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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Bülolv, die sich im Widerspruch mit der "Volksmeinung" bewegt habe und bewege,
indem sie mit England ein möglichst gutes Verhältnis erstrebe und den Buren nicht
irgendwie zu Hilfe gekommen sei, für eine weitgehende Unzufriedenheit verantwortlich
gemacht. Nun, die Zeiten der Burenschwärmerei, wo man in jedem Buren einen
Helden sah wie 1830 in jedem Polen, sind doch um wohl bei verständigen Leuten
vorüber (wenigstens "gehn" die "Burenbücher" zum Ärger ihrer Verleger gar
nicht), und die Wirkungen, die alle die jahrelang tagtäglich zur Schau getragne
Gehässigkeit gegen die englische Politik und Kriegführung auf die doch ziemlich
wichtige Stimmung des englischen Volks zu unserm Nachteil geübt hat und noch
übt, die sind so klar, daß nur ein Blinder sie nicht sehen kann. Wenn Fürst
Herbert Bismarck in seinem Wahlaufrufe, worin er die Politik des Reichskanzlers,
d. h. die des Kaisers aufs schärfste zu kritisieren für zweckmäßig hielt, sie als "eine
Politik der Verbeugungen" bezeichnete, so hat der frühere Diplomat wohl ganz
vergessen, daß auch der mächtigste Staat mit einer Politik der Grobheiten noch
viel weniger ausgerichtet hat, und daß der alte Satz: tortitor in rs, su-rvitor in
mondo auch für deu Völkerverkehr gilt. Vollends lächerlich ist es, die Kirchenpolitik
des Reichskanzlers, namentlich sein Eintreten für die Aufhebung des Paragraphen 2
des Jcsuitengesetzes für den Zuwachs der sozialdemokratischen Stimmen verant¬
wortlich zu machen. Diese Partei ist doch immer für die Aufhebung des ganzen
Jesuitengesetzes, nicht nur des Paragraphen 2 eingetreten; wer also in blinder Un¬
zufriedenheit dieser Partei seine Stimme zugewandt hat, der hat sich damit gerade
für Graf Bülows Politik ausgesprochen! Daß dieser der römischen Kirche jedes
mögliche Entgegenkommen beweist, kann doch nur einseitigen und kurzsichtigen
Protestanten ein Anstoß sein, denn konfessionelle Politik, das kann nicht oft und
nicht scharf genng gesagt werden, darf ein deutscher Staatsmann nun einmal heute
nicht treiben. Der häufigste Vorwurf endlich ist der, die Regierung habe keine
"Wahlparole" ausgegeben. Gab es wirklich keine? Ist nicht sonnenklar, daß es die
Aufgabe des nächsten Reichstags sein wird, die Handelsverträge auf Grund des Zoll¬
tarifs zu bewilligen und fiir die weitere Verstärkung unsrer Wehrmacht namentlich
zur See zu sorgen? Wozu sollte die Regierung noch einmal ausdrücklich sagen,
daß ihr daran gelegen sei? Eine Wahlparole läßt sich überhaupt nicht künstlich
machen; auch Fürst Bismarck hat eine solche nur dann ausgegeben, wenn sie eben
von selbst kam, wie 1878 und 1887. Was für ein Armutszeugnis auch für das
selbständig denkende deutsche Bürgertum, wenn es immer nach einem Gängelbande
schreit und doch die Hand zurückstößt, die es gängeln Will!

