Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Wünsche eines Laien zur modernen Schwindsuchtsbekämpfung

Menge Leidender mit ängstlichen Bedenken erfüllt hat, zu denen wissenschaftlich
noch kein genügender Grund vorlag. Und das ist mein wichtigstes Bedenken
gegen diese Arbeit: zahllose Leidende hat man durch diese Anfragen bemüht,
viele in Unruhe und Bedenken gestürzt, da war man doch wohl verpflichtet,
das so gewonnene Material aufs genauste zu verarbeiten und aufs sorgsamste
zu veröffentlichen, damit diese Bemühungen vieler auch so gut wie irgend
möglich ausgenutzt werden könnten. Aber wenn man ans Grund noch uner¬
probter wissenschaftlicher Theorien Volksbewegungen hervorruft, so leidet
leicht unter dem agitatorischen Streben wieder der Ernst der wissenschaftlichen
Forschung,

Damit kehre ich an den Anfang meiner Ausführungen zurück. Man
hat es Koch vielfach verdacht, daß er seine Ansicht in London so vor der
Öffentlichkeit ausgesprochen hat, weil nun mancher die nötige Vorsicht gegen
tnberknlöse Milch und tuberkulöses Fleisch vernachlässigen würde. Aber nachdem
man jahrelang systematisch weite Volkskreise in die größte Ängstlichkeit zu jagen
bemüht war und Theorien als wissenschaftlich bewiesen verbreitete, die noch
strittig waren, war es Kochs Pflicht, seine gegenteiligen Erfahrungen zur Be¬
ruhigung ebenfalls offen auszusprechen. Der Hauptfehler ist, daß man über¬
haupt unerprobte wissenschaftliche Theorien rasch in große praktische Maßregeln
umsetzen will, statt sie erst in strengen Untersuchungen zu prüfen. So hat
man die Bazillentheorie in die Massen geworfen, so machte man es bei der
Rindertuberkulose, deren Gefahren entschieden sehr übertrieben wurden, sodaß
schon vor Koch warnende Stimmen laut geworden sind. Ehe man große
Maßnahmen predigt, die "tief in die Gewohnheiten des Volkslebens ein¬
schneidend sollte die wissenschaftliche Arbeit zu ganz sichern Ergebnissen gelangt
sein. Diese Arbeit wird aber weit besser gedeihen in der Klinik, im Labora¬
torium, im Kreise der Fachgenossen, unbekümmert um Agitationen und Volks¬
bewegungen, So hätte man das Problem der Rindertubertnlose angreifen
sollen, wie es Koch in stiller, unbeachteter Arbeit gethan hat, und bis zur ge¬
hörigen Klärung der Sachen sollte man sich von voreiligen Reden und Ma߬
nahmen fernhalten, die oft viel mehr schaden als nützen. Gerade wo solche
Kämpfe, wie der gegen die Rindertuberkulvse, auslaufen wie das Hornberger
Schießen, da erhält die bedenkliche Skepsis des Volkes gegen die Medizin neue
Nahrung. Statt sich in unsichere Gefechte gegen einzelne Krankheiten einzu¬
lassen, Streite man, wenn man zur Agitation das Zeug hat, für allgemeine
hygienische Fortschritte, für bessern Verdienst der Arbeiter, für Bau gesunder
Wohnungen, für größere Reinlichkeit in Wirtschaften und beim edeln Eisen¬
bahnfiskus u, dergl. Die Aufklärung über einzelne Krankheiten überlasse man
dem, der in erster Linie dazu berufen ist, dem praktischen Arzte, der dem
Einzelfall und dem Leben nahe steht. Er hat vor allein in der Kassen- und
der Armenpraxis die beste Gelegenheit, dahin zu wirken und Übertreibungen
selbst zu berichtigen.

