel¬<lb/>
bedachten Häuser mitsamt den häuslichen Gerütschafteu, und genau so steht es<lb/>
auch mit der Nahrung der Bewohner; im Winter giebt es die sogenannten<lb/>
Minestrvni (aus Fisolen, Erbsen und Linsen), im Sommer die Minestre (Ge¬<lb/>
müsesuppe) mit Zuthaten. Fleisch wird nur von den Wohlhabenden genossen;<lb/>
im Oktober giebt es ausnahmsweise auch für die Armem Fische, Geflügel,<lb/>
Hasen, Tauben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_282" next="#ID_283"> Die Hauptabwechslung in diesem einfachen Leben und auch manchen Ver¬<lb/>
dienst bringt die Badezeit vom 15. Juli bis zum 15. September. Da kommen<lb/>
die Fremden vom Festland drüben, reiche Marcmmaner, vornehme Römer<lb/>
(z. B. alljährlich die Familie des Marchese Dorici) und Florentiner, und wer<lb/>
von ihnen des Schwimmens unkundig ist, kann es hier lernen: auf Giglio<lb/>
schwimmt alles. Wie herrlich, so ein Meerbad an den sandigen Ufern von<lb/>
Renella, von Porto, Carette, Caldcme, lauter Plätzen im Osten der Insel, die,<lb/>
da sich die Insel so ziemlich von Süd nach Nord zieht, durch ihre Höhe ge¬<lb/>
schützt, den ganzen Nachmittag im Schatten bleiben, ein Vorteil, den kein<lb/>
einziges Seebad auf der ganzen italienischen Westküste bietet! Und wie hübsch<lb/>
die Bootfahrtcn, die man um ein billiges von der Insel aus unternehmen<lb/>
kann! Da hört man dann wohl am Abend von den stillen Gestaden her die<lb/>
wohllautenden Gesänge der stimmbegabten Jnseljugend oder die schmetternden</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0092] Giglio Man spricht auf Giglio, was man bei dem gemischten Ursprung der Be¬ völkerung nicht erwarten sollte, ein reines Italienisch; aber dieses schöne Italienisch auch zu lesen und zu schreiben, das versteht heute nur noch die Minderzahl: 1537 Analphabeten giebt es gegenwärtig auf dieser Scholle, 791 Männer und 746 Frauen - - eine erschreckende Stichprobe aus der ita¬ lienischen Volksbildung! Und doch sind auf der Insel vier obere Elementar¬ schulen (Llkinöntcli-i supvrioi'i), je zwei in Castello und Porto, mit vier Lehr¬ kräften eingerichtet! Die religiöse Bildung beschränkt sich auf den Katechismus- nuterricht, den der Pfarrer vor der Vesper erteilt, und an dem außer deu schulpflichtigen Kindern auch Erwachsene teilnehmen, sowie auf die Erklärung des Evangeliums an Sonn- und Feiertagen, die vom Altar aus erfolgt. Die kirchlichen Gebräuche, Feste, Prozessionen usw, werden strengstens eingehalten, besonders wird der 15. September von dem Volk in Giglio gefeiert als das Fest seines Schutzpatrons, des heiligen Mamilicmus. Selten mag man irgendwo einen schönern Menschenschlag finden als hier auf Giglio: Modelle alter italienischer Meister, wohin man schaut! Mädchen und Frauen mit Madonnengcsichtern voll Milde und Anmut, im Wuchs schlank und geschmeidig, in den Bewegungen graziös; während die Männer ein freies, offnes Benehmen zur Schau tragen, und die meisten es sich wohl anmerken lassen, daß sie schon ferne Meere durchkreuzt haben (es sind im Durchschnitt immer hundert Gigliesen als Matrosen auf hochseefahrenden Schiffen ein¬ gestellt). Die Tracht beider Geschlechter uuterscheidet sich uicht von der der Landbewohner auf dem benachbarten toskanischen Festland, sie ist meist dunkel, einfach, billig. Einfach bis zur Ärmlichkeit find anch die rohgemauertcn, ziegel¬ bedachten Häuser mitsamt den häuslichen Gerütschafteu, und genau so steht es auch mit der Nahrung der Bewohner; im Winter giebt es die sogenannten Minestrvni (aus Fisolen, Erbsen und Linsen), im Sommer die Minestre (Ge¬ müsesuppe) mit Zuthaten. Fleisch wird nur von den Wohlhabenden genossen; im Oktober giebt es ausnahmsweise auch für die Armem Fische, Geflügel, Hasen, Tauben. Die Hauptabwechslung in diesem einfachen Leben und auch manchen Ver¬ dienst bringt die Badezeit vom 15. Juli bis zum 15. September. Da kommen die Fremden vom Festland drüben, reiche Marcmmaner, vornehme Römer (z. B. alljährlich die Familie des Marchese Dorici) und Florentiner, und wer von ihnen des Schwimmens unkundig ist, kann es hier lernen: auf Giglio schwimmt alles. Wie herrlich, so ein Meerbad an den sandigen Ufern von Renella, von Porto, Carette, Caldcme, lauter Plätzen im Osten der Insel, die, da sich die Insel so ziemlich von Süd nach Nord zieht, durch ihre Höhe ge¬ schützt, den ganzen Nachmittag im Schatten bleiben, ein Vorteil, den kein einziges Seebad auf der ganzen italienischen Westküste bietet! Und wie hübsch die Bootfahrtcn, die man um ein billiges von der Insel aus unternehmen kann! Da hört man dann wohl am Abend von den stillen Gestaden her die wohllautenden Gesänge der stimmbegabten Jnseljugend oder die schmetternden

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/92
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/92>, abgerufen am 05.06.2024.