Kurz, alle diese Gründe sind fadenscheinig, künstlich aufgebauscht von einem Teile
der Presse -- leider gerade auch von konservativen Blättern-- die an der Reichsregierung
fortwährend hernmnörgelt und die Unzufriedenheit mit ihr zu schüren nicht müde
wird. Abgesehen von der unleugbaren Tatsache, daß nun einmal auch der politisch
reifste Wühler allerorten die Neigung hat, seinen Ärger über alles, was ihm im
öffentlichen Leben mißfällt, darin zu äußern, daß er seine Stimme für einen der
Regierung möglichst unbequemen Kandidaten abgibt, daß also zum Beispiel der
Ausfall der Reichstagswahlen in Sachsen wesentlich in dieser Eigentümlichkeit seinen
Grund hat, gibt es nur zwei wirkliche Ursachen für das Wachstum der sozial-
demokratischen Stimmen, nämlich das Wachstum der städtisch-industriellen Arbeiter¬
bevölkerung, das ja vom Bürgertum mit allen Mitteln gefördert wird, und die
Zerfahrenheit der bürgerlichen Parteien, die sich vor der Wahl bis aufs Blut be¬
kämpfen und sich dadurch gegenseitig so ärgern, daß die in der Hauptwahl unter¬
liegende Partei bei der Stichwahl aus bloßer Wut die verwandte siegreiche Partei
im Stiche läßt oder auch gegen ihren Kandidaten stimmt. Darin wird keine
Parteiorganisation viel ändern. Die speziell bürgerlichen Parteien beherrschen eben
die Massen nicht, wie das Zentrum und die Sozialdemokratie; ihre Gefolgschaften
bilden, weil sie im ganzen doch den gebildeten! Schichten angehören, zu wenig von
der Herdennatnr, die Schlagworten und Führern blind nachläuft.


MaszgMichcs ullo Unuiaßgcl'liebes

Bülolv, die sich im Widerspruch mit der „Volksmeinung" bewegt habe und bewege,
indem sie mit England ein möglichst gutes Verhältnis erstrebe und den Buren nicht
irgendwie zu Hilfe gekommen sei, für eine weitgehende Unzufriedenheit verantwortlich
gemacht. Nun, die Zeiten der Burenschwärmerei, wo man in jedem Buren einen
Helden sah wie 1830 in jedem Polen, sind doch um wohl bei verständigen Leuten
vorüber (wenigstens „gehn" die „Burenbücher" zum Ärger ihrer Verleger gar
nicht), und die Wirkungen, die alle die jahrelang tagtäglich zur Schau getragne
Gehässigkeit gegen die englische Politik und Kriegführung auf die doch ziemlich
wichtige Stimmung des englischen Volks zu unserm Nachteil geübt hat und noch
übt, die sind so klar, daß nur ein Blinder sie nicht sehen kann. Wenn Fürst
Herbert Bismarck in seinem Wahlaufrufe, worin er die Politik des Reichskanzlers,
d. h. die des Kaisers aufs schärfste zu kritisieren für zweckmäßig hielt, sie als „eine
Politik der Verbeugungen" bezeichnete, so hat der frühere Diplomat wohl ganz
vergessen, daß auch der mächtigste Staat mit einer Politik der Grobheiten noch
viel weniger ausgerichtet hat, und daß der alte Satz: tortitor in rs, su-rvitor in
mondo auch für deu Völkerverkehr gilt. Vollends lächerlich ist es, die Kirchenpolitik
des Reichskanzlers, namentlich sein Eintreten für die Aufhebung des Paragraphen 2
des Jcsuitengesetzes für den Zuwachs der sozialdemokratischen Stimmen verant¬
wortlich zu machen. Diese Partei ist doch immer für die Aufhebung des ganzen
Jesuitengesetzes, nicht nur des Paragraphen 2 eingetreten; wer also in blinder Un¬
zufriedenheit dieser Partei seine Stimme zugewandt hat, der hat sich damit gerade
für Graf Bülows Politik ausgesprochen! Daß dieser der römischen Kirche jedes
mögliche Entgegenkommen beweist, kann doch nur einseitigen und kurzsichtigen
Protestanten ein Anstoß sein, denn konfessionelle Politik, das kann nicht oft und
nicht scharf genng gesagt werden, darf ein deutscher Staatsmann nun einmal heute
nicht treiben. Der häufigste Vorwurf endlich ist der, die Regierung habe keine
„Wahlparole" ausgegeben. Gab es wirklich keine? Ist nicht sonnenklar, daß es die
Aufgabe des nächsten Reichstags sein wird, die Handelsverträge auf Grund des Zoll¬
tarifs zu bewilligen und fiir die weitere Verstärkung unsrer Wehrmacht namentlich
zur See zu sorgen? Wozu sollte die Regierung noch einmal ausdrücklich sagen,
daß ihr daran gelegen sei? Eine Wahlparole läßt sich überhaupt nicht künstlich
machen; auch Fürst Bismarck hat eine solche nur dann ausgegeben, wenn sie eben
von selbst kam, wie 1878 und 1887. Was für ein Armutszeugnis auch für das
selbständig denkende deutsche Bürgertum, wenn es immer nach einem Gängelbande
schreit und doch die Hand zurückstößt, die es gängeln Will!

