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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

sonstige Metallgewerbe, Textilgewerbe, Übrige Gewerbe); Börse und Bankwesen;
Auswärtiger Handel und Verkehrsanstalten; Einkommen und Konsum, Warenpreise,
Wohnungsnot; Wirtschnftspvlitische Reichsgesetze; Wirtschaftliche Chronik und Biblio¬
graphie; Statistische Tabellen. Die Geschichte der Depression, die vom April 1900
ab ini Rückgang der Aktienkurse offenbar wurde, und der Börsenmanöver, die den
natürlichen Lauf der Dinge modifizierten, wird ausführlich und genau erzählt. In
welchem Maße die Kartelle und Syndikate nicht allein ihre arbeitswilligen Mit¬
glieder und Fachgenossen, sondern anch die Abnehmer ihrer Waren zu bedrohen
vermögen, ohne daß den Bedrohten und mit Konventionalstrafen Gezüchtigten ge¬
richtlicher Schutz zu teil wird, liest mau Seite 35 ff. nicht ohne einige Verwunde¬
rung. Die kritischen Bemerkungen, mit denen Caliver die angeführten Thatsachen
und Zahlen begleitet, halten sich in bescheidnen Grenzen und nehmen nicht viel
Raum ein. Eine davon wollen wir anführen, weil sie einen Gegenstand betrifft,
der in den Grenzboten oft und eingehend behandelt worden ist. Die Wvhnnngs-
mieten steigen nicht bloß in den Großstädten. Rodach, Gräfenrvda und Gera sind
gewiß keine Weltstädte, aber trotzdem sind dort und in andern thüringischen Städten
die Mietpreise für kleine Wohnungen 1898 bis 1899 um 20/ 50, 00 bis
100 Prozent gestiegen. Der Gewerbeinspektor für Sachsen-Koburg-Gotha, Dr. von
Schwartz, hat das ermittelt, und er hat auf Grund einer Umfrage, die nahe an
tausend Arbeiterfamilien umfaßt, berechnet, daß Leute, die uur 2 Mark täglich
verdienen, siebenundfünfzig Tage des Jahres für die Wvhnungsmiete arbeiten müssen,
während diese bei 2 bis 3 Mark Verdienst durch achtunddreißigtägige, bei 3 bis
4 Mark durch fünfuuddreißigtägige, bei 4 Mark und darüber durch ueunnndzwanzig-
tägige Arbeit aufgebracht wird. Er bezeichnet als zu erstrebendes Ziel einen Miet¬
preis, der anch von den niedrigsten Arbeitercinkommen mir 10 Prozent wegnehme.
Cälwer entgegnet, gute Wohnungen so wohlfeil herzustellen, sei nicht möglich, es
müßte deun auf dem Wege der Wohlthätigkeit geschehn; das Ziel sei vielmehr, die
Arbeitseinkommen soweit zu erhöhen, daß der zehnte Teil davon die Miete für
eine anständige Wohnung decke. Die Unternehmer werden sagen, das sei erst recht
nicht möglich.

