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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Schweizerische Fernsichten

ihren Entschließungen schwerlich noch ganz frei und ungebunden sein, nicht aber
nur durch die Lage eines Berges zu einer Stadt,

Es ist eine in der Schweiz längst unumwunden anerkannte Thatsache,
daß sie immer dann am besten fahren wird, wenn der fluctus c-no mit dem
Dreibund als mächtigem Friedensunterpfand erhalten bleibt. Wenn Befesti¬
gungen in der deutschen Südwestecke dazu etwas beitragen können, so würde
die Schweiz deren schleunige Anlage, auch wenn sie den Baslern jetzt vielleicht
als Unbequemlichkeit erscheint, befürworten und das kleinere Übel -- wenn es
ein solches wäre -- dem unendlich viel größern vorziehn müssen.

Der schweizerische Bundesrat wird auch in diesem Falle in die Ferne hin
und über den Horizont hinaus schauen, der für manchen von dem niedrigen
Tüllinger Berg gebildet wird.




Wie in diesem einzelnen gerade jetzt aktuellen Falle, so arbeitet eine große
Zahl schweizerischer Journalisten auch auf einem ausgedehntem Gebiete gewohn¬
heitsmäßig fast täglich gegen die wahren Interessen ihres Vaterlands, ohne
es im entferntesten zu wollen oder auch uur zu ahnen; vielmehr sind gerade
sie von glühender Vaterlandsliebe beseelt und so überzeugte, aufrichtige und
ehrliche Demokraten und Republikaner, wie es kaum in einem zweiten Lande
giebt. In ihrer Begeisterung gehn sie aber oft zu weit, treten aus der
.Neutralität" heraus', vermeinen, das, was für sie das Nichtige und Passende
ist, müsse es auch für alle andern sein, und würden am liebsten die ganze Welt
mit den Segnungen der radikal-demokratischen Einrichtungen und Anschauungen
und womöglich mit der republikanischen Staatsform beglücken. Aber nirgends
trifft das Wort: "Eines ziemt sich nicht für alle" mehr zu als da. Niemand
kann bestreikn, daß die neunzehn Kantone und sechs Halbkantone der Schweiz
aus voller historischer Berechtigung heraus ein festgefügtes Staatsgebilde aus¬
machen; wer aber würde z. B. für Deutschland mit seiner siebzehnfach größern
Bevölkerung 425 Kantone gutheißen wollen? In der Schweiz ist das Miliz¬
system vortrefflich durchgeführt, und man geht wohl nicht zu weit, wenn man
es für die dortigen Verhältnisse als das einzig Geeignete und Mögliche be¬
zeichnet; wer aber würde deshalb ernstlich glauben, daß dieses System auch
für das deutsche Reichsheer mit Vorteil anwendbar sei? Nur Schwärmer und
Narren. Man kann nicht verlangen, daß das Edelweiß der Alpen im Weizen-
boden gedeiht, oder umgekehrt Zuckerrüben zwischen Föhren. Unablässig wird
aber in schweizerischen Zeitungen danach gestrebt, demokratische Gesinnung nach
Deutschland zu verpflanzen, "das republikanische Gefühl bei uns aufzufrischen,"
wie sich der Redakteur eiuer bernischen Zeitung ausdrückt. Wie we:t ehren
dies gelingt, ist nebensächlich (oft genug habe ich Deutsche sagen hören: "Je
länger man in der Schweiz lebt, um so überzeugterer Monarchist wird man"),
es handelt sich hier nur um die Absicht, die Tendenz. Deutsche Verhältnisse
werden den staunenden, mitleidigen, entrüsteten Lesern fast durchweg nach den
Auslassungen der Freisinnigen, der Bohnischen und der Frankfurter Zeitung
(auch Simplicissimus!) vorgetragen, da deren Richtung und Gesinnung ihnen


Grenzboten I 1302 ^
Schweizerische Fernsichten

ihren Entschließungen schwerlich noch ganz frei und ungebunden sein, nicht aber
nur durch die Lage eines Berges zu einer Stadt,

Es ist eine in der Schweiz längst unumwunden anerkannte Thatsache,
daß sie immer dann am besten fahren wird, wenn der fluctus c-no mit dem
Dreibund als mächtigem Friedensunterpfand erhalten bleibt. Wenn Befesti¬
gungen in der deutschen Südwestecke dazu etwas beitragen können, so würde
die Schweiz deren schleunige Anlage, auch wenn sie den Baslern jetzt vielleicht
als Unbequemlichkeit erscheint, befürworten und das kleinere Übel — wenn es
ein solches wäre — dem unendlich viel größern vorziehn müssen.

Der schweizerische Bundesrat wird auch in diesem Falle in die Ferne hin
und über den Horizont hinaus schauen, der für manchen von dem niedrigen
Tüllinger Berg gebildet wird.




