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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Rückständiges in unsrer deutschen wehrverfassung

auch viel öfter die Musterung und die Aushebung nicht abwarten, sondern
freiwillig bei einem Truppenteil eintreten. Dies bedeutet aber für das Heer
eine entschiedne moralische Stärkung, denn jeder liebt die Truppe, die er sich
selbst erwählt; er wünscht, daß seine Söhne später dort auch eintreten sollen,
und so bildet sich ein ideales Band zwischen Familie und Truppe, das oft
für die Führung des Einzelnen von wirksamen Einfluß wird. Deshalb sollte
man übrigens auch bei der Musterung durch die lokalen Behörden schon jeden
angeben lassen, zu welcher Waffengattung er sich wünscht, und danach die
Ersatzverteilttng einrichten, denn die Neigung zur Kavallerie oder zur Marine
ist in den Brigadebezirkcn keineswegs auch nur annähernd gleich.

Um jedoch ans die Losung zurückzukommen, so wäre nur noch nachzu¬
weisen, daß es ein der Willkür ebenso entrücktes und dabei gerechtes Mittel
gäbe, die Zahl der Militärtauglichen auf die festgesetzte Etatsstürke herab zu
bringen.

Abgesehen davon, daß das deutsche Volk, das jährlich über zwei Milliarden
für Bier und Tabak ausgiebt, auch wohl die Mittel hat, allen seinen uach
den gegenwärtigen Bestimmungen militärtauglichen Söhnen ausnahmslos die
für Körper, Geist und Charakter heilsame Heeresschule zu gewähren, hat nun
die Militärverwaltung dieses Mittel in dem unbestrittnen Rechte, auf dem
Verordnungswege die Grenzen der Tauglichkeit für den aktiven Militärdienst
festzusetzen.

Diese Sache ist nicht so schwer, wie sie aussieht, denn die Statistik giebt
sichere Anhalte, und bei der stetigen jährlichen Bevölkerungszunahme um fast drei¬
viertel Millionen wird man nie genötigt sein, eine Verschärfung der Ansprüche
an die Militärtauglichkeit wieder fallen zu lassen. So würde man z. B. die
Freigelvsten der letzten Jahre haben einstellen können, wenn man sich nicht mit
halber normaler Sehschärfe auf einem Auge begnügte, sondern mindestens drei¬
viertel derselben auf einem Auge gefordert Hütte. Welcher Nutzen überdies
allen Waffen, insbesondre aber der Infanterie, daraus erwachsen wäre, wenn
sie nicht mehr mit Kurzsichtigen zu rechnen hätte, bedarf keiner Erörterung.
Ebenso könnte allmählich den Offizieren und den Ärzten viel Mühe und Arbeit
erspart werden, wenn auch die mit geringer Bruchanlage oder die mit den
mittlern Graden der unausgebildeten Plattfüßigkeit und mit Nichtungsfehlern
der Beine behafteten nicht zum ccktiveu Dienst, sondern zur Ersatzreserve über¬
wiesen würden.

Auf ein paar Tausende genau kann das Ministerium allerdings nicht
die voraussichtliche Zahl der Militürtauglichen vorausberechnen, aber um die
bewilligten Verpflegungstage für Mannschaften doch voll auszunutzen und
nicht zu überschreiten, hat es auch noch die Möglichkeit, nach Eingang der
genauen Aushebungsergcbnisse den Tag der Rekruteneinstellung festzusetzen.
Ob nämlich diese bei den Fußtruppen etwa um 5. oder 18. oder am 25. Ok¬
tober erfolgt, ist für die Ausbildung nicht von wesentlicher Bedeutuug, aber
rechnerisch setzt es eine große Zahl von Verpflegungstagen zu oder läßt solche
ersparen. Wenn hierdurch in einzelnen Jahren die Stärke der Kompagnien
nach der Nekruteneinstellung etwas zunehmen sollte, so ist das unbedenklich,


