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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

erhörte Notwendigkeit gestellt, unter Umständen sein ganzes Ministerium zu wechseln?
Warum endlich hat die doch von den Konservativen ganz und gar beherrschte Kammer
die Situation so zugespitzt, daß ein durchaus konservatives Ministerium seinen Rück¬
tritt erklärte, statt der Krone die Auflösung der Kammer anzuraten? Die Ant¬
wort auf diese Frage ist nicht schwer: die Kammer wollte den Finanzminister
stürzen, da er nicht freiwillig ging; deshalb that ihre Finanzdeputation auch den
höchst auffallenden Schritt, ihr Gutachten zu veröffentlichen, ehe es noch der Kammer
vorgelegt wurde, und diese konnte ganz sicher sein, daß die Regierung nicht zur
Auflösung schreiten würde, dn Neuwahlen bei der tiefen und allgemeinen Mi߬
stimmung, die im Lande über die Finanzwirtschaft der letzten Jahre herrscht, ganz
gewiß keine andre Mehrheit ergeben würden. Die beiden ersten Fragen aber
hängen eng zusammen. Ein offiziöser Artikel des Dresdner Journals erklärt nach¬
drücklich, das Ministerium habe gegen die Auffassung der Kammer, "daß Etat-
Überschreitungen als Verfassungsverletzungen zu gelten hätten," Verwahrung einlegen
wollen. Dann hat es sich also nach dem Urteil des Ministeriums um die Abwehr
eiues Vorstoßes der Kammer gehandelt, dessen Gelingen die Regierung mit ge-
bnndnen Händen deren Beschlüssen überliefert haben würde, und dann allerdings
mußte sich das ganze Ministerium für solidarisch erklären. Nun hat allerdings
der Sprecher der Nationalliberalen, Dr. Schill, betont, es sei gar nicht das bewilligte
Bahnprojekt, sondern ein wesentlich andres ausgeführt und dadurch das Recht des
Landtags verletzt worden, aber der ihm folgende konservative Redner Dr. Stöcke!
hat diese Erklärung dadurch eigentlich wieder aufgehoben, daß er sagte, wenn die
Überschreitungen in den günstigen Jahren der sächsischen Finanzen vorgekommen
wären, so wäre es zu keinem Konflikt gekommen. Man fragt da verwundert:
Tritt denn ein Konflikt derart erst dann ein, wenn die Überschreitung eine be¬
stimmte Summe erreicht, und bei welcher Summe tritt sie ein, oder ist die That¬
sache des Verfassungskonflikts nicht dann ohne weiteres gegeben, wenn die Rechte
der Volksvertretung verletzt werden?

So behält denn schließlich die Auffassung der Minister recht, die in dem Ver¬
fahren der Kammer einen gefährlichen Vorstoß gegen die Selbständigkeit der Re¬
gierung gesehen haben und sich um der Zukunft willen zur Abwehr verpflichtet
glaubten. Nun wird freilich jeder, der die sächsischen Verhältnisse nicht Wetter
kennt, um Aufklärung bitten, wie denn eine konservative Kamniermehrheit zu einem
solchen Vorstöße gegen eine konservative Negierung kommen konnte. Die Erklärung
liegt in den Zuständen der sächsischen Volksvertretung. In einen, Jndustrielaude,
wo die Grenzen zwischen Stadt und Land hinsichtlich der Erwerbsthätigkeit meist
längst verwischt sind, und wo der von der Landwirtschaft lebende Teil der Be¬
völkerung nur etwa 15 Prozent der Einwohnerschaft beträgt, gilt heute noch der
Unterschied zwischen (37) städtischen und (45) ländlichen Wahlkreisen wie vor siebzig
Jahren, und zwar so, daß diese eine ganz unverhältnismäßig große Zahl von Ab¬
geordneten des Grundbesitzes stellen, die städtisch-industriellen Kreise dagegen ver¬
hältnismäßig viel zu schwach vertreten sind. Das neue Wahlgesetz vom 28. März
4896 hat mit seiner Dreiklassenwahl und der Einführung indirekter Wahlen die
starke sächsische Sozialdemokratie, die in deu Reichstag eine so große Anzahl von
Vertretern sendet, geradezu mundtot gemacht und eine konservativ-agrarische Mehr¬
heit in der Zweiten Kammer geschaffen, die diese völlig beherrscht, also Zustände
veranlaßt, die mit dem ganz überwiegend städtisch-industriellen Charakter Sachsens
im schroffsten Widerspruche stehn. Dadurch hat sich die Regierung selbst der
Stellung beraubt, die sie der Volksvertretung gegenüber behaupten muß, wenn sie,
statt konstitutionell-monarchisch zu sein, nicht parlamentarisch werden will, der
Möglichkeit nämlich, über den Parteien zu stehn, unter Umständen die eine gegen
die andre auszuspielen und Mehrheiten von verschiedner Zusammensetzung zu schaffen.
Denn in der sächsischen Zweiten Kammer giebt es jetzt nur zwei Parteien, und
von diesen ist die liberale so schwach, daß sie niemals eine Mehrheit bilden kann.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

