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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Fachwissenschaft beginnt, der kann ein Gelehrter werden, aber er bleibt ein unge¬
bildeter Mensch. Die heutige Feindschaft gegen den Humanismus beruht auf zwei
Modeirrtümeru. Mau sagt, allgemeine Bildung sei heute wegen der Fülle des
Wissensstoffes nicht möglich. Aber der Wissensstoff war im sechzehnten Jahrhundert
gerade so groß wie heute, nur daß die damaligen Naturwissenschaften aus lauter
Irrtümern bestanden, und ein Wust von philosophischen Spitzfindigkeiten, die wir
glücklicherweise los geworden sind, zur allgemeinen Bildung gerechnet wurde. Zum
andern sagt man, die moderne Gesellschaft könne nur Menschen brauchen, die jeder
in seinem Fach tüchtig seien. Aber die allgemeine Bildung ist gerade die beste
Grundlage für eine tüchtige Fachbildung, und nur Geldmangel und die Notwendigkeit,
dem jungen Menschen rasch zum Brotverdienst zu verhelfen, können eine vorzeitige
Spezialisierung entschuldigen. Diesem Übelstande könnte durch Kürzung des Se-
knndärunterrichts einigermaßen abgeholfen werden: wenn man allen überflüssigen
Gelehrtenkram beseitigt und bloß das lehrt, was der Schüler behalten kann und
soll, braucht der Sekundärunterricht nicht über das sechzehnte Jahr ausgedehnt zu
werden. Ein aus lauter gebildeten Menschen bestehendes Volk ist keine Utopie;
Dänemark hat dieses Ideal nahezu verwirklicht.

Wir referieren nur, überlassen die Kritik dieser Ansichten des Novellisten den
Lesern und teilen aus der Kammerverhandlung noch einige Äußerungen mit. Nicht
bloß die Sozialisten, sondern auch Republikaner, wie Ribot, forderten, daß der
Seknndärunterricht allgemein sein und gratis erteilt werden solle. Darauf erwiderte
der Unterrichtsminister, es gehöre keineswegs zum Wesen der Demokratie, daß alle
denselben Unterricht genössen; vernünftig sei nur, daß jeder den seinen Fähigkeiten
und Neigungen entsprechenden empfange. Wenn man alle jungen Leute die Se¬
kundärschulen durchmachen lasse, dann werde die Mehrzahl studieren wollen, und das
Land werde von Ärzten und Advokaten ohne Praxis und von hoffnungslosen Aspi¬
ranten ans Staatsämter wimmeln, die ihr Leben nur als Schmarotzer fristen könnten.
Der Abgeordnete Masse donnerte gegen die Lateinschulen, die eine Schöpfung der
Jesuiten und nur dazu bestimmt seien, einer Kaste von Vornehmen die Herrschaft
über das Volk zu sichern. Begründeter waren seine Angriffe auf die Pedanterie und
den Bureaukratismus der höchsten Unterrichtsbehörde, der Universität; er frischte
die Anekdote von einem Unterrichtsminister aus, der, die Uhr ziehend, zu einem
Besucher gesagt haben soll: In diesem Augenblick wird in alleu Lyceen Frankreichs
der zwanzigste Vers des zweiten Buches der Jliade gelesen. Merkwürdigerweise
war es ein Sozialist, Vivicmi, der den Minister beschuldigte, er wolle mit seiner
Reform den Humanismus totschlagen, und Ribot, der kommende Manu und der
gefürchtetste Gegner des Kabinetts Waldeck-Rousseau, der Vivicmi beschuldigte, er
wolle grausamerweise die humanistische Bildung zu einem aristokratischen Privi¬
legium machen, eine Beschuldigung, die uns nicht gerechtfertigt erscheint, denn unter
den schönen Phrasen des pathetischen und immer schön redenden Viviani (seine
deutschen Parteigenossen könnten sich für die Form ihrer Reden ein Beispiel an
ihm nehmen) kommt auch folgende vor: "Der Primärunterricht ist die Offenbarung
der Menschennatur (I" r6vÄa,lion Äo t'dumauitv), der höhere Unterricht ist die Offen¬
barung der Wahrheit; zwischen beiden steht der Sekundärunterricht als Offenbarung
der Schönheit. Diesen will man jetzt zu einem Fachunterricht herabsetzen; aber
ehe mau die jungen Leute sich in die verschiednen Pfade des Lebens zerstreuen läßt,
sollte man sie die Schönheiten lernen lehren, die sie nie im Leben wiedersehen
werden." Der Minister Lehgues versicherte, es sei keineswegs seine Absicht, den
humanistischen Unterricht totzuschlagen. Im Gegenteil, er sei überzeugt, daß gerade
die Demokratie einer Aristokratie der Intelligenz bedürfe, die sich ans dem Volte
rekrutiere, und über die Zufälligkeiten der materiellen Nützlichkeit erhaben, dem
Volke seine idealen Güter bewahre. Und gerade die lateinischen Völker seien als
Abkömmlinge der Römer zur Pflege der klassischen Bildung berufen: "Zwei Zivili¬
sationen streiten um die Weltherrschaft: die in Rom und Athen geborne und die


