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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Die Tcigosanficht Gustav Theodor Fechners

beseelende" Weltbilder vergangner Zeiten werden ausdrücklich als die Vorgänger
der Tagesansicht anerkannt, die sich in schroffen Gegensatz überhaupt nur zu einer
Geistesrichtung stellt, nämlich zu der Überhebung, die uns verbieten will, zu
glauben, wo für sie das Denken mit dein Wissen aufhört,

Fechner hat uns selbst erzählt, wie ihm die Anregung zu der letzten, er¬
schöpfenden Darstellung seiner "Tagesansicht" im Leipziger Rosenthal auf¬
keimte, als er von einer Bank, die wir in der Nähe der Stelle denken dürfen,
wo sich heute sein Denkmal erhebt, durch eine Lücke im Gebüsch auf die große
Wiese hinausschaute, um seine kranken Augen an ihrem Grün zu erquicken,
"Die Sonne schien hell und warm, die Blumen schauten bunt und lustig aus
dem Wiesengrün heraus, Schmetterlinge flatterten darüber und dazwischen hin
und her, Vögel zwitscherten über mir in den Zweigen, und von einem Morgen¬
konzert drangen die Klänge in mein Ohr," Aus diesen Eindrücken schweiften
seine Gedanken zu dem ab, was nach der gewöhnlichen Ansicht hinter ihnen
liegt, Unehe und Stille, keine Farbe, die du siehst, kein Ton, an dem du dich
erfreust, ist wirklich; die Sonne fängt erst hinter deinem Auge zu leuchten
an, draußen vor deinem Bewußtsein sind Farben und Töne nur blinde, stumme
Wellenzüge. Aber nie war ihm diese im Widerspruch mit der natürlichen
Ansicht der Dinge stehende "Nachtnnsicht" so unerbaulich und so unwahr¬
scheinlich erschienen, als in dieser Stunde. Nicht zum erstenmal regte sich in
dieser sonnigen Stunde der Widerspruch gegen die "hadesgleichc Welt" voll
Finsternis, über die einige zur Not noch einen Gott setzen, von dem sie aber
selbst nicht verstehn, wie er eine solche Welt schaffen konnte; jedenfalls kann
er nur fremd und fern über ihr schweben. Aber der Widerspruch regte
sich damals mit neuer Triebkraft, verstärkt durch die Forderung des Herzens,
auch für sich aus dem Blick in eine helle, sonnige Ferne die Befriedi¬
gung der Sehnsucht nach dem Sich einswissen mit einem Wesen zu gewinnen,
das die Leiden und Freude" aller seiner Geschöpfe zu den seinen hat:
"Zwei Herzen, die jetzt eins sind, möchten es immer sein; und fürchtest du,
daß der Tod die Bande, die jetzt eins an das andre knüpfen, zerbrechen wird,
so ist es die Furcht der Nachtansicht; der Tod in der Tagesansicht sprengt
vielmehr die Bande, die jetzt beide noch voneinander trennen." Fechner hatte
schon früher in einem Lied von wunderbarer Innigkeit dieser Zuversicht in
einer Auslegung des Spruchs im ersten Korintherbrief: "Es sind mancherlei
Kräfte, aber es ist ein Gott, der dn wirkt alles in allem," Worte geliehen:

Nun führt er aus, wie in dem angeblichen Fortschritt des menschlichen
Geistes, der doch nur einseitige Entwicklung ist, Gott, aus der entgötterten
Natur heraus und hoch über sie gehoben, angeblich um ihn vor seiner eignen


Die Tcigosanficht Gustav Theodor Fechners

beseelende» Weltbilder vergangner Zeiten werden ausdrücklich als die Vorgänger
der Tagesansicht anerkannt, die sich in schroffen Gegensatz überhaupt nur zu einer
Geistesrichtung stellt, nämlich zu der Überhebung, die uns verbieten will, zu
glauben, wo für sie das Denken mit dein Wissen aufhört,

Fechner hat uns selbst erzählt, wie ihm die Anregung zu der letzten, er¬
schöpfenden Darstellung seiner „Tagesansicht" im Leipziger Rosenthal auf¬
keimte, als er von einer Bank, die wir in der Nähe der Stelle denken dürfen,
wo sich heute sein Denkmal erhebt, durch eine Lücke im Gebüsch auf die große
Wiese hinausschaute, um seine kranken Augen an ihrem Grün zu erquicken,
„Die Sonne schien hell und warm, die Blumen schauten bunt und lustig aus
dem Wiesengrün heraus, Schmetterlinge flatterten darüber und dazwischen hin
und her, Vögel zwitscherten über mir in den Zweigen, und von einem Morgen¬
konzert drangen die Klänge in mein Ohr," Aus diesen Eindrücken schweiften
seine Gedanken zu dem ab, was nach der gewöhnlichen Ansicht hinter ihnen
liegt, Unehe und Stille, keine Farbe, die du siehst, kein Ton, an dem du dich
erfreust, ist wirklich; die Sonne fängt erst hinter deinem Auge zu leuchten
an, draußen vor deinem Bewußtsein sind Farben und Töne nur blinde, stumme
Wellenzüge. Aber nie war ihm diese im Widerspruch mit der natürlichen
Ansicht der Dinge stehende „Nachtnnsicht" so unerbaulich und so unwahr¬
scheinlich erschienen, als in dieser Stunde. Nicht zum erstenmal regte sich in
dieser sonnigen Stunde der Widerspruch gegen die „hadesgleichc Welt" voll
Finsternis, über die einige zur Not noch einen Gott setzen, von dem sie aber
selbst nicht verstehn, wie er eine solche Welt schaffen konnte; jedenfalls kann
er nur fremd und fern über ihr schweben. Aber der Widerspruch regte
sich damals mit neuer Triebkraft, verstärkt durch die Forderung des Herzens,
auch für sich aus dem Blick in eine helle, sonnige Ferne die Befriedi¬
gung der Sehnsucht nach dem Sich einswissen mit einem Wesen zu gewinnen,
das die Leiden und Freude» aller seiner Geschöpfe zu den seinen hat:
„Zwei Herzen, die jetzt eins sind, möchten es immer sein; und fürchtest du,
daß der Tod die Bande, die jetzt eins an das andre knüpfen, zerbrechen wird,
so ist es die Furcht der Nachtansicht; der Tod in der Tagesansicht sprengt
vielmehr die Bande, die jetzt beide noch voneinander trennen." Fechner hatte
schon früher in einem Lied von wunderbarer Innigkeit dieser Zuversicht in
einer Auslegung des Spruchs im ersten Korintherbrief: „Es sind mancherlei
Kräfte, aber es ist ein Gott, der dn wirkt alles in allem," Worte geliehen:

Nun führt er aus, wie in dem angeblichen Fortschritt des menschlichen
Geistes, der doch nur einseitige Entwicklung ist, Gott, aus der entgötterten
Natur heraus und hoch über sie gehoben, angeblich um ihn vor seiner eignen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/179>, abgerufen am 16.06.2024.