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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Nationalitätskämpfe

gemeine" Umrissen darstellen; die einzelnen Etappen dieses Vordringens müssen,
abgesehen von Ausnahmen, erst noch von der Forschung erschlossen werden.
Das Ergebnis dieses Vordringens war die Vernichtung des gesamten Wenden¬
volks bis auf den kleinen Nest, der bis hente in der Lausitz seiue nationale
Sprache und Art behauptet hat.

Noch vollständiger wurde der den Litauern verwandte Stamm der
Preußen vernichtet, und von den Gebieten der Litauer, Polen und Tschechen
wurden umfängliche Teile germanisiert. Durch diese große kolonisatorische und
germanisatorische Bewegung, die im zwölften Jahrhundert angebahnt und im drei¬
zehnten dnrch eine starke deutsche Bauerneinwandrung begründet ward, wurden dem
Deutschtum vollständig gewonnen: die östlichen Teile Holsteins und Hannovers,
die nördliche Altmark, Mecklenburg, Pommern bis auf unbedeutende kassubische
Bezirke im äußersten Osten, West- und Ostpreußen nur teilweise; ferner das
östliche Thüringen, die Mark Brandenburg und Sachsen bis ans die wendisch
gebliebner Teile der Lausitz, der größte Teil Schlesiens nebst den böhmischen
Randgebirgen und ein großer Teil der Provinz Posen. Im allgemeinen ist
diese germanisatorische Bewegung, die sich auf eine starke deutsche Einwaudruug
stützen konnte, rasch vor sich gegangen. Neben dem bis heute wendisch ge-
bliebner Teile der Lausitz hat sich das Wendentum inmitten der deutschen
Hochflut noch einige Jahrhunderte erhalten im hannöverschen Wendland, im
Altenburgischen und in der mecklenburgischen Jnbelheide. Heute ist auch auf
diesen ehemaligen Sprachinseln die wendische Sprache längst verstummt. Andre
Inseln, auf denen sich das Wendentnm noch längere Zeit nach der deutschen
Einwandruug hielt, dürften sich aus einer Durchforschung der archivalischen
Materialien mit Sicherheit ergeben. Ferner würde sich durch sie zeigen, daß
das Verschwinden der wendischen Nationalität doch nicht so plötzlich war, wie
man vielfach auf Grund der bis jetzt gedruckten Urkunden und getäuscht durch
die untergeordnete Stellung der wendischen Sprache, die sich im öffentlichen
Leben keine Geltung zu verschaffen vermochte, angenommen hat.

Die oben gegebne Aufzählung germanisierter Landschaften nennt nur die,
in denen die Deutschen in zusammenhängender, dichter Masse sitzen. Darüber
hinaus hat sich aber deutsche Siedlung noch weithin nach Osten erstreckt. Die
deutsche Kolonisationsthätigkeit am Südstrande der Ostsee schließt nicht mit
Ostpreußen ab; auch in den heute russischen Ostseeprovinzen sah man in der¬
selben Zeit in den Städten und auf den Edelhöfen deutsches Leben erblühen.
Aber hier fehlte der deutsche Bauernstand, der in den westlichern germanisierten
Landen vor allem die Entscheidung zu Gunsten unsrer Nationalität herbeigeführt
hatte. Und wenn sich das baltische Deutschtum auch mit bewundrungswürdiger
Zähigkeit bis auf den heutigen Tag seine nationale Art bewahrt hat, so ist
es doch nicht über das insulare Dasein hinausgekommen, das es von Anfang
an mitten in der esthnischen und lettischen Bevölkerungsmasse geführt hat.