erhörte Notwendigkeit gestellt, unter Umständen sein ganzes Ministerium zu wechseln?
Warum endlich hat die doch von den Konservativen ganz und gar beherrschte Kammer
die Situation so zugespitzt, daß ein durchaus konservatives Ministerium seinen Rück¬
tritt erklärte, statt der Krone die Auflösung der Kammer anzuraten? Die Ant¬
wort auf diese Frage ist nicht schwer: die Kammer wollte den Finanzminister
stürzen, da er nicht freiwillig ging; deshalb that ihre Finanzdeputation auch den
höchst auffallenden Schritt, ihr Gutachten zu veröffentlichen, ehe es noch der Kammer
vorgelegt wurde, und diese konnte ganz sicher sein, daß die Regierung nicht zur
Auflösung schreiten würde, dn Neuwahlen bei der tiefen und allgemeinen Mi߬
stimmung, die im Lande über die Finanzwirtschaft der letzten Jahre herrscht, ganz
gewiß keine andre Mehrheit ergeben würden. Die beiden ersten Fragen aber
hängen eng zusammen. Ein offiziöser Artikel des Dresdner Journals erklärt nach¬
drücklich, das Ministerium habe gegen die Auffassung der Kammer, „daß Etat-
Überschreitungen als Verfassungsverletzungen zu gelten hätten," Verwahrung einlegen
wollen. Dann hat es sich also nach dem Urteil des Ministeriums um die Abwehr
eiues Vorstoßes der Kammer gehandelt, dessen Gelingen die Regierung mit ge-
bnndnen Händen deren Beschlüssen überliefert haben würde, und dann allerdings
mußte sich das ganze Ministerium für solidarisch erklären. Nun hat allerdings
der Sprecher der Nationalliberalen, Dr. Schill, betont, es sei gar nicht das bewilligte
Bahnprojekt, sondern ein wesentlich andres ausgeführt und dadurch das Recht des
Landtags verletzt worden, aber der ihm folgende konservative Redner Dr. Stöcke!
hat diese Erklärung dadurch eigentlich wieder aufgehoben, daß er sagte, wenn die
Überschreitungen in den günstigen Jahren der sächsischen Finanzen vorgekommen
wären, so wäre es zu keinem Konflikt gekommen. Man fragt da verwundert:
Tritt denn ein Konflikt derart erst dann ein, wenn die Überschreitung eine be¬
stimmte Summe erreicht, und bei welcher Summe tritt sie ein, oder ist die That¬
sache des Verfassungskonflikts nicht dann ohne weiteres gegeben, wenn die Rechte
der Volksvertretung verletzt werden?

So behält denn schließlich die Auffassung der Minister recht, die in dem Ver¬
fahren der Kammer einen gefährlichen Vorstoß gegen die Selbständigkeit der Re¬
gierung gesehen haben und sich um der Zukunft willen zur Abwehr verpflichtet
glaubten. Nun wird freilich jeder, der die sächsischen Verhältnisse nicht Wetter
kennt, um Aufklärung bitten, wie denn eine konservative Kamniermehrheit zu einem
solchen Vorstöße gegen eine konservative Negierung kommen konnte. Die Erklärung
liegt in den Zuständen der sächsischen Volksvertretung. In einen, Jndustrielaude,
wo die Grenzen zwischen Stadt und Land hinsichtlich der Erwerbsthätigkeit meist
längst verwischt sind, und wo der von der Landwirtschaft lebende Teil der Be¬
völkerung nur etwa 15 Prozent der Einwohnerschaft beträgt, gilt heute noch der
Unterschied zwischen (37) städtischen und (45) ländlichen Wahlkreisen wie vor siebzig
Jahren, und zwar so, daß diese eine ganz unverhältnismäßig große Zahl von Ab¬
geordneten des Grundbesitzes stellen, die städtisch-industriellen Kreise dagegen ver¬
hältnismäßig viel zu schwach vertreten sind. Das neue Wahlgesetz vom 28. März
4896 hat mit seiner Dreiklassenwahl und der Einführung indirekter Wahlen die
starke sächsische Sozialdemokratie, die in deu Reichstag eine so große Anzahl von
Vertretern sendet, geradezu mundtot gemacht und eine konservativ-agrarische Mehr¬
heit in der Zweiten Kammer geschaffen, die diese völlig beherrscht, also Zustände
veranlaßt, die mit dem ganz überwiegend städtisch-industriellen Charakter Sachsens
im schroffsten Widerspruche stehn. Dadurch hat sich die Regierung selbst der
Stellung beraubt, die sie der Volksvertretung gegenüber behaupten muß, wenn sie,
statt konstitutionell-monarchisch zu sein, nicht parlamentarisch werden will, der
Möglichkeit nämlich, über den Parteien zu stehn, unter Umständen die eine gegen
die andre auszuspielen und Mehrheiten von verschiedner Zusammensetzung zu schaffen.
Denn in der sächsischen Zweiten Kammer giebt es jetzt nur zwei Parteien, und
von diesen ist die liberale so schwach, daß sie niemals eine Mehrheit bilden kann.