Kurz, alle diese Gründe sind fadenscheinig, künstlich aufgebauscht von einem Teile
der Presse — leider gerade auch von konservativen Blättern— die an der Reichsregierung
fortwährend hernmnörgelt und die Unzufriedenheit mit ihr zu schüren nicht müde
wird. Abgesehen von der unleugbaren Tatsache, daß nun einmal auch der politisch
reifste Wühler allerorten die Neigung hat, seinen Ärger über alles, was ihm im
öffentlichen Leben mißfällt, darin zu äußern, daß er seine Stimme für einen der
Regierung möglichst unbequemen Kandidaten abgibt, daß also zum Beispiel der
Ausfall der Reichstagswahlen in Sachsen wesentlich in dieser Eigentümlichkeit seinen
Grund hat, gibt es nur zwei wirkliche Ursachen für das Wachstum der sozial-
demokratischen Stimmen, nämlich das Wachstum der städtisch-industriellen Arbeiter¬
bevölkerung, das ja vom Bürgertum mit allen Mitteln gefördert wird, und die
Zerfahrenheit der bürgerlichen Parteien, die sich vor der Wahl bis aufs Blut be¬
kämpfen und sich dadurch gegenseitig so ärgern, daß die in der Hauptwahl unter¬
liegende Partei bei der Stichwahl aus bloßer Wut die verwandte siegreiche Partei
im Stiche läßt oder auch gegen ihren Kandidaten stimmt. Darin wird keine
Parteiorganisation viel ändern. Die speziell bürgerlichen Parteien beherrschen eben
die Massen nicht, wie das Zentrum und die Sozialdemokratie; ihre Gefolgschaften
bilden, weil sie im ganzen doch den gebildeten! Schichten angehören, zu wenig von
der Herdennatnr, die Schlagworten und Führern blind nachläuft.


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[0124] MaszgMichcs ullo Unuiaßgcl'liebes Bülolv, die sich im Widerspruch mit der „Volksmeinung" bewegt habe und bewege, indem sie mit England ein möglichst gutes Verhältnis erstrebe und den Buren nicht irgendwie zu Hilfe gekommen sei, für eine weitgehende Unzufriedenheit verantwortlich gemacht. Nun, die Zeiten der Burenschwärmerei, wo man in jedem Buren einen Helden sah wie 1830 in jedem Polen, sind doch um wohl bei verständigen Leuten vorüber (wenigstens „gehn" die „Burenbücher" zum Ärger ihrer Verleger gar nicht), und die Wirkungen, die alle die jahrelang tagtäglich zur Schau getragne Gehässigkeit gegen die englische Politik und Kriegführung auf die doch ziemlich wichtige Stimmung des englischen Volks zu unserm Nachteil geübt hat und noch übt, die sind so klar, daß nur ein Blinder sie nicht sehen kann. Wenn Fürst Herbert Bismarck in seinem Wahlaufrufe, worin er die Politik des Reichskanzlers, d. h. die des Kaisers aufs schärfste zu kritisieren für zweckmäßig hielt, sie als „eine Politik der Verbeugungen" bezeichnete, so hat der frühere Diplomat wohl ganz vergessen, daß auch der mächtigste Staat mit einer Politik der Grobheiten noch viel weniger ausgerichtet hat, und daß der alte Satz: tortitor in rs, su-rvitor in mondo auch für deu Völkerverkehr gilt. Vollends lächerlich ist es, die Kirchenpolitik des Reichskanzlers, namentlich sein Eintreten für die Aufhebung des Paragraphen 2 des Jcsuitengesetzes