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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Umist

Gesinnung, die der veraltete Geschichtsunterricht hat wecken wollen , vielleicht
doch noch etwas mehr wert ist, als die junge "Sozialpädagogik" sich träumen
läßt -- aber wann hätte es jemals gefehlt an Krittlern und Nörglern! Sie
mögen hier die Liste von musikalischen Werken lesen, die in den Konzerten
für Volksschüler "zu Gehör gebracht" worden sind, die Ouvertüren, Sym¬
phonien, Walzer, Gavotte" und Largos für Violinsolo, Harfe und Orchester,
und sie werden höchstens seufzen: Hätten wirs doch als Kinder auch so gut
gehabt!

Was die Hamburger Pädagoge" zunächst für ihren Kreis anstreben, das
beseelt und treibt einen unsrer bedeutendsten jüngern Bücherverleger mit ge¬
radezu hinreißender Freudigkeit zu immer neuen Veröffentlichungen, "Durch
Kunst zum Leben," Band 6, von Lothar von Knnowsti (Leipzig, Eugen
Diederichs) hat den etwas gespreizten Untertitel "Gesetz, Freiheit und Sitt¬
lichkeit des künstlerischen Schaffens," der nicht ahnen läßt, wie viel natürliche
und zugleich fein eingekleidete Wahrheit dieses schone Buch enthält. Der Ver¬
fasser scheint Künstler zu sein und schreibt zunächst für seinesgleichen, aber
ebensogut für alle, denen die Kunst überhaupt am Herzen liegt. Er ist modern
in seinen Anschauungen, aber keineswegs in der Vorliebe für die Übertreibungen
irgend einer Richtung, z. B. des Pleinairismus oder der photographierenden
Angenblicksdarstellung oder des skizzenhaften. Er findet es unrecht, den eigent¬
lichen Skizzisten der Gegenwart, Manet, zu einem Genie ersten Ranges zu er¬
heben, weil er das Porträt eines Mannes siebenmal hintereinander malt in
dem Wahne, daß ihm die Geschwindigkeit im Festhalten einer Impression allein
helfen könne, das Wesen eines Menschen wahr und tief darzustellen, während
Lionardo in vier Jahren noch nicht glaubte die Vollendung seiner Gioeonda
erreicht zu haben. Dieser eine Vergleich stellt uns mitten hinein in Knnowskis
Diskussion. Sein Thema ist, kurz ausgedrückt: der Künstler soll nicht bloß
aus der Natur lernen, sondern auch aus der Kunst der Vergangenheit, zu der
er selbst offenbar ein tiefes inneres Verhältnis hat, und nun zeigt er an Bei¬
spielen aus der Geschichte und aus der Gegenwart, wie diese beiden Gebiete
einander berühren. Die frühern Zeiten haben Typen der menschlichen Gestalt
geschaffen, die uns einem einzelnen Naturbilde gegenüber oft gleichmäßig vor¬
kommen, aber wie bestimmt ist doch in der griechischen Plastik der Unterschied
zwischen Bildungen derselben Art, göttlichen Jünglingen oder Frauen, zwischen
einem Hermes und einem Apollo! So etwas auszudrücken ist eine höhere
Kunst, und es hat dazu eines längern Wegs bedurft, als wenn jemand heute
eine" Negerkopf und ein Gigerlgesicht nach dem Leben skizziert und dadurch
seine scharfe Individualisierung zu bekunden meint. Wer nicht in die be¬
harrenden, erblichen Eigenschaften der Körper durch das Studium von Ägyptern,
Griechen und Renaissancemenschen eindringen will, sondern mit Hilfe des ersten
besten Modells erreichen zu können meint, was Nur der Arbeit vieler Ge¬
schlechter verdanken, der handelt wie der Wilde, der aus dein ersten besten
Holzklotz den ersten besten Menschen schmilzt. Alle Barbarei in der Kunst