Die solide Grundlage des Bauernstands war dagegen in den Ausläufern
der mittel- und oberdeutschen Kolonisation im Zipser Land und in Siebenbürgen
wie auch in dem Ländchen Gottschee und im viel später besiedelten Banat,
Wolhynien und Südrußland hervorragend vertreten. Und wer weiß, ob nicht


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gemeine» Umrissen darstellen; die einzelnen Etappen dieses Vordringens müssen,
abgesehen von Ausnahmen, erst noch von der Forschung erschlossen werden.
Das Ergebnis dieses Vordringens war die Vernichtung des gesamten Wenden¬
volks bis auf den kleinen Nest, der bis hente in der Lausitz seiue nationale
Sprache und Art behauptet hat.

Noch vollständiger wurde der den Litauern verwandte Stamm der
Preußen vernichtet, und von den Gebieten der Litauer, Polen und Tschechen
wurden umfängliche Teile germanisiert. Durch diese große kolonisatorische und
germanisatorische Bewegung, die im zwölften Jahrhundert angebahnt und im drei¬
zehnten dnrch eine starke deutsche Bauerneinwandrung begründet ward, wurden dem
Deutschtum vollständig gewonnen: die östlichen Teile Holsteins und Hannovers,
die nördliche Altmark, Mecklenburg, Pommern bis auf unbedeutende kassubische
Bezirke im äußersten Osten, West- und Ostpreußen nur teilweise; ferner das
östliche Thüringen, die Mark Brandenburg und Sachsen bis ans die wendisch
gebliebner Teile der Lausitz, der größte Teil Schlesiens nebst den böhmischen
Randgebirgen und ein großer Teil der Provinz Posen. Im allgemeinen ist
diese germanisatorische Bewegung, die sich auf eine starke deutsche Einwaudruug
stützen konnte, rasch vor sich gegangen. Neben dem bis heute wendisch ge-
bliebner Teile der Lausitz hat sich das Wendentum inmitten der deutschen
Hochflut noch einige Jahrhunderte erhalten im hannöverschen Wendland, im
Altenburgischen und in der mecklenburgischen Jnbelheide. Heute ist auch auf
diesen ehemaligen Sprachinseln die wendische Sprache längst verstummt. Andre
Inseln, auf denen sich das Wendentnm noch längere Zeit nach der deutschen
Einwandruug hielt, dürften sich aus einer Durchforschung der archivalischen
Materialien mit Sicherheit ergeben. Ferner würde sich durch sie zeigen, daß
das Verschwinden der wendischen Nationalität doch nicht so plötzlich war, wie
man vielfach auf Grund der bis jetzt gedruckten Urkunden und getäuscht durch
die untergeordnete Stellung der wendischen Sprache, die sich im öffentlichen
Leben keine Geltung zu verschaffen vermochte, angenommen hat.

Die oben gegebne Aufzählung germanisierter Landschaften nennt nur die,
in denen die Deutschen in zusammenhängender, dichter Masse sitzen. Darüber
hinaus hat sich aber deutsche Siedlung noch weithin nach Osten erstreckt. Die
deutsche Kolonisationsthätigkeit am Südstrande der Ostsee schließt nicht mit
Ostpreußen ab; auch in den heute russischen Ostseeprovinzen sah man in der¬
selben Zeit in den Städten und auf den Edelhöfen deutsches Leben erblühen.
Aber hier fehlte der deutsche Bauernstand, der in den westlichern germanisierten
Landen vor allem die Entscheidung zu Gunsten unsrer Nationalität herbeigeführt
hatte. Und wenn sich das baltische Deutschtum auch mit bewundrungswürdiger
Zähigkeit bis auf den heutigen Tag seine nationale Art bewahrt hat, so ist
es doch nicht über das insulare Dasein hinausgekommen, das es von Anfang
an mitten in der esthnischen und lettischen Bevölkerungsmasse geführt hat.