für den Zuwachs der sozialdemokratischen Stimmen verant¬ wortlich zu machen. Diese Partei ist doch immer für die Aufhebung des ganzen Jesuitengesetzes, nicht nur des Paragraphen 2 eingetreten; wer also in blinder Un¬ zufriedenheit dieser Partei seine Stimme zugewandt hat, der hat sich damit gerade für Graf Bülows Politik ausgesprochen! Daß dieser der römischen Kirche jedes mögliche Entgegenkommen beweist, kann doch nur einseitigen und kurzsichtigen Protestanten ein Anstoß sein, denn konfessionelle Politik, das kann nicht oft und nicht scharf genng gesagt werden, darf ein deutscher Staatsmann nun einmal heute nicht treiben. Der häufigste Vorwurf endlich ist der, die Regierung habe keine „Wahlparole" ausgegeben. Gab es wirklich keine? Ist nicht sonnenklar, daß es die Aufgabe des nächsten Reichstags sein wird, die Handelsverträge auf Grund des Zoll¬ tarifs zu bewilligen und fiir die weitere Verstärkung unsrer Wehrmacht namentlich zur See zu sorgen? Wozu sollte die Regierung noch einmal ausdrücklich sagen, daß ihr daran gelegen sei? Eine Wahlparole läßt sich überhaupt nicht künstlich machen; auch Fürst Bismarck hat eine solche nur dann ausgegeben, wenn sie eben von selbst kam, wie 1878 und 1887. Was für ein Armutszeugnis auch für das selbständig denkende deutsche Bürgertum, wenn es immer nach einem Gängelbande schreit und doch die Hand zurückstößt, die es gängeln Will! Kurz, alle diese Gründe sind fadenscheinig, künstlich aufgebauscht von einem Teile der Presse — leider gerade auch von konservativen Blättern— die an der Reichsregierung fortwährend hernmnörgelt und die Unzufriedenheit mit ihr zu schüren nicht müde wird. Abgesehen von der unleugbaren Tatsache, daß nun einmal auch der politisch reifste Wühler allerorten die Neigung hat, seinen Ärger über alles, was ihm im öffentlichen Leben mißfällt, darin zu äußern, daß er seine Stimme für einen der Regierung möglichst unbequemen Kandidaten abgibt, daß also zum Beispiel der Ausfall der Reichstagswahlen in Sachsen wesentlich in dieser Eigentümlichkeit seinen Grund hat, gibt es nur zwei wirkliche Ursachen für das Wachstum der sozial- demokratischen Stimmen, nämlich das Wachstum der städtisch-industriellen Arbeiter¬ bevölkerung, das ja vom Bürgertum mit allen Mitteln gefördert wird, und die Zerfahrenheit der bürgerlichen Parteien, die sich vor der Wahl bis aufs Blut be¬ kämpfen und sich dadurch gegenseitig so ärgern, daß die in der Hauptwahl unter¬ liegende Partei bei der Stichwahl aus bloßer Wut die verwandte siegreiche Partei im Stiche läßt oder auch gegen ihren Kandidaten stimmt. Darin wird keine Parteiorganisation viel ändern. Die speziell bürgerlichen Parteien beherrschen eben die Massen nicht, wie das Zentrum und die Sozialdemokratie; ihre Gefolgschaften bilden, weil sie im ganzen doch den gebildeten! Schichten angehören, zu wenig von der Herdennatnr, die Schlagworten und Führern blind nachläuft.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/124>, abgerufen am 21.05.2024.