Rückständiges in unsrer deutschen wehrverfassung

auch viel öfter die Musterung und die Aushebung nicht abwarten, sondern
freiwillig bei einem Truppenteil eintreten. Dies bedeutet aber für das Heer
eine entschiedne moralische Stärkung, denn jeder liebt die Truppe, die er sich
selbst erwählt; er wünscht, daß seine Söhne später dort auch eintreten sollen,
und so bildet sich ein ideales Band zwischen Familie und Truppe, das oft
für die Führung des Einzelnen von wirksamen Einfluß wird. Deshalb sollte
man übrigens auch bei der Musterung durch die lokalen Behörden schon jeden
angeben lassen, zu welcher Waffengattung er sich wünscht, und danach die
Ersatzverteilttng einrichten, denn die Neigung zur Kavallerie oder zur Marine
ist in den Brigadebezirkcn keineswegs auch nur annähernd gleich.

Um jedoch ans die Losung zurückzukommen, so wäre nur noch nachzu¬
weisen, daß es ein der Willkür ebenso entrücktes und dabei gerechtes Mittel
gäbe, die Zahl der Militärtauglichen auf die festgesetzte Etatsstürke herab zu
bringen.

Abgesehen davon, daß das deutsche Volk, das jährlich über zwei Milliarden
für Bier und Tabak ausgiebt, auch wohl die Mittel hat, allen seinen uach
den gegenwärtigen Bestimmungen militärtauglichen Söhnen ausnahmslos die
für Körper, Geist und Charakter heilsame Heeresschule zu gewähren, hat nun
die Militärverwaltung dieses Mittel in dem unbestrittnen Rechte, auf dem
Verordnungswege die Grenzen der Tauglichkeit für den aktiven Militärdienst
festzusetzen.

Diese Sache ist nicht so schwer, wie sie aussieht, denn die Statistik giebt
sichere Anhalte, und bei der stetigen jährlichen Bevölkerungszunahme um fast drei¬
viertel Millionen wird man nie genötigt sein, eine Verschärfung der Ansprüche
an die Militärtauglichkeit wieder fallen zu lassen. So würde man z. B. die
Freigelvsten der letzten Jahre haben einstellen können, wenn man sich nicht mit
halber normaler Sehschärfe auf einem Auge begnügte, sondern mindestens drei¬
viertel derselben auf einem Auge gefordert Hütte. Welcher Nutzen überdies
allen Waffen, insbesondre aber der Infanterie, daraus erwachsen wäre, wenn
sie nicht mehr mit Kurzsichtigen zu rechnen hätte, bedarf keiner Erörterung.
Ebenso könnte allmählich den Offizieren und den Ärzten viel Mühe und Arbeit
erspart werden, wenn auch die mit geringer Bruchanlage oder die mit den
mittlern Graden der unausgebildeten Plattfüßigkeit und mit Nichtungsfehlern
der Beine behafteten nicht zum ccktiveu Dienst, sondern zur Ersatzreserve über¬
wiesen würden.

Auf ein paar Tausende genau kann das Ministerium allerdings nicht
die voraussichtliche Zahl der Militürtauglichen vorausberechnen, aber um die
bewilligten Verpflegungstage für Mannschaften doch voll auszunutzen und
nicht zu überschreiten, hat es auch noch die Möglichkeit, nach Eingang der
genauen Aushebungsergcbnisse den Tag der Rekruteneinstellung festzusetzen.
Ob nämlich diese bei den Fußtruppen etwa um 5. oder 18. oder am 25. Ok¬
tober erfolgt, ist für die Ausbildung nicht von wesentlicher Bedeutuug, aber
rechnerisch setzt es eine große Zahl von Verpflegungstagen zu oder läßt solche
ersparen. Wenn hierdurch in einzelnen Jahren die Stärke der Kompagnien
nach der Nekruteneinstellung etwas zunehmen sollte, so ist das unbedenklich,