Grenzboten III 1901 17
Umist

Gesinnung, die der veraltete Geschichtsunterricht hat wecken wollen , vielleicht
doch noch etwas mehr wert ist, als die junge „Sozialpädagogik" sich träumen
läßt — aber wann hätte es jemals gefehlt an Krittlern und Nörglern! Sie
mögen hier die Liste von musikalischen Werken lesen, die in den Konzerten
für Volksschüler „zu Gehör gebracht" worden sind, die Ouvertüren, Sym¬
phonien, Walzer, Gavotte» und Largos für Violinsolo, Harfe und Orchester,
und sie werden höchstens seufzen: Hätten wirs doch als Kinder auch so gut
gehabt!

Was die Hamburger Pädagoge» zunächst für ihren Kreis anstreben, das
beseelt und treibt einen unsrer bedeutendsten jüngern Bücherverleger mit ge¬
radezu hinreißender Freudigkeit zu immer neuen Veröffentlichungen, „Durch
Kunst zum Leben," Band 6, von Lothar von Knnowsti (Leipzig, Eugen
Diederichs) hat den etwas gespreizten Untertitel „Gesetz, Freiheit und Sitt¬
lichkeit des künstlerischen Schaffens," der nicht ahnen läßt, wie viel natürliche
und zugleich fein eingekleidete Wahrheit dieses schone Buch enthält. Der Ver¬
fasser scheint Künstler zu sein und schreibt zunächst für seinesgleichen, aber
ebensogut für alle, denen die Kunst überhaupt am Herzen liegt. Er ist modern
in seinen Anschauungen, aber keineswegs in der Vorliebe für die Übertreibungen
irgend einer Richtung, z. B. des Pleinairismus oder der photographierenden
Angenblicksdarstellung oder des skizzenhaften. Er findet es unrecht, den eigent¬
lichen Skizzisten der Gegenwart, Manet, zu einem Genie ersten Ranges zu er¬
heben, weil er das Porträt eines Mannes siebenmal hintereinander malt in
dem Wahne, daß ihm die Geschwindigkeit im Festhalten einer Impression allein
helfen könne, das Wesen eines Menschen wahr und tief darzustellen, während
Lionardo in vier Jahren noch nicht glaubte die Vollendung seiner Gioeonda
erreicht zu haben. Dieser eine Vergleich stellt uns mitten hinein in Knnowskis
Diskussion. Sein Thema ist, kurz ausgedrückt: der Künstler soll nicht bloß
aus der Natur lernen, sondern auch aus der Kunst der Vergangenheit, zu der
er selbst offenbar ein tiefes inneres Verhältnis hat, und nun zeigt er an Bei¬
spielen aus der Geschichte und aus der Gegenwart, wie diese beiden Gebiete
einander berühren. Die frühern Zeiten haben Typen der menschlichen Gestalt
geschaffen, die uns einem einzelnen Naturbilde gegenüber oft gleichmäßig vor¬
kommen, aber wie bestimmt ist doch in der griechischen Plastik der Unterschied
zwischen Bildungen derselben Art, göttlichen Jünglingen oder Frauen, zwischen
einem Hermes und einem Apollo! So etwas auszudrücken ist eine höhere
Kunst, und es hat dazu eines längern Wegs bedurft, als wenn jemand heute
eine» Negerkopf und ein Gigerlgesicht nach dem Leben skizziert und dadurch
seine scharfe Individualisierung zu bekunden meint. Wer nicht in die be¬
harrenden, erblichen Eigenschaften der Körper durch das Studium von Ägyptern,
Griechen und Renaissancemenschen eindringen will, sondern mit Hilfe des ersten
besten Modells erreichen zu können meint, was Nur der Arbeit vieler Ge¬
schlechter verdanken, der handelt wie der Wilde, der aus dein ersten besten
Holzklotz den ersten besten Menschen schmilzt. Alle Barbarei in der Kunst