Der Schwindsucht gegenüber sollte die Wissenschaft in Ruhe und Umsicht


Wünsche eines Laien zur modernen Schwindsuchtsbekämpfung

Menge Leidender mit ängstlichen Bedenken erfüllt hat, zu denen wissenschaftlich
noch kein genügender Grund vorlag. Und das ist mein wichtigstes Bedenken
gegen diese Arbeit: zahllose Leidende hat man durch diese Anfragen bemüht,
viele in Unruhe und Bedenken gestürzt, da war man doch wohl verpflichtet,
das so gewonnene Material aufs genauste zu verarbeiten und aufs sorgsamste
zu veröffentlichen, damit diese Bemühungen vieler auch so gut wie irgend
möglich ausgenutzt werden könnten. Aber wenn man ans Grund noch uner¬
probter wissenschaftlicher Theorien Volksbewegungen hervorruft, so leidet
leicht unter dem agitatorischen Streben wieder der Ernst der wissenschaftlichen
Forschung,

Damit kehre ich an den Anfang meiner Ausführungen zurück. Man
hat es Koch vielfach verdacht, daß er seine Ansicht in London so vor der
Öffentlichkeit ausgesprochen hat, weil nun mancher die nötige Vorsicht gegen
tnberknlöse Milch und tuberkulöses Fleisch vernachlässigen würde. Aber nachdem
man jahrelang systematisch weite Volkskreise in die größte Ängstlichkeit zu jagen
bemüht war und Theorien als wissenschaftlich bewiesen verbreitete, die noch
strittig waren, war es Kochs Pflicht, seine gegenteiligen Erfahrungen zur Be¬
ruhigung ebenfalls offen auszusprechen. Der Hauptfehler ist, daß man über¬
haupt unerprobte wissenschaftliche Theorien rasch in große praktische Maßregeln
umsetzen will, statt sie erst in strengen Untersuchungen zu prüfen. So hat
man die Bazillentheorie in die Massen geworfen, so machte man es bei der
Rindertuberkulose, deren Gefahren entschieden sehr übertrieben wurden, sodaß
schon vor Koch warnende Stimmen laut geworden sind. Ehe man große
Maßnahmen predigt, die „tief in die Gewohnheiten des Volkslebens ein¬
schneidend sollte die wissenschaftliche Arbeit zu ganz sichern Ergebnissen gelangt
sein. Diese Arbeit wird aber weit besser gedeihen in der Klinik, im Labora¬
torium, im Kreise der Fachgenossen, unbekümmert um Agitationen und Volks¬
bewegungen, So hätte man das Problem der Rindertubertnlose angreifen
sollen, wie es Koch in stiller, unbeachteter Arbeit gethan hat, und bis zur ge¬
hörigen Klärung der Sachen sollte man sich von voreiligen Reden und Ma߬
nahmen fernhalten, die oft viel mehr schaden als nützen. Gerade wo solche
Kämpfe, wie der gegen die Rindertuberkulvse, auslaufen wie das Hornberger
Schießen, da erhält die bedenkliche Skepsis des Volkes gegen die Medizin neue
Nahrung. Statt sich in unsichere Gefechte gegen einzelne Krankheiten einzu¬
lassen, Streite man, wenn man zur Agitation das Zeug hat, für allgemeine
hygienische Fortschritte, für bessern Verdienst der Arbeiter, für Bau gesunder
Wohnungen, für größere Reinlichkeit in Wirtschaften und beim edeln Eisen¬
bahnfiskus u, dergl. Die Aufklärung über einzelne Krankheiten überlasse man
dem, der in erster Linie dazu berufen ist, dem praktischen Arzte, der dem
Einzelfall und dem Leben nahe steht. Er hat vor allein in der Kassen- und
der Armenpraxis die beste Gelegenheit, dahin zu wirken und Übertreibungen
selbst zu berichtigen.