May hat sich diesesmal nicht auf das Jahr 1900 beschränkt, sondern ein
Jahrhundertwendeubuch von 727 Seiten geliefert: Die Wirtschaft in Vergangen¬
heit, Gegenwart und Zukunft mit 130 Tabellen und vergleichenden Über¬
sichten (ebenfalls bei John Edelheim, 1901). Der Verfasser hat mit staunenswertem
Fleiß eine Masse Material zusammengetragen, für die ihm jeder, der dergleichen braucht,
dankbar sein wird. Man bekommt u. n. eine Geschichte der Eisenbahn, der Elek¬
trizität, des Telephons, der Genossenschaften, der Gewerkvereine. Aber ein getreues
Bild von der Wirtschaft früherer Zeiten bekommt man nicht, sondern nur einzelne
dürftige, in die verschiedensten Kapitel verstreute Züge, sodaß also das erste Drittel
des Titels zuviel verspricht. Die Hauptsache bleibt der gegenwärtige Zustand, ver¬
glichen mit der jüngsten Vergangenheit zu dem Zweck, die Fortschritte der Mensch¬
heit im glänzendsten Lichte zu zeigen. Denn May ist keineswegs so frei von aller
Theorie, wie er sich einbildet; er hat, wie jedermann, seine Grundanschauungen,
"ach denen er sich die Thatsachen zurechtlegt, und seine Tendenz, die man als die
sozialliberale bezeichnen kann, macht sich in seinem Buche stärker geltend als in dem
von Calwer die sozialdemokratische. May gehört zu denen, die sich an Kilometer-,
Kilogrammmeter- und Touueuzahleu berauschen und in Entzücken geraten bei dem
Gedanken daran, wie herrlich weit wir es gebracht haben. Wir lassen uns hier
nicht in Auseinandersetzungen mit dieser Denkungsart ein und beschränken uns auf
die Bemerkung, daß, wenn im Deutschen Reiche allein schon die Bevölkerungszahl
um 800000 jährlich wächst, natürlich auch alle Zahlen, die sich auf volksivirtschaft-
liche Gegenstände beziehn, entsprechend wachsen müssen, und daß ohne die Er-
findungen und Entdeckungen der Neuzeit, besonders ohne die dem Verkehr zu gute
kommenden, die Behausung und Ernährung dieser ungeheuern auf verhältnismäßig


Maßgebliches und Unmaßgebliches

sonstige Metallgewerbe, Textilgewerbe, Übrige Gewerbe); Börse und Bankwesen;
Auswärtiger Handel und Verkehrsanstalten; Einkommen und Konsum, Warenpreise,
Wohnungsnot; Wirtschnftspvlitische Reichsgesetze; Wirtschaftliche Chronik und Biblio¬
graphie; Statistische Tabellen. Die Geschichte der Depression, die vom April 1900
ab ini Rückgang der Aktienkurse offenbar wurde, und der Börsenmanöver, die den
natürlichen Lauf der Dinge modifizierten, wird ausführlich und genau erzählt. In
welchem Maße die Kartelle und Syndikate nicht allein ihre arbeitswilligen Mit¬
glieder und Fachgenossen, sondern anch die Abnehmer ihrer Waren zu bedrohen
vermögen, ohne daß den Bedrohten und mit Konventionalstrafen Gezüchtigten ge¬
richtlicher Schutz zu teil wird, liest mau Seite 35 ff. nicht ohne einige Verwunde¬
rung. Die kritischen Bemerkungen, mit denen Caliver die angeführten Thatsachen
und Zahlen begleitet, halten sich in bescheidnen Grenzen und nehmen nicht viel
Raum ein. Eine davon wollen wir anführen, weil sie einen Gegenstand betrifft,
der in den Grenzboten oft und eingehend behandelt worden ist. Die Wvhnnngs-
mieten steigen nicht bloß in den Großstädten. Rodach, Gräfenrvda und Gera sind
gewiß keine Weltstädte, aber trotzdem sind dort und in andern thüringischen Städten
die Mietpreise für kleine Wohnungen 1898 bis 1899 um 20/ 50, 00 bis
100 Prozent gestiegen. Der Gewerbeinspektor für Sachsen-Koburg-Gotha, Dr. von
Schwartz, hat das ermittelt, und er hat auf Grund einer Umfrage, die nahe an
tausend Arbeiterfamilien umfaßt, berechnet, daß Leute, die uur 2 Mark täglich
verdienen, siebenundfünfzig Tage des Jahres für die Wvhnungsmiete arbeiten müssen,
während diese bei 2 bis 3 Mark Verdienst durch achtunddreißigtägige, bei 3 bis
4 Mark durch fünfuuddreißigtägige, bei 4 Mark und darüber durch ueunnndzwanzig-
tägige Arbeit aufgebracht wird. Er bezeichnet als zu erstrebendes Ziel einen Miet¬
preis, der anch von den niedrigsten Arbeitercinkommen mir 10 Prozent wegnehme.
Cälwer entgegnet, gute Wohnungen so wohlfeil herzustellen, sei nicht möglich, es
müßte deun auf dem Wege der Wohlthätigkeit geschehn; das Ziel sei vielmehr, die
Arbeitseinkommen soweit zu erhöhen, daß der zehnte Teil davon die Miete für
eine anständige Wohnung decke. Die Unternehmer werden sagen, das sei erst recht
nicht möglich.

