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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Die Neukolonisation Siidanierikas

scheiiden Verderbtheit und Cliquenwirtschaft, der stumpfe" Gleichgiltigkeit der
Massen und der leichtfertigen Oberflächlichkeit der höhern Stände vermag der
redliche Wille und die Kraft eines einzelnen viel zu wenig. Unter solchen
Umstände" ist es nicht wunderbar, wenn der Einfluß der fremden Staaten,
die am ehesten als Muster dienen könnten, auf die politische Entwicklung der
lateinischen Republiken Siidanierikas nur gering geblieben ist. Am ehesten
verspürt man einen Hauch modernen Geistes in Chile, das mit der Einführung
der allgemeinen Wehrpflicht allen andern Staaten vorangegangen ist.

Alles in allem sehen wir hier so recht, wie Neuländer mit allen "Errungen¬
schaften der Neuzeit" beglückt werden können, ohne daß deshalb etwas andres
als die Talmikultur entsteht, die von ihren Trägern als Zivilisation bezeichnet
wird. Da erstrahlen denn die Flammen der elektrischen Beleuchtung in den
Straßen einer Stadt, dere" Grund und Boden infolge maiigelnder Abzugs-
kanäle Fieber ausbrütet, und im Innern der Wohnungen blitzen Diamanten
von Hals und Armen der Sennoras und knistern echte Pariser Roben, während
das Brot ans dein Tische fehlt, und die Unsauberkeit ans allen Ecken hervor¬
sieht. Das Gold des Europäers lockt den halbwilden Gaucho, in dessen Adern
sich Jndiauerblut mit spanischen mengt, aus dem zügellosen Hirtenleben in den
weiten Pampas i" die geordneten Verhältnisse einer Estanzia, deren Besitzer
am fernen Thcmsestand sitzen; es verlockt den Indianer in den Kordilleren,
als Tagelöhner in den Bergwerken zu froren, und den braunen Jäger und
Fischer am Amazonas, seine Gesundheit in den Kmitschukwäldern zu Markte
zu trage". Aber die Arbeit aller dieser Menschen gleicht nur den ersten
sonnigen Tage" im Frühjahr, die Wohl auch schon Keime aus der erstarrten
Erde zu locken vermöge"; erst der wärmern Glut der steigende" Sonne ge¬
lingt es, die Halme empor zu treiben und die Ähren mit dem Körnersegen
zu füllen. So brechen die Tage des wirklichen Gedeihens für ein Land erst
an, wenn die richtige groß angelegte Siedlnngskolonisatio" im Gegensatz zur
kapitalistischen beginnt. So groß zum Beispiel die in Südamerika festgelegte"
englischen Kapitalien sind, so unbedeutend ist vcrlMnismäßig der Einfluß
Großbritanniens ans eine wirkliche Kolonisation dieser Länder, soweit sich eine
solche nicht lediglich erstreckt auf Schienenwege und Bergwerke, Betrieb von
Plantagen, Ackerbau- und Viehznchtlntifundicn, Küsten- und Flußschiffahrt,
Beteiligung am Bankwesen, Errichtung und Leitung von industriellen und
technischen Anlagen,

Wenn auch, wie v>ir gesehen habe", das politische Bild der verschiednen
Republiken in Rücksicht ans die thatsächliche Regierungsform ziemlich einheitlich
ist, so kann von einer politischen Einigkeit dieser Staaten untereinander um
so weniger die Rede sein. Der gemeinsame Haß gegen die Krone Spanien
und ihre Vizetonige und Statthalter einte einst alle spanischen Kolonien in
Südamerika im Kampf gegen den gemeinsamen Bedrücker, Als dieser ver¬
trieben war, galt es Ordnung im eignen Haushalt zu schaffen. Man fand
noch keine Zeit, die einzelnen Staaten gegeneinander abzugrenzen, die dnrch


Die Neukolonisation Siidanierikas

scheiiden Verderbtheit und Cliquenwirtschaft, der stumpfe» Gleichgiltigkeit der
Massen und der leichtfertigen Oberflächlichkeit der höhern Stände vermag der
redliche Wille und die Kraft eines einzelnen viel zu wenig. Unter solchen
Umstände» ist es nicht wunderbar, wenn der Einfluß der fremden Staaten,
die am ehesten als Muster dienen könnten, auf die politische Entwicklung der
lateinischen Republiken Siidanierikas nur gering geblieben ist. Am ehesten
verspürt man einen Hauch modernen Geistes in Chile, das mit der Einführung
der allgemeinen Wehrpflicht allen andern Staaten vorangegangen ist.

