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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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August Reichensperger

Windthorst muß als ein parlamentarisches Wunder bezeichnet werden.
Er war weder ein Orator noch ein Gelehrter, sondern ein eminenter Debatter,
schlagfertig, kaltblütig, umsichtig und überaus klug. Er allein war einem
Bismarck gewachsen; er beherrschte stets die Situation, er hatte das feinste
Gefühlsorgan für alle politischen Dinge und verstand mit wunderbarer Kunst
zu manövrieren. Bewundruugswürdig war, wie er sich in jeden, auch den
entlegensten Gegenstand hineinzuarbeiten verstand: er konnte, wenn man ihm
mit wenigen Worten eine Sache dargelegt hatte, sofort eine ausgezeichnete
Rede darüber halten. Unvergleichlich war seine kaltblütige Ruhe; in dem
größten Tumult ging er gelassen zur Tribüne, was mir unmöglich gewesen
wäre, und beschwor den Sturm. Er war ein parlamentarischer Advokat im
höchsten Sinne des Worts, aber kein Staatsmann, obwohl er sich dafür hielt
und als solcher erscheinen wollte. Er war der Mann des Moments, dafür
fehlte ihm aber zuweilen der weite Blick, was sich bei der Beilegung des
Kulturkampfs zeigte, wo er wegen der Anzeigepflicht alles aufgeben wollte.
Eine weitere Schattenseite war, daß er keinen neben sich ertragen konnte und
alles an sich riß. Wurde ein Antrag gestellt, so mußte er seinen Namen
haben; sobald ein Gegner auftrat, meldete er sich zum Wort, damit ihm ja
keiner zuvorkomme. Anders Franckenstein, der alle Eigenschaften eines Fraktions¬
führers hatte. Gegen Schorlemer hat er sich nicht richtig benommen. Aber
für uns war er trotzdem unentbehrlich: es gab Lagen, denen uur er gewachsen
war; gegenüber Bismnrcks heftigsten Angriffen bewahrte er die volle Ruhe.
Freilich kam ihn: auch mancherlei zu statten, was wir andern nicht hatten: die
Exzellenz, seine Orden, seine Vergangenheit als Minister, endlich auch seiue
Häßlichkeit. Wäre er ein schöner Mann gewesen, so hätte er ganz gewiß nicht
so das allgemeine Interesse auf sich gelenkt.

August Reichensperger war und blieb für das innere Leben seiner Partei
von der größten Bedeutung. Er zog sich immer mehr ans die seinen Neigungen
naher liegenden Gebiete der Kunst und der Schriftstellerei zurück, weil er, ein
Politiker der alten Schule, sich nicht mit der fabelhaften Schmiegsamkeit Windt-
horsts in die durch das allgemeine Wahlrecht veränderten Formen der poli¬
tischen Agitation einleben konnte, und weil manches in den Strömungen der
neuen Zeit, z. B. die Idee einer sozialen Reform, ihn: fremdartig war. Daß
^r aber nicht in den Schmollwinkel trat, so oft auch die Entscheidung seiner
Fraktionsgenossen gegen ihn ausfiel, das rechneten ihm diese hoch an, wie sie
it)n denn auch, was Charakter und innern Gehalt und vielseitige, einflußreiche
Bildung anlangt, allen ihren andern Führern und namentlich der kleinen
Exzellenz vorangestellt haben.




August Reichensperger

Windthorst muß als ein parlamentarisches Wunder bezeichnet werden.
Er war weder ein Orator noch ein Gelehrter, sondern ein eminenter Debatter,
schlagfertig, kaltblütig, umsichtig und überaus klug. Er allein war einem
Bismarck gewachsen; er beherrschte stets die Situation, er hatte das feinste
Gefühlsorgan für alle politischen Dinge und verstand mit wunderbarer Kunst
zu manövrieren. Bewundruugswürdig war, wie er sich in jeden, auch den
entlegensten Gegenstand hineinzuarbeiten verstand: er konnte, wenn man ihm
mit wenigen Worten eine Sache dargelegt hatte, sofort eine ausgezeichnete
Rede darüber halten. Unvergleichlich war seine kaltblütige Ruhe; in dem
größten Tumult ging er gelassen zur Tribüne, was mir unmöglich gewesen
wäre, und beschwor den Sturm. Er war ein parlamentarischer Advokat im
höchsten Sinne des Worts, aber kein Staatsmann, obwohl er sich dafür hielt
und als solcher erscheinen wollte. Er war der Mann des Moments, dafür
fehlte ihm aber zuweilen der weite Blick, was sich bei der Beilegung des
Kulturkampfs zeigte, wo er wegen der Anzeigepflicht alles aufgeben wollte.
Eine weitere Schattenseite war, daß er keinen neben sich ertragen konnte und
alles an sich riß. Wurde ein Antrag gestellt, so mußte er seinen Namen
haben; sobald ein Gegner auftrat, meldete er sich zum Wort, damit ihm ja
keiner zuvorkomme. Anders Franckenstein, der alle Eigenschaften eines Fraktions¬
führers hatte. Gegen Schorlemer hat er sich nicht richtig benommen. Aber
für uns war er trotzdem unentbehrlich: es gab Lagen, denen uur er gewachsen
war; gegenüber Bismnrcks heftigsten Angriffen bewahrte er die volle Ruhe.
Freilich kam ihn: auch mancherlei zu statten, was wir andern nicht hatten: die
Exzellenz, seine Orden, seine Vergangenheit als Minister, endlich auch seiue
Häßlichkeit. Wäre er ein schöner Mann gewesen, so hätte er ganz gewiß nicht
so das allgemeine Interesse auf sich gelenkt.

August Reichensperger war und blieb für das innere Leben seiner Partei
von der größten Bedeutung. Er zog sich immer mehr ans die seinen Neigungen
naher liegenden Gebiete der Kunst und der Schriftstellerei zurück, weil er, ein
Politiker der alten Schule, sich nicht mit der fabelhaften Schmiegsamkeit Windt-
horsts in die durch das allgemeine Wahlrecht veränderten Formen der poli¬
tischen Agitation einleben konnte, und weil manches in den Strömungen der
neuen Zeit, z. B. die Idee einer sozialen Reform, ihn: fremdartig war. Daß
^r aber nicht in den Schmollwinkel trat, so oft auch die Entscheidung seiner
Fraktionsgenossen gegen ihn ausfiel, das rechneten ihm diese hoch an, wie sie
it)n denn auch, was Charakter und innern Gehalt und vielseitige, einflußreiche
Bildung anlangt, allen ihren andern Führern und namentlich der kleinen
Exzellenz vorangestellt haben.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/599>, abgerufen am 14.05.2024.