May hat sich diesesmal nicht auf das Jahr 1900 beschränkt, sondern ein
Jahrhundertwendeubuch von 727 Seiten geliefert: Die Wirtschaft in Vergangen¬
heit, Gegenwart und Zukunft mit 130 Tabellen und vergleichenden Über¬
sichten (ebenfalls bei John Edelheim, 1901). Der Verfasser hat mit staunenswertem
Fleiß eine Masse Material zusammengetragen, für die ihm jeder, der dergleichen braucht,
dankbar sein wird. Man bekommt u. n. eine Geschichte der Eisenbahn, der Elek¬
trizität, des Telephons, der Genossenschaften, der Gewerkvereine. Aber ein getreues
Bild von der Wirtschaft früherer Zeiten bekommt man nicht, sondern nur einzelne
dürftige, in die verschiedensten Kapitel verstreute Züge, sodaß also das erste Drittel
des Titels zuviel verspricht. Die Hauptsache bleibt der gegenwärtige Zustand, ver¬
glichen mit der jüngsten Vergangenheit zu dem Zweck, die Fortschritte der Mensch¬
heit im glänzendsten Lichte zu zeigen. Denn May ist keineswegs so frei von aller
Theorie, wie er sich einbildet; er hat, wie jedermann, seine Grundanschauungen,
»ach denen er sich die Thatsachen zurechtlegt, und seine Tendenz, die man als die
sozialliberale bezeichnen kann, macht sich in seinem Buche stärker geltend als in dem
von Calwer die sozialdemokratische. May gehört zu denen, die sich an Kilometer-,
Kilogrammmeter- und Touueuzahleu berauschen und in Entzücken geraten bei dem
Gedanken daran, wie herrlich weit wir es gebracht haben. Wir lassen uns hier
nicht in Auseinandersetzungen mit dieser Denkungsart ein und beschränken uns auf
die Bemerkung, daß, wenn im Deutschen Reiche allein schon die Bevölkerungszahl
um 800000 jährlich wächst, natürlich auch alle Zahlen, die sich auf volksivirtschaft-
liche Gegenstände beziehn, entsprechend wachsen müssen, und daß ohne die Er-
findungen und Entdeckungen der Neuzeit, besonders ohne die dem Verkehr zu gute
kommenden, die Behausung und Ernährung dieser ungeheuern auf verhältnismäßig


