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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Volksvertreter den Staatswillen, das Gesetz bedeute, schloß auch die Frage in
sich, ob und inwieweit neben den Parlamenten und den Gerichten der in dein
ständigen Rate des Königs personifizierten Zentralgewalt eine administrative
Oberaufsicht über die den Organen der Lokalverwaltnng obliegende Durch¬
führung des Gesetzes zustehe/' Schon die erste Revolution hatte die Stern¬
kammer nicht sowohl abgeschafft als vernichtet und bestimmt, daß jedes Mitglied
des Privy Councils, das sich Entscheidungen in Rechtsstreitigkeiten, augemaßt
habe, des Hochverrats angeklagt werden solle. Appellieren durfte man nach
dem Recht, das sich in der Folgezeit ausbildete, von den Friedensrichtern
nur an die Quarter Sessions, von diesen an den einen der drei königliche"
Gerichtshöfe: den Appcllhof für Straffälle (Kings Beiles), Eine VerwaltnngS-
gerichtsbarkeit konnte nicht entsteh"; es gab keine Art von Streitigkeiten, die
anders als ans dem Wege eines ordentlichen Gerichtsverfahrens hätte ent¬
schieden werden können.

Freilich war es vorläufig nicht das Volk von England, sondern die
Aristokratie der Landlvrds, die das Königtum beerbte und ohne ausdrückliche
Verfassungsänderung im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts dem englischen
Staatswesen die eigentümliche Gestalt gab, die von den festländischen Be¬
wundrern Englands als Jdealverfassnng gepriesen wurde, nach Redlich aber
in einigen wichtigen Beziehungen einen Abfall von den altenglischen Ver-
fassnngs- und Verwnltnngsgrnndsätzen bedeutete. Ein der Parlamentsmehrheit
entnvmmnes Kabinett übt im Rainen des Königs die diesem nnr noch der
Form uach zustehende Zentralgewalt, die samt der Lokalvcrwaltnug der Aufsicht
des Parlaments unterworfen bleibt; durch die Private Bill Legislation greift
das Parlament unmittelbar in die Lokalverwaltnng ein, und dieses Parlament
besteht ausschließlich ans Mitgliedern der Grnndbesitzeraristokratie, die die
Wahlen beherrscht. In Wirklichkeit herrscht und regiert also fortan die Hälfte
eines Bruchteils der Bevölkerung: vertreten dnrch die Mehrheit dieser aristo¬
kratischen Versammlung. Das; diese Parteiregiernng, schreibt Redlich, nicht zu
einer parteiischen Verwaltung geführt hat, erklärt sich nicht nnr daraus, daß alle
Verwaltung an die Gesetze gebunden ist, sondern mich ans der Gleichartigkeit
der Anschauungen der beiden Parteien. Die Tories unterschieden sich von
den Whigs anfänglich nnr dadurch, daß sie Anhänger der Stuarts waren,
und später waren die Parteien nur noch Kvterien, bis der moderne Libera-
lismus einen neuen grundsätzlichen Gegensatz erzeugte. Insofern blieb der
ursprüngliche Charakter des englischen Staatswesens gewahrt, als Verwaltung
und Rechtspflege nicht getrennt, im Friedensrichter sogar in einer Person ver¬
einigt waren, und die Gemeinden und Grafschaften in ihrer Lokalverwaltnng
nnter der Obernnfsicht des Parlaments autonom blieben.

Was diese thatsächliche Verfassung mit der Zeit unhaltbar machte, war
die Umbildung der sozialen Struktur, wodurch der an sich unvernünftige
Parlamentswahlinodus unerträglich wurde. Die letzten Könige hatten durch
die Privilegiernng der oben erwähnten städtischen Wahlkörperschaften in un-


Volksvertreter den Staatswillen, das Gesetz bedeute, schloß auch die Frage in
sich, ob und inwieweit neben den Parlamenten und den Gerichten der in dein
ständigen Rate des Königs personifizierten Zentralgewalt eine administrative
Oberaufsicht über die den Organen der Lokalverwaltnng obliegende Durch¬
führung des Gesetzes zustehe/' Schon die erste Revolution hatte die Stern¬
kammer nicht sowohl abgeschafft als vernichtet und bestimmt, daß jedes Mitglied
des Privy Councils, das sich Entscheidungen in Rechtsstreitigkeiten, augemaßt
habe, des Hochverrats angeklagt werden solle. Appellieren durfte man nach
dem Recht, das sich in der Folgezeit ausbildete, von den Friedensrichtern
nur an die Quarter Sessions, von diesen an den einen der drei königliche»
Gerichtshöfe: den Appcllhof für Straffälle (Kings Beiles), Eine VerwaltnngS-
gerichtsbarkeit konnte nicht entsteh»; es gab keine Art von Streitigkeiten, die
anders als ans dem Wege eines ordentlichen Gerichtsverfahrens hätte ent¬
schieden werden können.

