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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Doktor Duttmüller und sein Freund

Dies mußte ein ungelöstes Rätsel bleiben. Hatte man die Thür fahrlässig unver¬
schlossen gelassen? oder bvshaftcrweise das Schloß beschädigt? Kein Mensch konnte
es sagen.

Bald darauf faud man unter dem Schütte eines der abgebrannten Schuppen
den bekannten Stock Duttmüllers angelobte vor. Es war also anzunehmen, daß
Duttmüller auch dieses Unheil angerichtet hatte. Dieser Schaden wäre nicht schwer
zu ertragen gewesen; wenn es aber nicht gelang, das Wasser zu zwingen, so waren
Millionen an Wert verloren, so war nicht allein die Kaligesellschaft, sondern auch
halb Holzweißig, das heißt alle, die Häuser gebaut oder Geschäfte gegründet hatten,
bankerott.

Vielleicht wundert sich der Leser, daß er von der Revolte und dem Unglücks¬
fall in Heinrichshnll seinerzeit nichts in der Zeitung gelesen hat. Wir schreiben
doch eine Geschichte aus der Gegenwart, und was in der Gegenwart geschieht, steht
doch in der Zeitung. Der Leser hat es doch gelesen. Natürlich uuter anderen Namen.
Auch hat man von den kriegerischen Ereignissen kein großes Aufhebens gemacht,
denn die Sache hatte zwar viel Pulver gekostet, war aber doch recht harmlos ver¬
laufen, ja sie entbehrte nicht eines gewissen humoristischen Beigeschmacks. Es lag also
allen Beteiligten nicht viel daran, daß die Geschichte an die große Glocke gebracht
Werde, und man vertuschte, was zu vertuschen war. Was um so leichter war, als
das Interesse durch das Begräbnis des Herrn Oberstleutnants und den Wassereinbruch
Von Heinrichshall anderweit in Anspruch genommen wurde.

Als man dem Direktor gesagt hatte, wie es stehe, und er es endlich begriffen
hatte, fuhr er aus seiner Sofaecke heraus, lachte aus vollem Halse, schlug sich auf die
Taschen und tauzte im Zimmer herum. Darauf stellte er sich gravitätisch vor Wandrer
hiu, tippte ihm auf die Brust und sagte: Wandrer, setzen Sie sich, aus Ihnen wird
nichts, Wandrer, Sie sind ein Stiefel. Darauf setzte er sich wieder in seine Sofaecke,
sank in sich zusammen, nickte mit dem Kopfe und rechnete wirre Zahlen zusammen.

Wandrer hatte seine Aktien nicht verkauft. Es wäre im Drange der Ereig¬
nisse nicht einmal möglich gewesen. Er hätte es auch nicht über sich vermocht, sich
seiner Wertpapiere zu entledigen in der gewissen Aussicht, daß sie binnen kurzem
wertlos sein würden. Er hätte das für Betrug gehalten. Er war wirklich ein
Stiefel, und vielleicht hatte der Direktor Recht, daß er mit solchen Ideen als Kauf¬
mann nicht weit werde kommen können. Es war hart, daß alles, was er in
soviel Jahren schwerer Arbeit gespart, erübrigt und gemehrt hatte, wie im Hand¬
umdrehn weg sein sollte. Man würde ja natürlich alles versuchen, das Werk zu
retten, aber Wandrer hatte nicht viel Vertrauen dazu. Er kannte die Namen
der Werke, die man nach dem Wassereinbruche nicht hatte retten können, und die
nun tot dalagen, nur zu gut. Und auch seine Stellung mußte damit unhaltbar
werden. Man würde ihm eines Tages mit Worten der Anerkennung kündige", und
dann konnte er sehen, wo er wieder ankam. Das ließ in ihm ein Gefühl der Bitter¬
keit wie über erfahrnes Unrecht entstehn. Besonders wenn er an Doktor Louis Dutt¬
müller dachte. War er etwas schlechteres als jener? Verstand er sein Geschäft
weniger als er? Warum mußte diesem Menschen alles glücken, ihm nicht? Warum
saß der mit Weib und Kind geborgen am sichern Ort, während ihm, dem sich kaum
eine erfreuliche Aussicht aufgethan hatte, alles wieder in weiter Ferne verschwand?
Aber war er es denn allein, den das Unglück getroffen hatte? Die Aktionäre waren
ebenso hart betroffen. Mancher verlor sein ganzes Vermögen und mußte den Konkurs
anmelden. Und Rummel, Drillhose, Olbrich, sie alle wurden auf die Straße geworfen
und mochten sehen, wo sie blieben. Und diese Hunderte von Arbeitern. Den Tu-
multuanten war es zu gönnen , wenn sie sich in die Nesseln gesetzt hatten, aber die
ordentlichen Leute, die Hausbesitzer, die ihr letztes dahingegeben und Geld dazu
geborgt hatten, um Wohnungen zu bauen und zu vermieten -- und nun flogen die
Arbeiter davon wie die Tauben vom Schlage. Es war doch scheußlich, wie die
blödsinnige That eines einzigen Menschen so vieler Leute Existenz vernichten konnte.