Grenzboten III 1901 17
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[0137] Umist Gesinnung, die der veraltete Geschichtsunterricht hat wecken wollen , vielleicht doch noch etwas mehr wert ist, als die junge „Sozialpädagogik" sich träumen läßt — aber wann hätte es jemals gefehlt an Krittlern und Nörglern! Sie mögen hier die Liste von musikalischen Werken lesen, die in den Konzerten für Volksschüler „zu Gehör gebracht" worden sind, die Ouvertüren, Sym¬ phonien, Walzer, Gavotte» und Largos für Violinsolo, Harfe und Orchester, und sie werden höchstens seufzen: Hätten wirs doch als Kinder auch so gut gehabt! Was die Hamburger Pädagoge» zunächst für ihren Kreis anstreben, das beseelt und treibt einen unsrer bedeutendsten jüngern Bücherverleger mit ge¬ radezu hinreißender Freudigkeit zu immer neuen Veröffentlichungen, „Durch Kunst zum Leben," Band 6, von Lothar von Knnowsti (Leipzig, Eugen Diederichs) hat den etwas gespreizten Untertitel „Gesetz, Freiheit und Sitt¬ lichkeit des künstlerischen Schaffens," der nicht ahnen läßt, wie viel natürliche und zugleich fein eingekleidete Wahrheit dieses schone Buch enthält. Der Ver¬ fasser scheint Künstler zu sein und schreibt zunächst für seinesgleichen, aber ebensogut für alle, denen die Kunst überhaupt am Herzen liegt. Er ist modern in seinen Anschauungen, aber keineswegs in der Vorliebe für die Übertreibungen irgend einer Richtung, z. B. des Pleinairismus oder der photographierenden Angenblicksdarstellung oder des skizzenhaften. Er findet es unrecht, den eigent¬ lichen Skizzisten der Gegenwart, Manet, zu einem Genie ersten Ranges zu er¬ heben, weil er das Porträt eines Mannes siebenmal hintereinander malt in dem Wahne, daß ihm die Geschwindigkeit im Festhalten einer Impression allein helfen könne, das Wesen eines Menschen wahr und tief darzustellen, während Lionardo in vier Jahren noch nicht glaubte die Vollendung seiner Gioeonda erreicht zu haben. Dieser eine Vergleich stellt uns mitten hinein in Knnowskis Diskussion. Sein Thema ist, kurz ausgedrückt: der Künstler soll nicht bloß aus der Natur lernen, sondern auch aus der Kunst der Vergangenheit, zu der er selbst offenbar ein tiefes inneres Verhältnis hat, und nun zeigt er an Bei¬ spielen aus der Geschichte und aus der Gegenwart, wie diese beiden Gebiete einander berühren. Die frühern Zeiten haben Typen der menschlichen Gestalt geschaffen, die uns einem einzelnen Naturbilde gegenüber oft gleichmäßig vor¬ kommen, aber wie bestimmt ist doch in der griechischen Plastik der Unterschied zwischen Bildungen derselben Art, göttlichen Jünglingen oder Frauen, zwischen einem Hermes und einem Apollo! So etwas auszudrücken ist eine höhere Kunst, und es hat dazu eines längern Wegs bedurft, als wenn jemand heute eine» Negerkopf und ein Gigerlgesicht nach dem Leben skizziert und dadurch seine scharfe Individualisierung zu bekunden meint. Wer nicht in die be¬ harrenden, erblichen Eigenschaften der Körper durch das Studium von Ägyptern, Griechen und Renaissancemenschen eindringen will, sondern mit Hilfe des ersten besten Modells erreichen zu können meint, was Nur der Arbeit vieler Ge¬ schlechter verdanken, der handelt wie der Wilde, der aus dein ersten besten Holzklotz den ersten besten Menschen schmilzt. Alle Barbarei in der Kunst Grenzboten III 1901 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/137>, abgerufen am 28.05.2024.