Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.Lyrik getroffen ist. Auch "Mein Jesus" ist gut, ein sozialer Christus unter Fabrik¬ Von allen diesen, die wir diesesmal betrachte!?, hat der Österreicher Lyrik getroffen ist. Auch „Mein Jesus" ist gut, ein sozialer Christus unter Fabrik¬ Von allen diesen, die wir diesesmal betrachte!?, hat der Österreicher <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0188" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235360"/> <fw type="header" place="top"> Lyrik</fw><lb/> <p xml:id="ID_794" prev="#ID_793"> getroffen ist. Auch „Mein Jesus" ist gut, ein sozialer Christus unter Fabrik¬<lb/> mädchen, in deu freien Maßen der Goethischen Jugeudgedichte. — Otto<lb/> Frommels „Flutwellen" (ans demselben Verlage) sind einfacher, natürlicher<lb/> und für die meisten vielleicht auch anziehender, obwohl Viervrdt der bessere<lb/> Dichter sein mag. Aber wozu immer die gespreizten Titel, die gar keine<lb/> Deutung auf den Inhalt und die Vortragsweise zulassen! Wenn jeder so weiter<lb/> macht, sind alle diese schönen Namen schnell verbraucht, und schließlich sagt doch<lb/> das einfache „Gedichte" oder „Neue Gedichte," was hier als Untertitel zuge¬<lb/> fügt ist, noch gerade genug, wie einst zu Schillers und Goethes Zeiten. Der<lb/> Dichter dieser „Flutwellen" ist ein gebildeter, mit Mythologie und Geschichte<lb/> vertrauter und auch von neuerer Kunst angeregter Mann, der aber hauptsächlich<lb/> die unmittelbar gegebnen Verhältnisse ans sich wirken läßt: Vater und Mutter,<lb/> das eigne Haus, Erinnerungen an die Kindheit und an eiuen ländliche» Ge¬<lb/> burtsort von der Stadt aus, ,,wo die Seele keinen Sonntag hat." „Abend¬<lb/> stunde" (im Württemberger Land) ist ein schlichter, reiner Natnrklang, ,,Sommer¬<lb/> morgen" geradezu reizend. Manchmal kommen auch schwermütige und gruselige<lb/> Sachen vor, die bei weitem nicht so natürlich sind, und ein durch die Herbst-<lb/> nacht rufender Häher ist jedenfalls ein nicht gewöhnliches Bcgegnis. Viel<lb/> schönes enthalten fünf Weihnachtslieder. Aber '„Gottfried Kellers Vision" ist<lb/> ein gereimter Ghmnasiastenaufsatz, der in eine solche Sammlung nicht mehr<lb/> hätte aufgenommen werden sollen. — „Herbstblüten, Lieder eines schlichten<lb/> Mannes" von Wilhelm Heinrich Luckau (Magdeburg, Creutz) haben einen<lb/> ein der Schwelle des Alters stehenden Magdeburger Böttchermeister zum Ver¬<lb/> fasser, der nur die Bildung einer Dorfschule genossen hat. In wohlthuenden<lb/> Gegensatz zu manchen ähnlichen Produkten sind sie frei von aller Ziererei,<lb/> wirklich schlicht und natürlich. Sie enthalten vorzugsweise persönliches, Natur¬<lb/> eindrücke, Jugenderinnerungen, auch etwas Betrachtung, einige politische und<lb/> patriotische Lieder, endlich einige recht hübsche plattdeutsche Sachen. Das dein<lb/> Buche vorgesetzte Bildnis wäre entbehrlich gewesen.</p><lb/> <p xml:id="ID_795" next="#ID_796"> Von allen diesen, die wir diesesmal betrachte!?, hat der Österreicher<lb/> Richard Schankal ohne Frage das stärkste Talent. Er ist noch sehr jung,<lb/> aber wir sind ihm schon öfter begegnet und haben seinen kurzen und treffenden<lb/> Ausdruck manchmal bewundern müssen. Die jetzt vorliegende Sammlung,<lb/> „Sehnsucht" betitelt (Verlag der deutsch-französischen Rundschau in München),<lb/> enthält vielerlei, nach Abteilungen geordnet, zunächst Naturbilder von ent-<lb/> schiedner Stimmung und fließendem Wohllaut: Regen, Lebenslied, Herbstabend.<lb/> Warum aber immer so wehmütig und düster? Wer mit sechsundzwanzig Jahren<lb/> heiraten kann und Weib und Kind besingt, Hütte doch auch wohl etwas Grund,<lb/> fröhlich zu sein. Am eigentümlichsten scheint uns eine Gattung von Gedichten,<lb/> durch die uns der Verfasser schon von früher lebendig in der Erinnerung<lb/> geblieben ist, und die er diesesmal unter der Überschrift „Radierungen und<lb/> Pastelle" zusammengefaßt hat. Mit wenig Strichen wird uns ungemein ein¬<lb/> drucksvoll das Motiv irgend eines alten Bildes vorgeführt oder auch die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0188]