Der Schwindsucht gegenüber sollte die Wissenschaft in Ruhe und Umsicht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0629" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235801"/>
          <fw type="header" place="top"> Wünsche eines Laien zur modernen Schwindsuchtsbekämpfung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2551" prev="#ID_2550"> Menge Leidender mit ängstlichen Bedenken erfüllt hat, zu denen wissenschaftlich<lb/>
noch kein genügender Grund vorlag. Und das ist mein wichtigstes Bedenken<lb/>
gegen diese Arbeit: zahllose Leidende hat man durch diese Anfragen bemüht,<lb/>
viele in Unruhe und Bedenken gestürzt, da war man doch wohl verpflichtet,<lb/>
das so gewonnene Material aufs genauste zu verarbeiten und aufs sorgsamste<lb/>
zu veröffentlichen, damit diese Bemühungen vieler auch so gut wie irgend<lb/>
möglich ausgenutzt werden könnten. Aber wenn man ans Grund noch uner¬<lb/>
probter wissenschaftlicher Theorien Volksbewegungen hervorruft, so leidet<lb/>
leicht unter dem agitatorischen Streben wieder der Ernst der wissenschaftlichen<lb/>
Forschung,</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2552"> Damit kehre ich an den Anfang meiner Ausführungen zurück. Man<lb/>
hat es Koch vielfach verdacht, daß er seine Ansicht in London so vor der<lb/>
Öffentlichkeit ausgesprochen hat, weil nun mancher die nötige Vorsicht gegen<lb/>
tnberknlöse Milch und tuberkulöses Fleisch vernachlässigen würde. Aber nachdem<lb/>
man jahrelang systematisch weite Volkskreise in die größte Ängstlichkeit zu jagen<lb/>
bemüht war und Theorien als wissenschaftlich bewiesen verbreitete, die noch<lb/>
strittig waren, war es Kochs Pflicht, seine gegenteiligen Erfahrungen zur Be¬<lb/>
ruhigung ebenfalls offen auszusprechen. Der Hauptfehler ist, daß man über¬<lb/>
haupt unerprobte wissenschaftliche Theorien rasch in große praktische Maßregeln<lb/>
umsetzen will, statt sie erst in strengen Untersuchungen zu prüfen. So hat<lb/>
man die Bazillentheorie in die Massen geworfen, so machte man es bei der<lb/>
Rindertuberkulose, deren Gefahren entschieden sehr übertrieben wurden, sodaß<lb/>
schon vor Koch warnende Stimmen laut geworden sind. Ehe man große<lb/>
Maßnahmen predigt, die &#x201E;tief in die Gewohnheiten des Volkslebens ein¬<lb/>
schneidend sollte die wissenschaftliche Arbeit zu ganz sichern Ergebnissen gelangt<lb/>
sein. Diese Arbeit wird aber weit besser gedeihen in der Klinik, im Labora¬<lb/>
torium, im Kreise der Fachgenossen, unbekümmert um Agitationen und Volks¬<lb/>
bewegungen, So hätte man das Problem der Rindertubertnlose angreifen<lb/>
sollen, wie es Koch in stiller, unbeachteter Arbeit gethan hat, und bis zur ge¬<lb/>
hörigen Klärung der Sachen sollte man sich von voreiligen Reden und Ma߬<lb/>
nahmen fernhalten, die oft viel mehr schaden als nützen. Gerade wo solche<lb/>
Kämpfe, wie der gegen die Rindertuberkulvse, auslaufen wie das Hornberger<lb/>
Schießen, da erhält die bedenkliche Skepsis des Volkes gegen die Medizin neue<lb/>
Nahrung. Statt sich in unsichere Gefechte gegen einzelne Krankheiten einzu¬<lb/>
lassen, Streite man, wenn man zur Agitation das Zeug hat, für allgemeine<lb/>
hygienische Fortschritte, für bessern Verdienst der Arbeiter, für Bau gesunder<lb/>
Wohnungen, für größere Reinlichkeit in Wirtschaften und beim edeln Eisen¬<lb/>
bahnfiskus u, dergl. Die Aufklärung über einzelne Krankheiten überlasse man<lb/>
dem, der in erster Linie dazu berufen ist, dem praktischen Arzte, der dem<lb/>
Einzelfall und dem Leben nahe steht. Er hat vor allein in der Kassen- und<lb/>
