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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Paradies hinter dem Berge: aber du hast ja gar nichts mehr! Und bist noch
dazu so bleich! Spiele wieder mit mir! Sind die Rosenknospen, die ich dir gab,
denn noch nicht aufgebrochen?" Und zweitens: "Einen solchen Fürstenbund zweier
seltsamen Seelen gab es nicht oft. -- Dieselbe Verschmähung der geadelten Kinder-
possen des Lebens, dieselbe Anfeindung des Kleinlichen bei aller Schonung des
Kleinen, derselbe Ingrimm gegen den ehrlosen Eigennutz, dieselbe Lachlust in der
schöne" Irrenanstalt der Erde -- eine in zwei Körpern eingepfarrte Seele." Bei
aller Stärke steckt doch in Nietzsches Stil eine verhängnisvolle Schwäche, es ist zu
viel Bewußtheit und zu viel Ich darin; kann er das Wort "Du gehst zu Weibern,
vergiß die Peitsche nicht!" aus einem andern Grnnde geschrieben haben, als um
durch eine stilistische Überraschung einen Effekt zu machen? Wie fein nimmt sich
neben dieser Brutalität die Stelle aus, in der Jean Paul von der Projektion der
Empfindungen bei den Frauen spricht: "Das Gefühl ist bei ihr so lebendig, daß
sie in einem fort fühlt, wie sie sitzt und steht, wie das leichteste Band aufliegt,
welchen Zirkelbogen die gekrümmte Hutfeder beschreibt; ihre Seele fühlt uicht nur
den Tonus aller empfindlichen Teile des Körpers, sondern auch den der unempfind¬
lichen, der Haare und Kleider; ihre innere Welt ist nur ein Weltteil, ein Abdruck
der äußern." -- Hier ist Beobachtung, Pshchologie, Humor und Stil, bei Nietzsche
nur Stil. Und weil wir einmal bei den Weibern sind, hätte Riehl bei Nietzsche
solche Stellen gefunden wie die Philippika gegen die Verführer (Unsichtbare Loge,
Hempelsche Ausgabe S. 297), man müßte ihm einen Vorwurf daraus machen, daß
er sie nicht mitgeteilt hätte.

Kann man demnach feststellen, daß die Form für Nietzsche zuweilen zur Klippe
wird, "an der auch die gescheiten Schiffer gern scheitern," so ist ihm derselbe
Schiffbruch an einer viel verhängnisvollern Stelle noch einmal passiert, in seiner
Ethik. Denn auch die Ethik hat eine Form und einen Inhalt, und Riehl hat die
hier gemeinte Verirrung Nietzsches oft und scharf geung hervorgehoben; er hätte
sie nur uoch anders formulieren und zeigen können, daß "noch andre" die gefähr¬
liche Stelle längst voraus gekennzeichnet haben. nicht hebt hervor, daß Nietzsche
nur noch Sinn hat für "jede Art Größe," daß er am Willen mir noch die Form,
nämlich Stärke, Länge, Unzerbrcchlichkeit zu schätzen weiß, daß sich ihm dabei die
Wertschätzung des Inhalts, als da ist Wohlwollen oder Übelwollen, Recht, Billig¬
keit u. dergl., ganz in der Hand verflüchtigt, daß er darum die Vielzuvieleu, die
dem Raubtierinstiukt mit Wollust nachsingen, preist, anstatt wie andre Leute die
Vielzuweuigeu, die in der Bändigung und Regelung des Jchtriebs das Ziel der
Menschenentwicklung praktisch verfolgten, gebührend zu würdigen. Es ist ein Gesetz,
daß, um mit Novalis zu reden, das Ideal schöner Gemütsart keinen gefährlichern
Nebenbuhler hat als das Ideal der höchsten Kraft. Und "wie in der That, so
auch in der Meinung unterliegt das Schwächere," sagt der Ethiker Herbart, "weil
das Auge, von der Stärke geblendet, stumpf wird gegen das Unrecht, die Un-
billigkeit und das Übelwollen." Kürzlich stritt sich mein Fünfjähriger mit meiner
Vierjährigen beim Kaffeetrinken, ob es ein Butterbrot gebe so groß wie der Himmel.
Auf ihren berechtigten Einwand, daß das ja kein Mensch essen könnte, flüchtete er
wie so oft hinter die unanfechtbare Behauptung, daß doch wenigstens der liebe Gott
ein solches haben müsse, und dazu -- nach einem neuen Einwand -- auch einen
Schrank, der noch etwas größer sei.