Alles in allem sehen wir hier so recht, wie Neuländer mit allen „Errungen¬
schaften der Neuzeit" beglückt werden können, ohne daß deshalb etwas andres
als die Talmikultur entsteht, die von ihren Trägern als Zivilisation bezeichnet
wird. Da erstrahlen denn die Flammen der elektrischen Beleuchtung in den
Straßen einer Stadt, dere» Grund und Boden infolge maiigelnder Abzugs-
kanäle Fieber ausbrütet, und im Innern der Wohnungen blitzen Diamanten
von Hals und Armen der Sennoras und knistern echte Pariser Roben, während
das Brot ans dein Tische fehlt, und die Unsauberkeit ans allen Ecken hervor¬
sieht. Das Gold des Europäers lockt den halbwilden Gaucho, in dessen Adern
sich Jndiauerblut mit spanischen mengt, aus dem zügellosen Hirtenleben in den
weiten Pampas i» die geordneten Verhältnisse einer Estanzia, deren Besitzer
am fernen Thcmsestand sitzen; es verlockt den Indianer in den Kordilleren,
als Tagelöhner in den Bergwerken zu froren, und den braunen Jäger und
Fischer am Amazonas, seine Gesundheit in den Kmitschukwäldern zu Markte
zu trage». Aber die Arbeit aller dieser Menschen gleicht nur den ersten
sonnigen Tage» im Frühjahr, die Wohl auch schon Keime aus der erstarrten
Erde zu locken vermöge»; erst der wärmern Glut der steigende» Sonne ge¬
lingt es, die Halme empor zu treiben und die Ähren mit dem Körnersegen
zu füllen. So brechen die Tage des wirklichen Gedeihens für ein Land erst
an, wenn die richtige groß angelegte Siedlnngskolonisatio» im Gegensatz zur
kapitalistischen beginnt. So groß zum Beispiel die in Südamerika festgelegte»
englischen Kapitalien sind, so unbedeutend ist vcrlMnismäßig der Einfluß
Großbritanniens ans eine wirkliche Kolonisation dieser Länder, soweit sich eine
solche nicht lediglich erstreckt auf Schienenwege und Bergwerke, Betrieb von
Plantagen, Ackerbau- und Viehznchtlntifundicn, Küsten- und Flußschiffahrt,
Beteiligung am Bankwesen, Errichtung und Leitung von industriellen und
technischen Anlagen,

Wenn auch, wie v>ir gesehen habe», das politische Bild der verschiednen
Republiken in Rücksicht ans die thatsächliche Regierungsform ziemlich einheitlich
ist, so kann von einer politischen Einigkeit dieser Staaten untereinander um
so weniger die Rede sein. Der gemeinsame Haß gegen die Krone Spanien
und ihre Vizetonige und Statthalter einte einst alle spanischen Kolonien in
Südamerika im Kampf gegen den gemeinsamen Bedrücker, Als dieser ver¬
trieben war, galt es Ordnung im eignen Haushalt zu schaffen. Man fand
noch keine Zeit, die einzelnen Staaten gegeneinander abzugrenzen, die dnrch


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[0107] Die Neukolonisation Siidanierikas scheiiden Verderbtheit und Cliquenwirtschaft, der stumpfe» Gleichgiltigkeit der Massen und der leichtfertigen Oberflächlichkeit der höhern Stände vermag der redliche Wille und die Kraft eines einzelnen viel zu wenig. Unter solchen Umstände» ist es nicht wunderbar, wenn der Einfluß der fremden Staaten, die am ehesten als Muster dienen könnten, auf die politische Entwicklung der lateinischen Republiken Siidanierikas nur gering geblieben ist. Am ehesten verspürt man einen Hauch modernen Geistes in Chile, das mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht allen andern Staaten vorangegangen ist. Alles in allem sehen wir hier so recht, wie Neuländer mit allen „Errungen¬ schaften der Neuzeit" beglückt werden können, ohne daß deshalb etwas andres als die Talmikultur entsteht, die von ihren Trägern als Zivilisation bezeichnet wird. Da erstrahlen denn die Flammen der elektrischen Beleuchtung in den Straßen einer Stadt, dere» Grund und Boden infolge maiigelnder Abzugs- kanäle Fieber ausbrütet, und im Innern der Wohnungen blitzen Diamanten von Hals und Armen der Sennoras und knistern echte Pariser Roben, während das Brot ans dein Tische fehlt, und die Unsauberkeit ans allen Ecken hervor¬ sieht. Das Gold des Europäers lockt den halbwilden Gaucho, in dessen Adern sich Jndiauerblut mit spanischen mengt, aus dem zügellosen Hirtenleben in den weiten Pampas i» die geordneten Verhältnisse einer Estanzia, deren Besitzer am fernen Thcmsestand sitzen; es verlockt den Indianer in den Kordilleren, als Tagelöhner in den Bergwerken zu froren, und den braunen Jäger und Fischer am Amazonas, seine Gesundheit in den Kmitschukwäldern zu Markte zu trage». Aber die Arbeit aller dieser Menschen gleicht nur den ersten sonnigen Tage» im Frühjahr, die Wohl auch schon Keime aus der erstarrten Erde zu locken vermöge»; erst der wärmern Glut der steigende» Sonne ge¬ lingt es, die Halme empor zu treiben und die Ähren mit dem Körnersegen zu füllen. So brechen die Tage des wirklichen Gedeihens für ein Land erst an, wenn die richtige groß angelegte Siedlnngskolonisatio» im Gegensatz zur kapitalistischen beginnt. So groß zum Beispiel die in Südamerika festgelegte» englischen Kapitalien sind, so unbedeutend ist vcrlMnismäßig der Einfluß Großbritanniens ans eine wirkliche Kolonisation dieser Länder, soweit sich eine solche nicht lediglich erstreckt auf Schienenwege und Bergwerke, Betrieb von Plantagen, Ackerbau- und Viehznchtlntifundicn, Küsten- und Flußschiffahrt, Beteiligung am Bankwesen, Errichtung und Leitung von industriellen und technischen Anlagen, Wenn auch, wie v>ir gesehen habe», das politische Bild der verschiednen Republiken in Rücksicht ans die thatsächliche Regierungsform ziemlich einheitlich ist, so kann von einer politischen Einigkeit dieser Staaten untereinander um so weniger die Rede sein. Der gemeinsame Haß gegen die Krone Spanien und ihre Vizetonige und Statthalter einte einst alle spanischen Kolonien in Südamerika im Kampf gegen den gemeinsamen Bedrücker, Als dieser ver¬ trieben war, galt es Ordnung im eignen Haushalt zu schaffen. Man fand noch keine Zeit, die einzelnen Staaten gegeneinander abzugrenzen, die dnrch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/107>, abgerufen am 28.05.2024.