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[0468] Rückständiges in unsrer deutschen wehrverfassung auch viel öfter die Musterung und die Aushebung nicht abwarten, sondern freiwillig bei einem Truppenteil eintreten. Dies bedeutet aber für das Heer eine entschiedne moralische Stärkung, denn jeder liebt die Truppe, die er sich selbst erwählt; er wünscht, daß seine Söhne später dort auch eintreten sollen, und so bildet sich ein ideales Band zwischen Familie und Truppe, das oft für die Führung des Einzelnen von wirksamen Einfluß wird. Deshalb sollte man übrigens auch bei der Musterung durch die lokalen Behörden schon jeden angeben lassen, zu welcher Waffengattung er sich wünscht, und danach die Ersatzverteilttng einrichten, denn die Neigung zur Kavallerie oder zur Marine ist in den Brigadebezirkcn keineswegs auch nur annähernd gleich. Um jedoch ans die Losung zurückzukommen, so wäre nur noch nachzu¬ weisen, daß es ein der Willkür ebenso entrücktes und dabei gerechtes Mittel gäbe, die Zahl der Militärtauglichen auf die festgesetzte Etatsstürke herab zu bringen. Abgesehen davon, daß das deutsche Volk, das jährlich über zwei Milliarden für Bier und Tabak ausgiebt, auch wohl die Mittel hat, allen seinen uach den gegenwärtigen Bestimmungen militärtauglichen Söhnen ausnahmslos die für Körper, Geist und Charakter heilsame Heeresschule zu gewähren, hat nun die Militärverwaltung dieses Mittel in dem unbestrittnen Rechte, auf dem Verordnungswege die Grenzen der Tauglichkeit für den aktiven Militärdienst festzusetzen. Diese Sache ist nicht so schwer, wie sie aussieht, denn die Statistik giebt sichere Anhalte, und bei der stetigen jährlichen Bevölkerungszunahme um fast drei¬ viertel Millionen wird man nie genötigt sein, eine Verschärfung der Ansprüche an die Militärtauglichkeit wieder fallen zu lassen. So würde man z. B. die Freigelvsten der letzten Jahre haben einstellen können, wenn man sich nicht mit halber normaler Sehschärfe auf einem Auge begnügte, sondern mindestens drei¬ viertel derselben auf einem Auge gefordert Hütte. Welcher Nutzen überdies allen Waffen, insbesondre aber der Infanterie, daraus erwachsen wäre, wenn sie nicht mehr mit Kurzsichtigen zu rechnen hätte, bedarf keiner Erörterung. Ebenso könnte allmählich den Offizieren und den Ärzten viel Mühe und Arbeit erspart werden, wenn auch die mit geringer Bruchanlage oder die mit den mittlern Graden der unausgebildeten Plattfüßigkeit und mit Nichtungsfehlern der Beine behafteten nicht zum ccktiveu Dienst, sondern zur Ersatzreserve über¬ wiesen würden. Auf ein paar Tausende genau kann das Ministerium allerdings nicht die voraussichtliche Zahl der Militürtauglichen vorausberechnen, aber um die bewilligten Verpflegungstage für Mannschaften doch voll auszunutzen und nicht zu überschreiten, hat es auch noch die Möglichkeit, nach Eingang der genauen Aushebungsergcbnisse den Tag der Rekruteneinstellung festzusetzen. Ob nämlich diese bei den Fußtruppen etwa um 5. oder 18. oder am 25. Ok¬ tober erfolgt, ist für die Ausbildung nicht von wesentlicher Bedeutuug, aber rechnerisch setzt es eine große Zahl von Verpflegungstagen zu oder läßt solche ersparen. Wenn hierdurch in einzelnen Jahren die Stärke der Kompagnien nach der Nekruteneinstellung etwas zunehmen sollte, so ist das unbedenklich,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/468>, abgerufen am 15.05.2024.