Man kennt aus den Mythen der Völker das Bestreben, alle Arten von Un¬
geheuerlichkeiten an Größe und Kraft zusammenzutragen; der Fenrirwolf der nor¬
dischen Mythologie berührt mit seinem Oberkiefer den Himmel, mit seinem Unter¬
kiefer die Erde. Der Philosoph Nietzsche steht also mit'seinem Übermenschen nicht
allein, im Grunde ist der Überwolf wie das Überbntterbrot desselben Geschlechts;


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Paradies hinter dem Berge: aber du hast ja gar nichts mehr! Und bist noch
dazu so bleich! Spiele wieder mit mir! Sind die Rosenknospen, die ich dir gab,
denn noch nicht aufgebrochen?" Und zweitens: „Einen solchen Fürstenbund zweier
seltsamen Seelen gab es nicht oft. — Dieselbe Verschmähung der geadelten Kinder-
possen des Lebens, dieselbe Anfeindung des Kleinlichen bei aller Schonung des
Kleinen, derselbe Ingrimm gegen den ehrlosen Eigennutz, dieselbe Lachlust in der
schöne» Irrenanstalt der Erde — eine in zwei Körpern eingepfarrte Seele." Bei
aller Stärke steckt doch in Nietzsches Stil eine verhängnisvolle Schwäche, es ist zu
viel Bewußtheit und zu viel Ich darin; kann er das Wort „Du gehst zu Weibern,
vergiß die Peitsche nicht!" aus einem andern Grnnde geschrieben haben, als um
durch eine stilistische Überraschung einen Effekt zu machen? Wie fein nimmt sich
neben dieser Brutalität die Stelle aus, in der Jean Paul von der Projektion der
Empfindungen bei den Frauen spricht: „Das Gefühl ist bei ihr so lebendig, daß
sie in einem fort fühlt, wie sie sitzt und steht, wie das leichteste Band aufliegt,
welchen Zirkelbogen die gekrümmte Hutfeder beschreibt; ihre Seele fühlt uicht nur
den Tonus aller empfindlichen Teile des Körpers, sondern auch den der unempfind¬
lichen, der Haare und Kleider; ihre innere Welt ist nur ein Weltteil, ein Abdruck
der äußern." — Hier ist Beobachtung, Pshchologie, Humor und Stil, bei Nietzsche
nur Stil. Und weil wir einmal bei den Weibern sind, hätte Riehl bei Nietzsche
solche Stellen gefunden wie die Philippika gegen die Verführer (Unsichtbare Loge,
Hempelsche Ausgabe S. 297), man müßte ihm einen Vorwurf daraus machen, daß
er sie nicht mitgeteilt hätte.

Kann man demnach feststellen, daß die Form für Nietzsche zuweilen zur Klippe
wird, „an der auch die gescheiten Schiffer gern scheitern," so ist ihm derselbe
Schiffbruch an einer viel verhängnisvollern Stelle noch einmal passiert, in seiner
Ethik. Denn auch die Ethik hat eine Form und einen Inhalt, und Riehl hat die
hier gemeinte Verirrung Nietzsches oft und scharf geung hervorgehoben; er hätte
sie nur uoch anders formulieren und zeigen können, daß „noch andre" die gefähr¬
liche Stelle längst voraus gekennzeichnet haben. nicht hebt hervor, daß Nietzsche
nur noch Sinn hat für „jede Art Größe," daß er am Willen mir noch die Form,
nämlich Stärke, Länge, Unzerbrcchlichkeit zu schätzen weiß, daß sich ihm dabei die
Wertschätzung des Inhalts, als da ist Wohlwollen oder Übelwollen, Recht, Billig¬
keit u. dergl., ganz in der Hand verflüchtigt, daß er darum die Vielzuvieleu, die
dem Raubtierinstiukt mit Wollust nachsingen, preist, anstatt wie andre Leute die
Vielzuweuigeu, die in der Bändigung und Regelung des Jchtriebs das Ziel der
Menschenentwicklung praktisch verfolgten, gebührend zu würdigen. Es ist ein Gesetz,
daß, um mit Novalis zu reden, das Ideal schöner Gemütsart keinen gefährlichern
Nebenbuhler hat als das Ideal der höchsten Kraft. Und „wie in der That, so
auch in der Meinung unterliegt das Schwächere," sagt der Ethiker Herbart, „weil
das Auge, von der Stärke geblendet, stumpf wird gegen das Unrecht, die Un-
billigkeit und das Übelwollen." Kürzlich stritt sich mein Fünfjähriger mit meiner
Vierjährigen beim Kaffeetrinken, ob es ein Butterbrot gebe so groß wie der Himmel.
Auf ihren berechtigten Einwand, daß das ja kein Mensch essen könnte, flüchtete er
wie so oft hinter die unanfechtbare Behauptung, daß doch wenigstens der liebe Gott
ein solches haben müsse, und dazu — nach einem neuen Einwand — auch einen
Schrank, der noch etwas größer sei.