der Armenpraxis die beste Gelegenheit, dahin zu wirken und Übertreibungen<lb/>
selbst zu berichtigen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2553" next="#ID_2554"> Der Schwindsucht gegenüber sollte die Wissenschaft in Ruhe und Umsicht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0629] Wünsche eines Laien zur modernen Schwindsuchtsbekämpfung Menge Leidender mit ängstlichen Bedenken erfüllt hat, zu denen wissenschaftlich noch kein genügender Grund vorlag. Und das ist mein wichtigstes Bedenken gegen diese Arbeit: zahllose Leidende hat man durch diese Anfragen bemüht, viele in Unruhe und Bedenken gestürzt, da war man doch wohl verpflichtet, das so gewonnene Material aufs genauste zu verarbeiten und aufs sorgsamste zu veröffentlichen, damit diese Bemühungen vieler auch so gut wie irgend möglich ausgenutzt werden könnten. Aber wenn man ans Grund noch uner¬ probter wissenschaftlicher Theorien Volksbewegungen hervorruft, so leidet leicht unter dem agitatorischen Streben wieder der Ernst der wissenschaftlichen Forschung, Damit kehre ich an den Anfang meiner Ausführungen zurück. Man hat es Koch vielfach verdacht, daß er seine Ansicht in London so vor der Öffentlichkeit ausgesprochen hat, weil nun mancher die nötige Vorsicht gegen tnberknlöse Milch und tuberkulöses Fleisch vernachlässigen würde. Aber nachdem man jahrelang systematisch weite Volkskreise in die größte Ängstlichkeit zu jagen bemüht war und Theorien als wissenschaftlich bewiesen verbreitete, die noch strittig waren, war es Kochs Pflicht, seine gegenteiligen Erfahrungen zur Be¬ ruhigung ebenfalls offen auszusprechen. Der Hauptfehler ist, daß man über¬ haupt unerprobte wissenschaftliche Theorien rasch in große praktische Maßregeln umsetzen will, statt sie erst in strengen Untersuchungen zu prüfen. So hat man die Bazillentheorie in die Massen geworfen, so machte man es bei der Rindertuberkulose, deren Gefahren entschieden sehr übertrieben wurden, sodaß schon vor Koch warnende Stimmen laut geworden sind. Ehe man große Maßnahmen predigt, die „tief in die Gewohnheiten des Volkslebens ein¬ schneidend sollte die wissenschaftliche Arbeit zu ganz sichern Ergebnissen gelangt sein. Diese Arbeit wird aber weit besser gedeihen in der Klinik, im Labora¬ torium, im Kreise der Fachgenossen, unbekümmert um Agitationen und Volks¬ bewegungen, So hätte man das Problem der Rindertubertnlose angreifen sollen, wie es Koch in stiller, unbeachteter Arbeit gethan hat, und bis zur ge¬ hörigen Klärung der Sachen sollte man sich von voreiligen Reden und Ma߬ nahmen fernhalten, die oft viel mehr schaden als nützen. Gerade wo solche Kämpfe, wie der gegen die Rindertuberkulvse, auslaufen wie das Hornberger Schießen, da erhält die bedenkliche Skepsis des Volkes gegen die Medizin neue Nahrung. Statt sich in unsichere Gefechte gegen einzelne Krankheiten einzu¬ lassen, Streite man, wenn man zur Agitation das Zeug hat, für allgemeine hygienische Fortschritte, für bessern Verdienst der Arbeiter, für Bau gesunder Wohnungen, für größere Reinlichkeit in Wirtschaften und beim edeln Eisen¬ bahnfiskus u, dergl. Die Aufklärung über einzelne Krankheiten überlasse man dem, der in erster Linie dazu berufen ist, dem praktischen Arzte, der dem Einzelfall und dem Leben nahe steht. Er hat vor allein in der Kassen- und der Armenpraxis die beste Gelegenheit, dahin zu wirken und Übertreibungen selbst zu berichtigen. Der Schwindsucht gegenüber sollte die Wissenschaft in Ruhe und Umsicht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/629
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/629>, abgerufen am 11.05.2024.