Doktor Duttmüller und sein Freund

Dies mußte ein ungelöstes Rätsel bleiben. Hatte man die Thür fahrlässig unver¬
schlossen gelassen? oder bvshaftcrweise das Schloß beschädigt? Kein Mensch konnte
es sagen.

Bald darauf faud man unter dem Schütte eines der abgebrannten Schuppen
den bekannten Stock Duttmüllers angelobte vor. Es war also anzunehmen, daß
Duttmüller auch dieses Unheil angerichtet hatte. Dieser Schaden wäre nicht schwer
zu ertragen gewesen; wenn es aber nicht gelang, das Wasser zu zwingen, so waren
Millionen an Wert verloren, so war nicht allein die Kaligesellschaft, sondern auch
halb Holzweißig, das heißt alle, die Häuser gebaut oder Geschäfte gegründet hatten,
bankerott.

Vielleicht wundert sich der Leser, daß er von der Revolte und dem Unglücks¬
fall in Heinrichshnll seinerzeit nichts in der Zeitung gelesen hat. Wir schreiben
doch eine Geschichte aus der Gegenwart, und was in der Gegenwart geschieht, steht
doch in der Zeitung. Der Leser hat es doch gelesen. Natürlich uuter anderen Namen.
Auch hat man von den kriegerischen Ereignissen kein großes Aufhebens gemacht,
denn die Sache hatte zwar viel Pulver gekostet, war aber doch recht harmlos ver¬
laufen, ja sie entbehrte nicht eines gewissen humoristischen Beigeschmacks. Es lag also
allen Beteiligten nicht viel daran, daß die Geschichte an die große Glocke gebracht
Werde, und man vertuschte, was zu vertuschen war. Was um so leichter war, als
das Interesse durch das Begräbnis des Herrn Oberstleutnants und den Wassereinbruch
Von Heinrichshall anderweit in Anspruch genommen wurde.

Als man dem Direktor gesagt hatte, wie es stehe, und er es endlich begriffen
hatte, fuhr er aus seiner Sofaecke heraus, lachte aus vollem Halse, schlug sich auf die
Taschen und tauzte im Zimmer herum. Darauf stellte er sich gravitätisch vor Wandrer
hiu, tippte ihm auf die Brust und sagte: Wandrer, setzen Sie sich, aus Ihnen wird
nichts, Wandrer, Sie sind ein Stiefel. Darauf setzte er sich wieder in seine Sofaecke,
sank in sich zusammen, nickte mit dem Kopfe und rechnete wirre Zahlen zusammen.

Wandrer hatte seine Aktien nicht verkauft. Es wäre im Drange der Ereig¬
nisse nicht einmal möglich gewesen. Er hätte es auch nicht über sich vermocht, sich
seiner Wertpapiere zu entledigen in der gewissen Aussicht, daß sie binnen kurzem
wertlos sein würden. Er hätte das für Betrug gehalten. Er war wirklich ein
Stiefel, und vielleicht hatte der Direktor Recht, daß er mit solchen Ideen als Kauf¬
mann nicht weit werde kommen können. Es war hart, daß alles, was er in
soviel Jahren schwerer Arbeit gespart, erübrigt und gemehrt hatte, wie im Hand¬
umdrehn weg sein sollte. Man würde ja natürlich alles versuchen, das Werk zu
retten, aber Wandrer hatte nicht viel Vertrauen dazu. Er kannte die Namen
der Werke, die man nach dem Wassereinbruche nicht hatte retten können, und die
nun tot dalagen, nur zu gut. Und auch seine Stellung mußte damit unhaltbar
werden. Man würde ihm eines Tages mit Worten der Anerkennung kündige», und
dann konnte er sehen, wo er wieder ankam. Das ließ in ihm ein Gefühl der Bitter¬
keit wie über erfahrnes Unrecht entstehn. Besonders wenn er an Doktor Louis Dutt¬
müller dachte. War er etwas schlechteres als jener? Verstand er sein Geschäft
weniger als er? Warum mußte diesem Menschen alles glücken, ihm nicht? Warum
saß der mit Weib und Kind geborgen am sichern Ort, während ihm, dem sich kaum
eine erfreuliche Aussicht aufgethan hatte, alles wieder in weiter Ferne verschwand?
Aber war er es denn allein, den das Unglück getroffen hatte? Die Aktionäre waren
ebenso hart betroffen. Mancher verlor sein ganzes Vermögen und mußte den Konkurs
anmelden. Und Rummel, Drillhose, Olbrich, sie alle wurden auf die Straße geworfen
und mochten sehen, wo sie blieben. Und diese Hunderte von Arbeitern. Den Tu-
multuanten war es zu gönnen , wenn sie sich in die Nesseln gesetzt hatten, aber die
ordentlichen Leute, die Hausbesitzer, die ihr letztes dahingegeben und Geld dazu
geborgt hatten, um Wohnungen zu bauen und zu vermieten — und nun flogen die
Arbeiter davon wie die Tauben vom Schlage. Es war doch scheußlich, wie die
blödsinnige That eines einzigen Menschen so vieler Leute Existenz vernichten konnte.