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Fachwissenschaft beginnt, der kann ein Gelehrter werden, aber er bleibt ein unge¬
bildeter Mensch. Die heutige Feindschaft gegen den Humanismus beruht auf zwei
Modeirrtümeru. Mau sagt, allgemeine Bildung sei heute wegen der Fülle des
Wissensstoffes nicht möglich. Aber der Wissensstoff war im sechzehnten Jahrhundert
gerade so groß wie heute, nur daß die damaligen Naturwissenschaften aus lauter
Irrtümern bestanden, und ein Wust von philosophischen Spitzfindigkeiten, die wir
glücklicherweise los geworden sind, zur allgemeinen Bildung gerechnet wurde. Zum
andern sagt man, die moderne Gesellschaft könne nur Menschen brauchen, die jeder
in seinem Fach tüchtig seien. Aber die allgemeine Bildung ist gerade die beste
Grundlage für eine tüchtige Fachbildung, und nur Geldmangel und die Notwendigkeit,
dem jungen Menschen rasch zum Brotverdienst zu verhelfen, können eine vorzeitige
Spezialisierung entschuldigen. Diesem Übelstande könnte durch Kürzung des Se-
knndärunterrichts einigermaßen abgeholfen werden: wenn man allen überflüssigen
Gelehrtenkram beseitigt und bloß das lehrt, was der Schüler behalten kann und
soll, braucht der Sekundärunterricht nicht über das sechzehnte Jahr ausgedehnt zu
werden. Ein aus lauter gebildeten Menschen bestehendes Volk ist keine Utopie;
Dänemark hat dieses Ideal nahezu verwirklicht.

Wir referieren nur, überlassen die Kritik dieser Ansichten des Novellisten den
Lesern und teilen aus der Kammerverhandlung noch einige Äußerungen mit. Nicht
bloß die Sozialisten, sondern auch Republikaner, wie Ribot, forderten, daß der
Seknndärunterricht allgemein sein und gratis erteilt werden solle. Darauf erwiderte
der Unterrichtsminister, es gehöre keineswegs zum Wesen der Demokratie, daß alle
denselben Unterricht genössen; vernünftig sei nur, daß jeder den seinen Fähigkeiten
und Neigungen entsprechenden empfange. Wenn man alle jungen Leute die Se¬
kundärschulen durchmachen lasse, dann werde die Mehrzahl studieren wollen, und das
Land werde von Ärzten und Advokaten ohne Praxis und von hoffnungslosen Aspi¬
ranten ans Staatsämter wimmeln, die ihr Leben nur als Schmarotzer fristen könnten.
Der Abgeordnete Masse donnerte gegen die Lateinschulen, die eine Schöpfung der
Jesuiten und nur dazu bestimmt seien, einer Kaste von Vornehmen die Herrschaft
über das Volk zu sichern. Begründeter waren seine Angriffe auf die Pedanterie und
den Bureaukratismus der höchsten Unterrichtsbehörde, der Universität; er frischte
die Anekdote von einem Unterrichtsminister aus, der, die Uhr ziehend, zu einem
Besucher gesagt haben soll: In diesem Augenblick wird in alleu Lyceen Frankreichs
der zwanzigste Vers des zweiten Buches der Jliade gelesen. Merkwürdigerweise
war es ein Sozialist, Vivicmi, der den Minister beschuldigte, er wolle mit seiner
Reform den Humanismus totschlagen, und Ribot, der kommende Manu und der
gefürchtetste Gegner des Kabinetts Waldeck-Rousseau, der Vivicmi beschuldigte, er
wolle grausamerweise die humanistische Bildung zu einem aristokratischen Privi¬
legium machen, eine Beschuldigung, die uns nicht gerechtfertigt erscheint, denn unter
den schönen Phrasen des pathetischen und immer schön redenden Viviani (seine
deutschen Parteigenossen könnten sich für die Form ihrer Reden ein Beispiel an
ihm nehmen) kommt auch folgende vor: „Der Primärunterricht ist die Offenbarung
der Menschennatur (I» r6vÄa,lion Äo t'dumauitv), der höhere Unterricht ist die Offen¬
barung der Wahrheit; zwischen beiden steht der Sekundärunterricht als Offenbarung
der Schönheit. Diesen will man jetzt zu einem Fachunterricht herabsetzen; aber
ehe mau die jungen Leute sich in die verschiednen Pfade des Lebens zerstreuen läßt,
sollte man sie die Schönheiten lernen lehren, die sie nie im Leben wiedersehen
werden." Der Minister Lehgues versicherte, es sei keineswegs seine Absicht, den
humanistischen Unterricht totzuschlagen. Im Gegenteil, er sei überzeugt, daß gerade
die Demokratie einer Aristokratie der Intelligenz bedürfe, die sich ans dem Volte
rekrutiere, und über die Zufälligkeiten der materiellen Nützlichkeit erhaben, dem
Volke seine idealen Güter bewahre. Und gerade die lateinischen Völker seien als
Abkömmlinge der Römer zur Pflege der klassischen Bildung berufen: „Zwei Zivili¬
sationen streiten um die Weltherrschaft: die in Rom und Athen geborne und die