Wie in diesem einzelnen gerade jetzt aktuellen Falle, so arbeitet eine große
Zahl schweizerischer Journalisten auch auf einem ausgedehntem Gebiete gewohn¬
heitsmäßig fast täglich gegen die wahren Interessen ihres Vaterlands, ohne
es im entferntesten zu wollen oder auch uur zu ahnen; vielmehr sind gerade
sie von glühender Vaterlandsliebe beseelt und so überzeugte, aufrichtige und
ehrliche Demokraten und Republikaner, wie es kaum in einem zweiten Lande
giebt. In ihrer Begeisterung gehn sie aber oft zu weit, treten aus der
.Neutralität" heraus', vermeinen, das, was für sie das Nichtige und Passende
ist, müsse es auch für alle andern sein, und würden am liebsten die ganze Welt
mit den Segnungen der radikal-demokratischen Einrichtungen und Anschauungen
und womöglich mit der republikanischen Staatsform beglücken. Aber nirgends
trifft das Wort: „Eines ziemt sich nicht für alle" mehr zu als da. Niemand
kann bestreikn, daß die neunzehn Kantone und sechs Halbkantone der Schweiz
aus voller historischer Berechtigung heraus ein festgefügtes Staatsgebilde aus¬
machen; wer aber würde z. B. für Deutschland mit seiner siebzehnfach größern
Bevölkerung 425 Kantone gutheißen wollen? In der Schweiz ist das Miliz¬
system vortrefflich durchgeführt, und man geht wohl nicht zu weit, wenn man
es für die dortigen Verhältnisse als das einzig Geeignete und Mögliche be¬
zeichnet; wer aber würde deshalb ernstlich glauben, daß dieses System auch
für das deutsche Reichsheer mit Vorteil anwendbar sei? Nur Schwärmer und
Narren. Man kann nicht verlangen, daß das Edelweiß der Alpen im Weizen-
boden gedeiht, oder umgekehrt Zuckerrüben zwischen Föhren. Unablässig wird
aber in schweizerischen Zeitungen danach gestrebt, demokratische Gesinnung nach
Deutschland zu verpflanzen, „das republikanische Gefühl bei uns aufzufrischen,"
wie sich der Redakteur eiuer bernischen Zeitung ausdrückt. Wie we:t ehren
dies gelingt, ist nebensächlich (oft genug habe ich Deutsche sagen hören: „Je
länger man in der Schweiz lebt, um so überzeugterer Monarchist wird man"),
es handelt sich hier nur um die Absicht, die Tendenz. Deutsche Verhältnisse
werden den staunenden, mitleidigen, entrüsteten Lesern fast durchweg nach den
Auslassungen der Freisinnigen, der Bohnischen und der Frankfurter Zeitung
(auch Simplicissimus!) vorgetragen, da deren Richtung und Gesinnung ihnen


Grenzboten I 1302 ^
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[0249] Schweizerische Fernsichten ihren Entschließungen schwerlich noch ganz frei und ungebunden sein, nicht aber nur durch die Lage eines Berges zu einer Stadt, Es ist eine in der Schweiz längst unumwunden anerkannte Thatsache, daß sie immer dann am besten fahren wird, wenn der fluctus c-no mit dem Dreibund als mächtigem Friedensunterpfand erhalten bleibt. Wenn Befesti¬ gungen in der deutschen Südwestecke dazu etwas beitragen können, so würde die Schweiz deren schleunige Anlage, auch wenn sie den Baslern jetzt vielleicht als Unbequemlichkeit erscheint, befürworten und das kleinere Übel — wenn es ein solches wäre — dem unendlich viel größern vorziehn müssen. Der schweizerische Bundesrat wird auch in diesem Falle in die Ferne hin und über den Horizont hinaus schauen, der für manchen von dem niedrigen Tüllinger Berg gebildet wird. Wie in diesem einzelnen gerade jetzt aktuellen Falle, so arbeitet eine große Zahl schweizerischer Journalisten auch auf einem ausgedehntem Gebiete gewohn¬ heitsmäßig fast täglich gegen die wahren Interessen ihres Vaterlands, ohne es im entferntesten zu wollen oder auch uur zu ahnen; vielmehr sind gerade sie von glühender Vaterlandsliebe beseelt und so überzeugte, aufrichtige und ehrliche Demokraten und Republikaner, wie es kaum in einem zweiten Lande giebt. In ihrer Begeisterung gehn sie aber oft zu weit, treten aus der .Neutralität" heraus', vermeinen, das, was für sie das Nichtige und Passende ist, müsse es auch für alle andern sein, und würden am liebsten die ganze Welt mit den Segnungen der radikal-demokratischen Einrichtungen und Anschauungen und womöglich mit der republikanischen Staatsform beglücken. Aber nirgends trifft das Wort: „Eines ziemt sich nicht für alle" mehr zu als da. Niemand kann bestreikn, daß die neunzehn Kantone und sechs Halbkantone der Schweiz aus voller historischer Berechtigung heraus ein festgefügtes Staatsgebilde aus¬ machen; wer aber würde z. B. für Deutschland mit seiner siebzehnfach größern Bevölkerung 425 Kantone gutheißen wollen? In der Schweiz ist das Miliz¬ system vortrefflich durchgeführt, und man geht wohl nicht zu weit, wenn man es für die dortigen Verhältnisse als das einzig Geeignete und Mögliche be¬ zeichnet; wer aber würde deshalb ernstlich glauben, daß dieses System auch für das deutsche Reichsheer mit Vorteil anwendbar sei? Nur Schwärmer und Narren. Man kann nicht verlangen, daß das Edelweiß der Alpen im Weizen- boden gedeiht, oder umgekehrt Zuckerrüben zwischen Föhren. Unablässig wird aber in schweizerischen Zeitungen danach gestrebt, demokratische Gesinnung nach Deutschland zu verpflanzen, „das republikanische Gefühl bei uns aufzufrischen," wie sich der Redakteur eiuer bernischen Zeitung ausdrückt. Wie we:t ehren dies gelingt, ist nebensächlich (oft genug habe ich Deutsche sagen hören: „Je länger man in der Schweiz lebt, um so überzeugterer Monarchist wird man"), es handelt sich hier nur um die Absicht, die Tendenz. Deutsche Verhältnisse werden den staunenden, mitleidigen, entrüsteten Lesern fast durchweg nach den Auslassungen der Freisinnigen, der Bohnischen und der Frankfurter Zeitung (auch Simplicissimus!) vorgetragen, da deren Richtung und Gesinnung ihnen Grenzboten I 1302 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/249>, abgerufen am 05.06.2024.