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[0456] Maßgebliches und Unmaßgebliches erhörte Notwendigkeit gestellt, unter Umständen sein ganzes Ministerium zu wechseln? Warum endlich hat die doch von den Konservativen ganz und gar beherrschte Kammer die Situation so zugespitzt, daß ein durchaus konservatives Ministerium seinen Rück¬ tritt erklärte, statt der Krone die Auflösung der Kammer anzuraten? Die Ant¬ wort auf diese Frage ist nicht schwer: die Kammer wollte den Finanzminister stürzen, da er nicht freiwillig ging; deshalb that ihre Finanzdeputation auch den höchst auffallenden Schritt, ihr Gutachten zu veröffentlichen, ehe es noch der Kammer vorgelegt wurde, und diese konnte ganz sicher sein, daß die Regierung nicht zur Auflösung schreiten würde, dn Neuwahlen bei der tiefen und allgemeinen Mi߬ stimmung, die im Lande über die Finanzwirtschaft der letzten Jahre herrscht, ganz gewiß keine andre Mehrheit ergeben würden. Die beiden ersten Fragen aber hängen eng zusammen. Ein offiziöser Artikel des Dresdner Journals erklärt nach¬ drücklich, das Ministerium habe gegen die Auffassung der Kammer, „daß Etat- Überschreitungen als Verfassungsverletzungen zu gelten hätten," Verwahrung einlegen wollen. Dann hat es sich also nach dem Urteil des Ministeriums um die Abwehr eiues Vorstoßes der Kammer gehandelt, dessen Gelingen die Regierung mit ge- bnndnen Händen deren Beschlüssen überliefert haben würde, und dann allerdings mußte sich das ganze Ministerium für solidarisch erklären. Nun hat allerdings der Sprecher der Nationalliberalen, Dr. Schill, betont, es sei gar nicht das bewilligte Bahnprojekt, sondern ein wesentlich andres ausgeführt und dadurch das Recht des Landtags verletzt worden, aber der ihm folgende konservative Redner Dr. Stöcke! hat diese Erklärung dadurch eigentlich wieder aufgehoben, daß er sagte, wenn die Überschreitungen in den günstigen Jahren der sächsischen Finanzen vorgekommen wären, so wäre es zu keinem Konflikt gekommen. Man fragt da verwundert: Tritt denn ein Konflikt derart erst dann ein, wenn die Überschreitung eine be¬ stimmte Summe erreicht, und bei welcher Summe tritt sie ein, oder ist die That¬ sache des Verfassungskonflikts nicht dann ohne weiteres gegeben, wenn die Rechte der Volksvertretung verletzt werden? So behält denn schließlich die Auffassung der Minister recht, die in dem Ver¬ fahren der Kammer einen gefährlichen Vorstoß gegen die Selbständigkeit der Re¬ gierung gesehen haben und sich um der Zukunft willen zur Abwehr verpflichtet glaubten. Nun wird freilich jeder, der die sächsischen Verhältnisse nicht Wetter kennt, um Aufklärung bitten, wie denn eine konservative Kamniermehrheit zu einem solchen Vorstöße gegen eine konservative Negierung kommen konnte. Die Erklärung liegt in den Zuständen der sächsischen Volksvertretung. In einen, Jndustrielaude, wo die Grenzen zwischen Stadt und Land hinsichtlich der Erwerbsthätigkeit meist längst verwischt sind, und wo der von der Landwirtschaft lebende Teil der Be¬ völkerung nur etwa 15 Prozent der Einwohnerschaft beträgt, gilt heute noch der Unterschied zwischen (37) städtischen und (45) ländlichen Wahlkreisen wie vor siebzig Jahren, und zwar so, daß diese eine ganz unverhältnismäßig große Zahl von Ab¬ geordneten des Grundbesitzes stellen, die städtisch-industriellen Kreise dagegen ver¬ hältnismäßig viel zu schwach vertreten sind. Das neue Wahlgesetz vom 28. März 4896 hat mit seiner Dreiklassenwahl und der Einführung indirekter Wahlen die starke sächsische Sozialdemokratie, die in deu Reichstag eine so große Anzahl von Vertretern sendet, geradezu mundtot gemacht und eine konservativ-agrarische Mehr¬ heit in der Zweiten Kammer geschaffen, die diese völlig beherrscht, also Zustände veranlaßt, die mit dem ganz überwiegend städtisch-industriellen Charakter Sachsens im schroffsten Widerspruche stehn. Dadurch hat sich die Regierung selbst der Stellung beraubt, die sie der Volksvertretung gegenüber behaupten muß, wenn sie, statt konstitutionell-monarchisch zu sein, nicht parlamentarisch werden will, der Möglichkeit nämlich, über den Parteien zu stehn, unter Umständen die eine gegen die andre auszuspielen und Mehrheiten von verschiedner Zusammensetzung zu schaffen. Denn in der sächsischen Zweiten Kammer giebt es jetzt nur zwei Parteien, und von diesen ist die liberale so schwach, daß sie niemals eine Mehrheit bilden kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/456>, abgerufen am 15.05.2024.