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[0621] Doktor Duttmüller und sein Freund Dies mußte ein ungelöstes Rätsel bleiben. Hatte man die Thür fahrlässig unver¬ schlossen gelassen? oder bvshaftcrweise das Schloß beschädigt? Kein Mensch konnte es sagen. Bald darauf faud man unter dem Schütte eines der abgebrannten Schuppen den bekannten Stock Duttmüllers angelobte vor. Es war also anzunehmen, daß Duttmüller auch dieses Unheil angerichtet hatte. Dieser Schaden wäre nicht schwer zu ertragen gewesen; wenn es aber nicht gelang, das Wasser zu zwingen, so waren Millionen an Wert verloren, so war nicht allein die Kaligesellschaft, sondern auch halb Holzweißig, das heißt alle, die Häuser gebaut oder Geschäfte gegründet hatten, bankerott. Vielleicht wundert sich der Leser, daß er von der Revolte und dem Unglücks¬ fall in Heinrichshnll seinerzeit nichts in der Zeitung gelesen hat. Wir schreiben doch eine Geschichte aus der Gegenwart, und was in der Gegenwart geschieht, steht doch in der Zeitung. Der Leser hat es doch gelesen. Natürlich uuter anderen Namen. Auch hat man von den kriegerischen Ereignissen kein großes Aufhebens gemacht, denn die Sache hatte zwar viel Pulver gekostet, war aber doch recht harmlos ver¬ laufen, ja sie entbehrte nicht eines gewissen humoristischen Beigeschmacks. Es lag also allen Beteiligten nicht viel daran, daß die Geschichte an die große Glocke gebracht Werde, und man vertuschte, was zu vertuschen war. Was um so leichter war, als das Interesse durch das Begräbnis des Herrn Oberstleutnants und den Wassereinbruch Von Heinrichshall anderweit in Anspruch genommen wurde. Als man dem Direktor gesagt hatte, wie es stehe, und er es endlich begriffen hatte, fuhr er aus seiner Sofaecke heraus, lachte aus vollem Halse, schlug sich auf die Taschen und tauzte im Zimmer herum. Darauf stellte er sich gravitätisch vor Wandrer hiu, tippte ihm auf die Brust und sagte: Wandrer, setzen Sie sich, aus Ihnen wird nichts, Wandrer, Sie sind ein Stiefel. Darauf setzte er sich wieder in seine Sofaecke, sank in sich zusammen, nickte mit dem Kopfe und rechnete wirre Zahlen zusammen. Wandrer hatte seine Aktien nicht verkauft. Es wäre im Drange der Ereig¬ nisse nicht einmal möglich gewesen. Er hätte es auch nicht über sich vermocht, sich seiner Wertpapiere zu entledigen in der gewissen Aussicht, daß sie binnen kurzem wertlos sein würden. Er hätte das für Betrug gehalten. Er war wirklich ein Stiefel, und vielleicht hatte der Direktor Recht, daß er mit solchen Ideen als Kauf¬ mann nicht weit werde kommen können. Es war hart, daß alles, was er in soviel Jahren schwerer Arbeit gespart, erübrigt und gemehrt hatte, wie im Hand¬ umdrehn weg sein sollte. Man würde ja natürlich alles versuchen, das Werk zu retten, aber Wandrer hatte nicht viel Vertrauen dazu. Er kannte die Namen der Werke, die man nach dem Wassereinbruche nicht hatte retten können, und die nun tot dalagen, nur zu gut. Und auch seine Stellung mußte damit unhaltbar werden. Man würde ihm eines Tages mit Worten der Anerkennung kündige», und dann konnte er sehen, wo er wieder ankam. Das ließ in ihm ein Gefühl der Bitter¬ keit wie über erfahrnes Unrecht entstehn. Besonders wenn er an Doktor Louis Dutt¬ müller dachte. War er etwas schlechteres als jener? Verstand er sein Geschäft weniger als er? Warum mußte diesem Menschen alles glücken, ihm nicht? Warum saß der mit Weib und Kind geborgen am sichern Ort, während ihm, dem sich kaum eine erfreuliche Aussicht aufgethan hatte, alles wieder in weiter Ferne verschwand? Aber war er es denn allein, den das Unglück getroffen hatte? Die Aktionäre waren ebenso hart betroffen. Mancher verlor sein ganzes Vermögen und mußte den Konkurs anmelden. Und Rummel, Drillhose, Olbrich, sie alle wurden auf die Straße geworfen und mochten sehen, wo sie blieben. Und diese Hunderte von Arbeitern. Den Tu- multuanten war es zu gönnen , wenn sie sich in die Nesseln gesetzt hatten, aber die ordentlichen Leute, die Hausbesitzer, die ihr letztes dahingegeben und Geld dazu geborgt hatten, um Wohnungen zu bauen und zu vermieten — und nun flogen die Arbeiter davon wie die Tauben vom Schlage. Es war doch scheußlich, wie die blödsinnige That eines einzigen Menschen so vieler Leute Existenz vernichten konnte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/621>, abgerufen am 16.05.2024.