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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Englands also eher schwächen als stärken, ganz abgesehen noch von Indien,
das keine Kolonie ist, sondern eine Besitzung und zu seiner Verteidigung den
besten Teil des englischen Heeres verlangen würde.

In der Richtung auf eine Abschwächung der britischen Übermacht hin
hat sich auch die politische Entwicklung des abgelnufnen Jahres bewegt. Der
Krieg in Südafrika, der dort Englands varanumnt xovsr begründen soll, wird
dieses Ziel vielleicht erreichen, aber er hat England in dein Maße gelähmt,
daß es auf allen andern Schauplätzen der überseeischen Politik im Zurück¬
weichen ist. Die Position der Vereinigten Staaten auf den Antillen und auf
den Philippinen ist unangreifbar geworden; sie beherrschen damit alle Zugänge
zum mexikanischen Golf, also zu Mittelamerika, und nehmen eine dominierende
Stellung im Großen Ozean ein, sie werden auch den interozeanischen Kanal,
sei es durch Nikaragua oder bei Panama, wirklich bauen, also ihre Aktions¬
fähigkeit geradezu verdoppeln. Diesem raschen Vordringen gegenüber ist Eng¬
land ohnmächtig, schon weil es bei jedem Konflikte mit der Union für Kanada
fürchten muß, das es gegen sie nicht behaupten könnte. "Amerika den Ameri¬
kanern!" In Asien steht es kaum besser. Im nördlichen China hat England
die Festsetzung der Russen ruhig hinnehmen, für Südchina den Grundsatz der
offnen Thüren annehmen müssen, statt es ausschließlich in seine Interessen¬
sphäre zu verwandeln, es kann Deutschlands Ausbreitung in Schenkung nicht
hindern, und die sibirische Bahn ist so gut wie fertig. Sie mag für den
Welthandel noch geringe Bedeutung haben, aber sie sichert den Russen eine
schnelle Verbindung mit dem äußersten Osten und erlaubt ihnen, dort jede be¬
liebige Truppenzahl zu versammeln, ohne daß England das stören könnte oder
auch nur zu erfahren brauchte. Kurz, mit dem englischen Übergewicht in Ost¬
asien ist es augenscheinlich vorüber. In Erwügnng solcher Möglichkeiten scheint
Japan Neigung zu haben, sich mit Nußland direkt zu verständigen, da es von
England nicht mehr viel zu erwcirteu, von Rußland sehr viel zu fürchten hat;
denn umsonst ist der frühere Minister Marquis Jto nicht soeben in Paris, Peters¬
burg und Berlin gewesen. China selbst aber scheint sich nach der schweren
Krisis, in die es von der reaktionären Partei gestürzt worden war, den fremden
Knltureiuflüssen weiter offnen zu wollen, und es könnte, falls es sich namentlich
militärisch kräftigte, was es doch nur zu wollen braucht, ein selbständiger
Faktor werden, mit dem man rechnen müßte. Den Russen in Zentralasien
in den Weg zu treten, darauf hat England längst verzichtet, und eben beginnt
dort Nußland den Bau der großen Eisenbahn von Orenburg nach Taschkend,
die ihm dereinst ermöglichen wird, binnen wenig Tagen aus dem Mittelpunkte
des Reichs Truppen bis an die Grenze Afghanistans und Persiens zu werfen,
ein Seitenstück zur sibirischen Bahn. Ebenso weicht in Persien der britische
Einfluß vor dem russischen rasch zurück, und die Eisenbahnen dort wird Ru߬
land bauen, auch die bis zum Persischen Golf.

Somit beginnt sich in Asien schon heute eine Art Gleichgewicht der Welt¬
mächte auszubilden, wie es in Afrika der Gebietsverteilung nach schon vorhanden
ist, seitdem sich Deutschland im Westen und im Osten festgesetzt, Frankreich sich
die größere Westhälfte Nordafrikas gesichert hat, und der Kougostaat besteht,


Englands also eher schwächen als stärken, ganz abgesehen noch von Indien,
das keine Kolonie ist, sondern eine Besitzung und zu seiner Verteidigung den
besten Teil des englischen Heeres verlangen würde.