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[0172] Maßgebliches und Unmaßgebliches sonstige Metallgewerbe, Textilgewerbe, Übrige Gewerbe); Börse und Bankwesen; Auswärtiger Handel und Verkehrsanstalten; Einkommen und Konsum, Warenpreise, Wohnungsnot; Wirtschnftspvlitische Reichsgesetze; Wirtschaftliche Chronik und Biblio¬ graphie; Statistische Tabellen. Die Geschichte der Depression, die vom April 1900 ab ini Rückgang der Aktienkurse offenbar wurde, und der Börsenmanöver, die den natürlichen Lauf der Dinge modifizierten, wird ausführlich und genau erzählt. In welchem Maße die Kartelle und Syndikate nicht allein ihre arbeitswilligen Mit¬ glieder und Fachgenossen, sondern anch die Abnehmer ihrer Waren zu bedrohen vermögen, ohne daß den Bedrohten und mit Konventionalstrafen Gezüchtigten ge¬ richtlicher Schutz zu teil wird, liest mau Seite 35 ff. nicht ohne einige Verwunde¬ rung. Die kritischen Bemerkungen, mit denen Caliver die angeführten Thatsachen und Zahlen begleitet, halten sich in bescheidnen Grenzen und nehmen nicht viel Raum ein. Eine davon wollen wir anführen, weil sie einen Gegenstand betrifft, der in den Grenzboten oft und eingehend behandelt worden ist. Die Wvhnnngs- mieten steigen nicht bloß in den Großstädten. Rodach, Gräfenrvda und Gera sind gewiß keine Weltstädte, aber trotzdem sind dort und in andern thüringischen Städten die Mietpreise für kleine Wohnungen 1898 bis 1899 um 20/ 50, 00 bis 100 Prozent gestiegen. Der Gewerbeinspektor für Sachsen-Koburg-Gotha, Dr. von Schwartz, hat das ermittelt, und er hat auf Grund einer Umfrage, die nahe an tausend Arbeiterfamilien umfaßt, berechnet, daß Leute, die uur 2 Mark täglich verdienen, siebenundfünfzig Tage des Jahres für die Wvhnungsmiete arbeiten müssen, während diese bei 2 bis 3 Mark Verdienst durch achtunddreißigtägige, bei 3 bis 4 Mark durch fünfuuddreißigtägige, bei 4 Mark und darüber durch ueunnndzwanzig- tägige Arbeit aufgebracht wird. Er bezeichnet als zu erstrebendes Ziel einen Miet¬ preis, der anch von den niedrigsten Arbeitercinkommen mir 10 Prozent wegnehme. Cälwer entgegnet, gute Wohnungen so wohlfeil herzustellen, sei nicht möglich, es müßte deun auf dem Wege der Wohlthätigkeit geschehn; das Ziel sei vielmehr, die Arbeitseinkommen soweit zu erhöhen, daß der zehnte Teil davon die Miete für eine anständige Wohnung decke. Die Unternehmer werden sagen, das sei erst recht nicht möglich. May hat sich diesesmal nicht auf das Jahr 1900 beschränkt, sondern ein Jahrhundertwendeubuch von 727 Seiten geliefert: Die Wirtschaft in Vergangen¬ heit, Gegenwart und Zukunft mit 130 Tabellen und vergleichenden Über¬ sichten (ebenfalls bei John Edelheim, 1901). Der Verfasser hat mit staunenswertem Fleiß eine Masse Material zusammengetragen, für die ihm jeder, der dergleichen braucht, dankbar sein wird. Man bekommt u. n. eine Geschichte der Eisenbahn, der Elek¬ trizität, des Telephons, der Genossenschaften, der Gewerkvereine. Aber ein getreues Bild von der Wirtschaft früherer Zeiten bekommt man nicht, sondern nur einzelne dürftige, in die verschiedensten Kapitel verstreute Züge, sodaß also das erste Drittel des Titels zuviel verspricht. Die Hauptsache bleibt der gegenwärtige Zustand, ver¬ glichen mit der jüngsten Vergangenheit zu dem Zweck, die Fortschritte der Mensch¬ heit im glänzendsten Lichte zu zeigen. Denn May ist keineswegs so frei von aller Theorie, wie er sich einbildet; er hat, wie jedermann, seine Grundanschauungen, »ach denen er sich die Thatsachen zurechtlegt, und seine Tendenz, die man als die sozialliberale bezeichnen kann, macht sich in seinem Buche stärker geltend als in dem von Calwer die sozialdemokratische. May gehört zu denen, die sich an Kilometer-, Kilogrammmeter- und Touueuzahleu berauschen und in Entzücken geraten bei dem Gedanken daran, wie herrlich weit wir es gebracht haben. Wir lassen uns hier nicht in Auseinandersetzungen mit dieser Denkungsart ein und beschränken uns auf die Bemerkung, daß, wenn im Deutschen Reiche allein schon die Bevölkerungszahl um 800000 jährlich wächst, natürlich auch alle Zahlen, die sich auf volksivirtschaft- liche Gegenstände beziehn, entsprechend wachsen müssen, und daß ohne die Er- findungen und Entdeckungen der Neuzeit, besonders ohne die dem Verkehr zu gute kommenden, die Behausung und Ernährung dieser ungeheuern auf verhältnismäßig

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/172>, abgerufen am 15.05.2024.