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[0239] Maßgebliches und Unmaßgebliches Fachwissenschaft beginnt, der kann ein Gelehrter werden, aber er bleibt ein unge¬ bildeter Mensch. Die heutige Feindschaft gegen den Humanismus beruht auf zwei Modeirrtümeru. Mau sagt, allgemeine Bildung sei heute wegen der Fülle des Wissensstoffes nicht möglich. Aber der Wissensstoff war im sechzehnten Jahrhundert gerade so groß wie heute, nur daß die damaligen Naturwissenschaften aus lauter Irrtümern bestanden, und ein Wust von philosophischen Spitzfindigkeiten, die wir glücklicherweise los geworden sind, zur allgemeinen Bildung gerechnet wurde. Zum andern sagt man, die moderne Gesellschaft könne nur Menschen brauchen, die jeder in seinem Fach tüchtig seien. Aber die allgemeine Bildung ist gerade die beste Grundlage für eine tüchtige Fachbildung, und nur Geldmangel und die Notwendigkeit, dem jungen Menschen rasch zum Brotverdienst zu verhelfen, können eine vorzeitige Spezialisierung entschuldigen. Diesem Übelstande könnte durch Kürzung des Se- knndärunterrichts einigermaßen abgeholfen werden: wenn man allen überflüssigen Gelehrtenkram beseitigt und bloß das lehrt, was der Schüler behalten kann und soll, braucht der Sekundärunterricht nicht über das sechzehnte Jahr ausgedehnt zu werden. Ein aus lauter gebildeten Menschen bestehendes Volk ist keine Utopie; Dänemark hat dieses Ideal nahezu verwirklicht. Wir referieren nur, überlassen die Kritik dieser Ansichten des Novellisten den Lesern und teilen aus der Kammerverhandlung noch einige Äußerungen mit. Nicht bloß die Sozialisten, sondern auch Republikaner, wie Ribot, forderten, daß der Seknndärunterricht allgemein sein und gratis erteilt werden solle. Darauf erwiderte der Unterrichtsminister, es gehöre keineswegs zum Wesen der Demokratie, daß alle denselben Unterricht genössen; vernünftig sei nur, daß jeder den seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechenden empfange. Wenn man alle jungen Leute die Se¬ kundärschulen durchmachen lasse, dann werde die Mehrzahl studieren wollen, und das Land werde von Ärzten und Advokaten ohne Praxis und von hoffnungslosen Aspi¬ ranten ans Staatsämter wimmeln, die ihr Leben nur als Schmarotzer fristen könnten. Der Abgeordnete Masse donnerte gegen die Lateinschulen, die eine Schöpfung der Jesuiten und nur dazu bestimmt seien, einer Kaste von Vornehmen die Herrschaft über das Volk zu sichern. Begründeter waren seine Angriffe auf die Pedanterie und den Bureaukratismus der höchsten Unterrichtsbehörde, der Universität; er frischte die Anekdote von einem Unterrichtsminister aus, der, die Uhr ziehend, zu einem Besucher gesagt haben soll: In diesem Augenblick wird in alleu Lyceen Frankreichs der zwanzigste Vers des zweiten Buches der Jliade gelesen. Merkwürdigerweise war es ein Sozialist, Vivicmi, der den Minister beschuldigte, er wolle mit seiner Reform den Humanismus totschlagen, und Ribot, der kommende Manu und der gefürchtetste Gegner des Kabinetts Waldeck-Rousseau, der Vivicmi beschuldigte, er wolle grausamerweise die humanistische Bildung zu einem aristokratischen Privi¬ legium machen, eine Beschuldigung, die uns nicht gerechtfertigt erscheint, denn unter den schönen Phrasen des pathetischen und immer schön redenden Viviani (seine deutschen Parteigenossen könnten sich für die Form ihrer Reden ein Beispiel an ihm nehmen) kommt auch folgende vor: „Der Primärunterricht ist die Offenbarung der Menschennatur (I» r6vÄa,lion Äo t'dumauitv), der höhere Unterricht ist die Offen¬ barung der Wahrheit; zwischen beiden steht der Sekundärunterricht als Offenbarung der Schönheit. Diesen will man jetzt zu einem Fachunterricht herabsetzen; aber ehe mau die jungen Leute sich in die verschiednen Pfade des Lebens zerstreuen läßt, sollte man sie die Schönheiten lernen lehren, die sie nie im Leben wiedersehen werden." Der Minister Lehgues versicherte, es sei keineswegs seine Absicht, den humanistischen Unterricht totzuschlagen. Im Gegenteil, er sei überzeugt, daß gerade die Demokratie einer Aristokratie der Intelligenz bedürfe, die sich ans dem Volte rekrutiere, und über die Zufälligkeiten der materiellen Nützlichkeit erhaben, dem Volke seine idealen Güter bewahre. Und gerade die lateinischen Völker seien als Abkömmlinge der Römer zur Pflege der klassischen Bildung berufen: „Zwei Zivili¬ sationen streiten um die Weltherrschaft: die in Rom und Athen geborne und die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/239>, abgerufen am 16.05.2024.