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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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England und Rußland

höchstens mit russischer Hilfe möglich sein würde, denn gutwillig räumen wir
weder Schanghai noch Tsingtau. Der stickus ano am Persischen Golf ist
England am bequemsten, weil er seine Herrschaft dort bedeutet, und in Ägypten
fühlt es sich uicht sicher, denn das Nilland kaun mich zu Lande angegriffen
werden, und England würde schwerlich imstande sein, es auch nur gegen eine gut
geführte türkische Armee zu halten, der wahrscheinlich eine Erhebung der Muham-
medaner zu Hilfe kommen würde. Auch über das alles hinaus würde für England
eine friedliche Verständigung mit Rußland, und wenn sie nur zehn Jahre hielte,
vorteilhaft sein. Es wäre jeder Befürchtung für Indien, die eingestanduer- oder
nichteingestandnermaßen immer wie eine drohende Wetterwolke über England
hängt, enthoben und hätte freie Hand gegen Deutschland und Frankreich, Es
könnte daun etwa seinen Einfluß in Marokko zum herrschenden macheu und
Tanger nehmen, dessen Besitz erst seine Herrschaft über den Eingang des
Mittelmeers ganz sichern würde, denn Gibraltar allein genügt dazu heute nicht
mehr; es könnte bei günstiger Gelegenheit über uns herfallen, ohne von Ru߬
land gestört zu werden. Aber zur See allein kann Deutschland nicht besiegt
werden, und die englische Armee kommt gegenüber der deutschen wenig in
Betracht. Wollte deshalb England die Hilfe Frankreichs gegen uns erkaufen,
dann müßte es ihm wieder auf kolonialen Gebiet Zugeständnisse machen und
wäre doch des Sieges nicht sicher, denn mit Frankreich werden wir auch allein
fertig, und das wissen die Franzosen. Und für den Fall, daß nur erliegen
sollten, würde England eine Macht vernichtet haben, die ihm wirtschaftlich
unbequem sein mag, aber ihm unter Umständen als Bundesgenosse wertvoll
sein kann, und es würde mit der Zerstörung des deutschen Wohlstandes seinem
eignen Handel einen schweren Schlag versetzen.

Es ist eben nicht anders: dieses Deutschland hält die Wage des euro¬
päischen Gleichgewichts in starker Hand, es liegt wie ein großer Isolierkörper
in der Mitte des Weltteils Mische" geladncu elektrischen Kraftmaschinen und kaun
sich jeden Augenblick, wenn es berührt wird, selbst Funken sprühend in eine
solche verwandeln. In dieses Verhältnis wird man sich allerorten finden müssen,
anch in England. Die Aufgabe, die Europa seit der Mitte des siebzehnten Jahr¬
hunderts beschäftigte, das Gleichgewicht seiner großen Mächte zu begründen,
und die erst durch die Erneuerung des Deutschen Reichs völlig gelöst wurde,
ist in erweiterter Form wiedergekehrt. Es gilt heute, ein Gleichgewicht der
Weltmächte herzustellen. Damals war Frankreich zweimal der Gegner, weil
es ein unnatürliches, den: Geiste der modernen Welt widerstrebendes Über¬
gewicht auf dem Festland erstrebte, und England hatte die Führung im Kampfe.
Heute übt England zur See und im Welthandel ein so ungeheures Übergewicht
aus, daß es zu den aufstrebenden Mächten in einen ähnlichen Gegensatz geraten
ist wie damals Frankreich. Aber dieser Gegensatz ist wesentlich wirtschaftlich,
uicht politisch wie jener, er braucht also keineswegs mit politisch-militärischen
Mitteln, durch kriegerische Zusammenstöße entschieden zu werden. Der Einsatz
bei einem solchen wäre in der That so groß, daß er deu etwaigen Gewinn weit


England und Rußland

höchstens mit russischer Hilfe möglich sein würde, denn gutwillig räumen wir
weder Schanghai noch Tsingtau. Der stickus ano am Persischen Golf ist
England am bequemsten, weil er seine Herrschaft dort bedeutet, und in Ägypten
fühlt es sich uicht sicher, denn das Nilland kaun mich zu Lande angegriffen
werden, und England würde schwerlich imstande sein, es auch nur gegen eine gut
geführte türkische Armee zu halten, der wahrscheinlich eine Erhebung der Muham-
medaner zu Hilfe kommen würde. Auch über das alles hinaus würde für England
eine friedliche Verständigung mit Rußland, und wenn sie nur zehn Jahre hielte,
vorteilhaft sein. Es wäre jeder Befürchtung für Indien, die eingestanduer- oder
nichteingestandnermaßen immer wie eine drohende Wetterwolke über England
hängt, enthoben und hätte freie Hand gegen Deutschland und Frankreich, Es
könnte daun etwa seinen Einfluß in Marokko zum herrschenden macheu und
Tanger nehmen, dessen Besitz erst seine Herrschaft über den Eingang des
Mittelmeers ganz sichern würde, denn Gibraltar allein genügt dazu heute nicht
mehr; es könnte bei günstiger Gelegenheit über uns herfallen, ohne von Ru߬
land gestört zu werden. Aber zur See allein kann Deutschland nicht besiegt
werden, und die englische Armee kommt gegenüber der deutschen wenig in
Betracht. Wollte deshalb England die Hilfe Frankreichs gegen uns erkaufen,
dann müßte es ihm wieder auf kolonialen Gebiet Zugeständnisse machen und
wäre doch des Sieges nicht sicher, denn mit Frankreich werden wir auch allein
fertig, und das wissen die Franzosen. Und für den Fall, daß nur erliegen
sollten, würde England eine Macht vernichtet haben, die ihm wirtschaftlich
unbequem sein mag, aber ihm unter Umständen als Bundesgenosse wertvoll
sein kann, und es würde mit der Zerstörung des deutschen Wohlstandes seinem
eignen Handel einen schweren Schlag versetzen.

Es ist eben nicht anders: dieses Deutschland hält die Wage des euro¬
päischen Gleichgewichts in starker Hand, es liegt wie ein großer Isolierkörper
in der Mitte des Weltteils Mische» geladncu elektrischen Kraftmaschinen und kaun
sich jeden Augenblick, wenn es berührt wird, selbst Funken sprühend in eine
solche verwandeln. In dieses Verhältnis wird man sich allerorten finden müssen,
anch in England. Die Aufgabe, die Europa seit der Mitte des siebzehnten Jahr¬
hunderts beschäftigte, das Gleichgewicht seiner großen Mächte zu begründen,
und die erst durch die Erneuerung des Deutschen Reichs völlig gelöst wurde,
ist in erweiterter Form wiedergekehrt. Es gilt heute, ein Gleichgewicht der
Weltmächte herzustellen. Damals war Frankreich zweimal der Gegner, weil
es ein unnatürliches, den: Geiste der modernen Welt widerstrebendes Über¬
gewicht auf dem Festland erstrebte, und England hatte die Führung im Kampfe.
Heute übt England zur See und im Welthandel ein so ungeheures Übergewicht
aus, daß es zu den aufstrebenden Mächten in einen ähnlichen Gegensatz geraten
ist wie damals Frankreich. Aber dieser Gegensatz ist wesentlich wirtschaftlich,
uicht politisch wie jener, er braucht also keineswegs mit politisch-militärischen
Mitteln, durch kriegerische Zusammenstöße entschieden zu werden. Der Einsatz
bei einem solchen wäre in der That so groß, daß er deu etwaigen Gewinn weit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/482>, abgerufen am 21.05.2024.