Lyrik
getroffen ist. Auch „Mein Jesus" ist gut, ein sozialer Christus unter Fabrik¬
mädchen, in deu freien Maßen der Goethischen Jugeudgedichte. — Otto
Frommels „Flutwellen" (ans demselben Verlage) sind einfacher, natürlicher
und für die meisten vielleicht auch anziehender, obwohl Viervrdt der bessere
Dichter sein mag. Aber wozu immer die gespreizten Titel, die gar keine
Deutung auf den Inhalt und die Vortragsweise zulassen! Wenn jeder so weiter
macht, sind alle diese schönen Namen schnell verbraucht, und schließlich sagt doch
das einfache „Gedichte" oder „Neue Gedichte," was hier als Untertitel zuge¬
fügt ist, noch gerade genug, wie einst zu Schillers und Goethes Zeiten. Der
Dichter dieser „Flutwellen" ist ein gebildeter, mit Mythologie und Geschichte
vertrauter und auch von neuerer Kunst angeregter Mann, der aber hauptsächlich
die unmittelbar gegebnen Verhältnisse ans sich wirken läßt: Vater und Mutter,
das eigne Haus, Erinnerungen an die Kindheit und an eiuen ländliche» Ge¬
burtsort von der Stadt aus, ,,wo die Seele keinen Sonntag hat." „Abend¬
stunde" (im Württemberger Land) ist ein schlichter, reiner Natnrklang, ,,Sommer¬
morgen" geradezu reizend. Manchmal kommen auch schwermütige und gruselige
Sachen vor, die bei weitem nicht so natürlich sind, und ein durch die Herbst-
nacht rufender Häher ist jedenfalls ein nicht gewöhnliches Bcgegnis. Viel
schönes enthalten fünf Weihnachtslieder. Aber '„Gottfried Kellers Vision" ist
ein gereimter Ghmnasiastenaufsatz, der in eine solche Sammlung nicht mehr
hätte aufgenommen werden sollen. — „Herbstblüten, Lieder eines schlichten
Mannes" von Wilhelm Heinrich Luckau (Magdeburg, Creutz) haben einen
ein der Schwelle des Alters stehenden Magdeburger Böttchermeister zum Ver¬
fasser, der nur die Bildung einer Dorfschule genossen hat. In wohlthuenden
Gegensatz zu manchen ähnlichen Produkten sind sie frei von aller Ziererei,
wirklich schlicht und natürlich. Sie enthalten vorzugsweise persönliches, Natur¬
eindrücke, Jugenderinnerungen, auch etwas Betrachtung, einige politische und
patriotische Lieder, endlich einige recht hübsche plattdeutsche Sachen. Das dein
Buche vorgesetzte Bildnis wäre entbehrlich gewesen.
Von allen diesen, die wir diesesmal betrachte!?, hat der Österreicher
Richard Schankal ohne Frage das stärkste Talent. Er ist noch sehr jung,
aber wir sind ihm schon öfter begegnet und haben seinen kurzen und treffenden
Ausdruck manchmal bewundern müssen. Die jetzt vorliegende Sammlung,
„Sehnsucht" betitelt (Verlag der deutsch-französischen Rundschau in München),
enthält vielerlei, nach Abteilungen geordnet, zunächst Naturbilder von ent-
schiedner Stimmung und fließendem Wohllaut: Regen, Lebenslied, Herbstabend.
Warum aber immer so wehmütig und düster? Wer mit sechsundzwanzig Jahren
heiraten kann und Weib und Kind besingt, Hütte doch auch wohl etwas Grund,
fröhlich zu sein. Am eigentümlichsten scheint uns eine Gattung von Gedichten,
durch die uns der Verfasser schon von früher lebendig in der Erinnerung
geblieben ist, und die er diesesmal unter der Überschrift „Radierungen und
Pastelle" zusammengefaßt hat. Mit wenig Strichen wird uns ungemein ein¬
drucksvoll das Motiv irgend eines alten Bildes vorgeführt oder auch die
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