Freilich war es vorläufig nicht das Volk von England, sondern die
Aristokratie der Landlvrds, die das Königtum beerbte und ohne ausdrückliche
Verfassungsänderung im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts dem englischen
Staatswesen die eigentümliche Gestalt gab, die von den festländischen Be¬
wundrern Englands als Jdealverfassnng gepriesen wurde, nach Redlich aber
in einigen wichtigen Beziehungen einen Abfall von den altenglischen Ver-
fassnngs- und Verwnltnngsgrnndsätzen bedeutete. Ein der Parlamentsmehrheit
entnvmmnes Kabinett übt im Rainen des Königs die diesem nnr noch der
Form uach zustehende Zentralgewalt, die samt der Lokalvcrwaltnug der Aufsicht
des Parlaments unterworfen bleibt; durch die Private Bill Legislation greift
das Parlament unmittelbar in die Lokalverwaltnng ein, und dieses Parlament
besteht ausschließlich ans Mitgliedern der Grnndbesitzeraristokratie, die die
Wahlen beherrscht. In Wirklichkeit herrscht und regiert also fortan die Hälfte
eines Bruchteils der Bevölkerung: vertreten dnrch die Mehrheit dieser aristo¬
kratischen Versammlung. Das; diese Parteiregiernng, schreibt Redlich, nicht zu
einer parteiischen Verwaltung geführt hat, erklärt sich nicht nnr daraus, daß alle
Verwaltung an die Gesetze gebunden ist, sondern mich ans der Gleichartigkeit
der Anschauungen der beiden Parteien. Die Tories unterschieden sich von
den Whigs anfänglich nnr dadurch, daß sie Anhänger der Stuarts waren,
und später waren die Parteien nur noch Kvterien, bis der moderne Libera-
lismus einen neuen grundsätzlichen Gegensatz erzeugte. Insofern blieb der
ursprüngliche Charakter des englischen Staatswesens gewahrt, als Verwaltung
und Rechtspflege nicht getrennt, im Friedensrichter sogar in einer Person ver¬
einigt waren, und die Gemeinden und Grafschaften in ihrer Lokalverwaltnng
nnter der Obernnfsicht des Parlaments autonom blieben.

Was diese thatsächliche Verfassung mit der Zeit unhaltbar machte, war
die Umbildung der sozialen Struktur, wodurch der an sich unvernünftige
Parlamentswahlinodus unerträglich wurde. Die letzten Könige hatten durch
die Privilegiernng der oben erwähnten städtischen Wahlkörperschaften in un-


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[0444] Volksvertreter den Staatswillen, das Gesetz bedeute, schloß auch die Frage in sich, ob und inwieweit neben den Parlamenten und den Gerichten der in dein ständigen Rate des Königs personifizierten Zentralgewalt eine administrative Oberaufsicht über die den Organen der Lokalverwaltnng obliegende Durch¬ führung des Gesetzes zustehe/' Schon die erste Revolution hatte die Stern¬ kammer nicht sowohl abgeschafft als vernichtet und bestimmt, daß jedes Mitglied des Privy Councils, das sich Entscheidungen in Rechtsstreitigkeiten, augemaßt habe, des Hochverrats angeklagt werden solle. Appellieren durfte man nach dem Recht, das sich in der Folgezeit ausbildete, von den Friedensrichtern nur an die Quarter Sessions, von diesen an den einen der drei königliche» Gerichtshöfe: den Appcllhof für Straffälle (Kings Beiles), Eine VerwaltnngS- gerichtsbarkeit konnte nicht entsteh»; es gab keine Art von Streitigkeiten, die anders als ans dem Wege eines ordentlichen Gerichtsverfahrens hätte ent¬ schieden werden können. Freilich war es vorläufig nicht das Volk von England, sondern die Aristokratie der Landlvrds, die das Königtum beerbte und ohne ausdrückliche Verfassungsänderung im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts dem englischen Staatswesen die eigentümliche Gestalt gab, die von den festländischen Be¬ wundrern Englands als Jdealverfassnng gepriesen wurde, nach Redlich aber in einigen wichtigen Beziehungen einen Abfall von den altenglischen Ver- fassnngs- und Verwnltnngsgrnndsätzen bedeutete. Ein der Parlamentsmehrheit entnvmmnes Kabinett übt im Rainen des Königs die diesem nnr noch der Form uach zustehende Zentralgewalt, die samt der Lokalvcrwaltnug der Aufsicht des Parlaments unterworfen bleibt; durch die Private Bill Legislation greift das Parlament unmittelbar in die Lokalverwaltnng ein, und dieses Parlament besteht ausschließlich ans Mitgliedern der Grnndbesitzeraristokratie, die die Wahlen beherrscht. In Wirklichkeit herrscht und regiert also fortan die Hälfte eines Bruchteils der Bevölkerung: vertreten dnrch die Mehrheit dieser aristo¬ kratischen Versammlung. Das; diese Parteiregiernng, schreibt Redlich, nicht zu einer parteiischen Verwaltung geführt hat, erklärt sich nicht nnr daraus, daß alle Verwaltung an die Gesetze gebunden ist, sondern mich ans der Gleichartigkeit der Anschauungen der beiden Parteien. Die Tories unterschieden sich von den Whigs anfänglich nnr dadurch, daß sie Anhänger der Stuarts waren, und später waren die Parteien nur noch Kvterien, bis der moderne Libera- lismus einen neuen grundsätzlichen Gegensatz erzeugte. Insofern blieb der ursprüngliche Charakter des englischen Staatswesens gewahrt, als Verwaltung und Rechtspflege nicht getrennt, im Friedensrichter sogar in einer Person ver¬ einigt waren, und die Gemeinden und Grafschaften in ihrer Lokalverwaltnng nnter der Obernnfsicht des Parlaments autonom blieben. Was diese thatsächliche Verfassung mit der Zeit unhaltbar machte, war die Umbildung der sozialen Struktur, wodurch der an sich unvernünftige Parlamentswahlinodus unerträglich wurde. Die letzten Könige hatten durch die Privilegiernng der oben erwähnten städtischen Wahlkörperschaften in un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/444>, abgerufen am 17.06.2024.