Man kennt aus den Mythen der Völker das Bestreben, alle Arten von Un¬
geheuerlichkeiten an Größe und Kraft zusammenzutragen; der Fenrirwolf der nor¬
dischen Mythologie berührt mit seinem Oberkiefer den Himmel, mit seinem Unter¬
kiefer die Erde. Der Philosoph Nietzsche steht also mit'seinem Übermenschen nicht
allein, im Grunde ist der Überwolf wie das Überbntterbrot desselben Geschlechts;


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[0050] Maßgebliches und Unmaßgebliches Paradies hinter dem Berge: aber du hast ja gar nichts mehr! Und bist noch dazu so bleich! Spiele wieder mit mir! Sind die Rosenknospen, die ich dir gab, denn noch nicht aufgebrochen?" Und zweitens: „Einen solchen Fürstenbund zweier seltsamen Seelen gab es nicht oft. — Dieselbe Verschmähung der geadelten Kinder- possen des Lebens, dieselbe Anfeindung des Kleinlichen bei aller Schonung des Kleinen, derselbe Ingrimm gegen den ehrlosen Eigennutz, dieselbe Lachlust in der schöne» Irrenanstalt der Erde — eine in zwei Körpern eingepfarrte Seele." Bei aller Stärke steckt doch in Nietzsches Stil eine verhängnisvolle Schwäche, es ist zu viel Bewußtheit und zu viel Ich darin; kann er das Wort „Du gehst zu Weibern, vergiß die Peitsche nicht!" aus einem andern Grnnde geschrieben haben, als um durch eine stilistische Überraschung einen Effekt zu machen? Wie fein nimmt sich neben dieser Brutalität die Stelle aus, in der Jean Paul von der Projektion der Empfindungen bei den Frauen spricht: „Das Gefühl ist bei ihr so lebendig, daß sie in einem fort fühlt, wie sie sitzt und steht, wie das leichteste Band aufliegt, welchen Zirkelbogen die gekrümmte Hutfeder beschreibt; ihre Seele fühlt uicht nur den Tonus aller empfindlichen Teile des Körpers, sondern auch den der unempfind¬ lichen, der Haare und Kleider; ihre innere Welt ist nur ein Weltteil, ein Abdruck der äußern." — Hier ist Beobachtung, Pshchologie, Humor und Stil, bei Nietzsche nur Stil. Und weil wir einmal bei den Weibern sind, hätte Riehl bei Nietzsche solche Stellen gefunden wie die Philippika gegen die Verführer (Unsichtbare Loge, Hempelsche Ausgabe S. 297), man müßte ihm einen Vorwurf daraus machen, daß er sie nicht mitgeteilt hätte. Kann man demnach feststellen, daß die Form für Nietzsche zuweilen zur Klippe wird, „an der auch die gescheiten Schiffer gern scheitern," so ist ihm derselbe Schiffbruch an einer viel verhängnisvollern Stelle noch einmal passiert, in seiner Ethik. Denn auch die Ethik hat eine Form und einen Inhalt, und Riehl hat die hier gemeinte Verirrung Nietzsches oft und scharf geung hervorgehoben; er hätte sie nur uoch anders formulieren und zeigen können, daß „noch andre" die gefähr¬ liche Stelle längst voraus gekennzeichnet haben. nicht hebt hervor, daß Nietzsche nur noch Sinn hat für „jede Art Größe," daß er am Willen mir noch die Form, nämlich Stärke, Länge, Unzerbrcchlichkeit zu schätzen weiß, daß sich ihm dabei die Wertschätzung des Inhalts, als da ist Wohlwollen oder Übelwollen, Recht, Billig¬ keit u. dergl., ganz in der Hand verflüchtigt, daß er darum die Vielzuvieleu, die dem Raubtierinstiukt mit Wollust nachsingen, preist, anstatt wie andre Leute die Vielzuweuigeu, die in der Bändigung und Regelung des Jchtriebs das Ziel der Menschenentwicklung praktisch verfolgten, gebührend zu würdigen. Es ist ein Gesetz, daß, um mit Novalis zu reden, das Ideal schöner Gemütsart keinen gefährlichern Nebenbuhler hat als das Ideal der höchsten Kraft. Und „wie in der That, so auch in der Meinung unterliegt das Schwächere," sagt der Ethiker Herbart, „weil das Auge, von der Stärke geblendet, stumpf wird gegen das Unrecht, die Un- billigkeit und das Übelwollen." Kürzlich stritt sich mein Fünfjähriger mit meiner Vierjährigen beim Kaffeetrinken, ob es ein Butterbrot gebe so groß wie der Himmel. Auf ihren berechtigten Einwand, daß das ja kein Mensch essen könnte, flüchtete er wie so oft hinter die unanfechtbare Behauptung, daß doch wenigstens der liebe Gott ein solches haben müsse, und dazu — nach einem neuen Einwand — auch einen Schrank, der noch etwas größer sei. Man kennt aus den Mythen der Völker das Bestreben, alle Arten von Un¬ geheuerlichkeiten an Größe und Kraft zusammenzutragen; der Fenrirwolf der nor¬ dischen Mythologie berührt mit seinem Oberkiefer den Himmel, mit seinem Unter¬ kiefer die Erde. Der Philosoph Nietzsche steht also mit'seinem Übermenschen nicht allein, im Grunde ist der Überwolf wie das Überbntterbrot desselben Geschlechts;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/50>, abgerufen am 25.05.2024.