In der Richtung auf eine Abschwächung der britischen Übermacht hin
hat sich auch die politische Entwicklung des abgelnufnen Jahres bewegt. Der
Krieg in Südafrika, der dort Englands varanumnt xovsr begründen soll, wird
dieses Ziel vielleicht erreichen, aber er hat England in dein Maße gelähmt,
daß es auf allen andern Schauplätzen der überseeischen Politik im Zurück¬
weichen ist. Die Position der Vereinigten Staaten auf den Antillen und auf
den Philippinen ist unangreifbar geworden; sie beherrschen damit alle Zugänge
zum mexikanischen Golf, also zu Mittelamerika, und nehmen eine dominierende
Stellung im Großen Ozean ein, sie werden auch den interozeanischen Kanal,
sei es durch Nikaragua oder bei Panama, wirklich bauen, also ihre Aktions¬
fähigkeit geradezu verdoppeln. Diesem raschen Vordringen gegenüber ist Eng¬
land ohnmächtig, schon weil es bei jedem Konflikte mit der Union für Kanada
fürchten muß, das es gegen sie nicht behaupten könnte. „Amerika den Ameri¬
kanern!" In Asien steht es kaum besser. Im nördlichen China hat England
die Festsetzung der Russen ruhig hinnehmen, für Südchina den Grundsatz der
offnen Thüren annehmen müssen, statt es ausschließlich in seine Interessen¬
sphäre zu verwandeln, es kann Deutschlands Ausbreitung in Schenkung nicht
hindern, und die sibirische Bahn ist so gut wie fertig. Sie mag für den
Welthandel noch geringe Bedeutung haben, aber sie sichert den Russen eine
schnelle Verbindung mit dem äußersten Osten und erlaubt ihnen, dort jede be¬
liebige Truppenzahl zu versammeln, ohne daß England das stören könnte oder
auch nur zu erfahren brauchte. Kurz, mit dem englischen Übergewicht in Ost¬
asien ist es augenscheinlich vorüber. In Erwügnng solcher Möglichkeiten scheint
Japan Neigung zu haben, sich mit Nußland direkt zu verständigen, da es von
England nicht mehr viel zu erwcirteu, von Rußland sehr viel zu fürchten hat;
denn umsonst ist der frühere Minister Marquis Jto nicht soeben in Paris, Peters¬
burg und Berlin gewesen. China selbst aber scheint sich nach der schweren
Krisis, in die es von der reaktionären Partei gestürzt worden war, den fremden
Knltureiuflüssen weiter offnen zu wollen, und es könnte, falls es sich namentlich
militärisch kräftigte, was es doch nur zu wollen braucht, ein selbständiger
Faktor werden, mit dem man rechnen müßte. Den Russen in Zentralasien
in den Weg zu treten, darauf hat England längst verzichtet, und eben beginnt
dort Nußland den Bau der großen Eisenbahn von Orenburg nach Taschkend,
die ihm dereinst ermöglichen wird, binnen wenig Tagen aus dem Mittelpunkte
des Reichs Truppen bis an die Grenze Afghanistans und Persiens zu werfen,
ein Seitenstück zur sibirischen Bahn. Ebenso weicht in Persien der britische
Einfluß vor dem russischen rasch zurück, und die Eisenbahnen dort wird Ru߬
land bauen, auch die bis zum Persischen Golf.

Somit beginnt sich in Asien schon heute eine Art Gleichgewicht der Welt¬
mächte auszubilden, wie es in Afrika der Gebietsverteilung nach schon vorhanden
ist, seitdem sich Deutschland im Westen und im Osten festgesetzt, Frankreich sich
die größere Westhälfte Nordafrikas gesichert hat, und der Kougostaat besteht,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/13>, abgerufen am 16.05.2024.