Die solide Grundlage des Bauernstands war dagegen in den Ausläufern
der mittel- und oberdeutschen Kolonisation im Zipser Land und in Siebenbürgen
wie auch in dem Ländchen Gottschee und im viel später besiedelten Banat,
Wolhynien und Südrußland hervorragend vertreten. Und wer weiß, ob nicht


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[0206] Nationalitätskämpfe gemeine» Umrissen darstellen; die einzelnen Etappen dieses Vordringens müssen, abgesehen von Ausnahmen, erst noch von der Forschung erschlossen werden. Das Ergebnis dieses Vordringens war die Vernichtung des gesamten Wenden¬ volks bis auf den kleinen Nest, der bis hente in der Lausitz seiue nationale Sprache und Art behauptet hat. Noch vollständiger wurde der den Litauern verwandte Stamm der Preußen vernichtet, und von den Gebieten der Litauer, Polen und Tschechen wurden umfängliche Teile germanisiert. Durch diese große kolonisatorische und germanisatorische Bewegung, die im zwölften Jahrhundert angebahnt und im drei¬ zehnten dnrch eine starke deutsche Bauerneinwandrung begründet ward, wurden dem Deutschtum vollständig gewonnen: die östlichen Teile Holsteins und Hannovers, die nördliche Altmark, Mecklenburg, Pommern bis auf unbedeutende kassubische Bezirke im äußersten Osten, West- und Ostpreußen nur teilweise; ferner das östliche Thüringen, die Mark Brandenburg und Sachsen bis ans die wendisch gebliebner Teile der Lausitz, der größte Teil Schlesiens nebst den böhmischen Randgebirgen und ein großer Teil der Provinz Posen. Im allgemeinen ist diese germanisatorische Bewegung, die sich auf eine starke deutsche Einwaudruug stützen konnte, rasch vor sich gegangen. Neben dem bis heute wendisch ge- bliebner Teile der Lausitz hat sich das Wendentum inmitten der deutschen Hochflut noch einige Jahrhunderte erhalten im hannöverschen Wendland, im Altenburgischen und in der mecklenburgischen Jnbelheide. Heute ist auch auf diesen ehemaligen Sprachinseln die wendische Sprache längst verstummt. Andre Inseln, auf denen sich das Wendentnm noch längere Zeit nach der deutschen Einwandruug hielt, dürften sich aus einer Durchforschung der archivalischen Materialien mit Sicherheit ergeben. Ferner würde sich durch sie zeigen, daß das Verschwinden der wendischen Nationalität doch nicht so plötzlich war, wie man vielfach auf Grund der bis jetzt gedruckten Urkunden und getäuscht durch die untergeordnete Stellung der wendischen Sprache, die sich im öffentlichen Leben keine Geltung zu verschaffen vermochte, angenommen hat. Die oben gegebne Aufzählung germanisierter Landschaften nennt nur die, in denen die Deutschen in zusammenhängender, dichter Masse sitzen. Darüber hinaus hat sich aber deutsche Siedlung noch weithin nach Osten erstreckt. Die deutsche Kolonisationsthätigkeit am Südstrande der Ostsee schließt nicht mit Ostpreußen ab; auch in den heute russischen Ostseeprovinzen sah man in der¬ selben Zeit in den Städten und auf den Edelhöfen deutsches Leben erblühen. Aber hier fehlte der deutsche Bauernstand, der in den westlichern germanisierten Landen vor allem die Entscheidung zu Gunsten unsrer Nationalität herbeigeführt hatte. Und wenn sich das baltische Deutschtum auch mit bewundrungswürdiger Zähigkeit bis auf den heutigen Tag seine nationale Art bewahrt hat, so ist es doch nicht über das insulare Dasein hinausgekommen, das es von Anfang an mitten in der esthnischen und lettischen Bevölkerungsmasse geführt hat. Die solide Grundlage des Bauernstands war dagegen in den Ausläufern der mittel- und oberdeutschen Kolonisation im Zipser Land und in Siebenbürgen wie auch in dem Ländchen Gottschee und im viel später besiedelten Banat, Wolhynien und Südrußland hervorragend vertreten. Und wer weiß, ob nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/206>, abgerufen am 14.05.2024.