Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zwei Seelen

Kinderhand passend, ein kleines goldnes Kreuz, einige Briefe, ein paar bunte Bänder,
ein Gesangbuch, und was dergleichen Besitztümer sind, die einer andern Zeit ent¬
stammen, und wie ich von andern Erlebnissen her weiß, in der verschloßnen Truhe
mancher armen Sünderin ruhn und von ihr hin und her geschleppt und in stillen
Stunden mit sanfter Rührung betrachtet werden, wie sich wohl der heruntergekommne
Adliche an seinem Wappenbrief, der längst für ihn keine Geltung mehr hat, eine
freud- und leidvolle Stunde bereitet. Nun wurde mir auf dem Sofa ein Lager
bereitet, und ich schlief auch bald ein und hatte wunderliche Träume, die aber sämtlich
auf etwas Glückliches hinausliefen und gleich den Gipfeln des Wolkengebirges mit
ihrem Saum in ein strahlendes und glänzendes Licht hineinragten.

Am andern Morgen war ein weißer Himmel über der Stadt, und es fing
bald an zu regnen.

Ich bin schon ausgewesen, sagte Marianne. In einer Stunde mußt du reisen.
Du wirst dich wohl allein dahin finden, oder soll ich angehn?

Ich versicherte, daß ich den Weg finden würde. Mir war jedoch nicht gut
zumute. In dem grauen Tageslicht bekam mein Versprechen, nach Hanse gehn zu
"vollen, ein andres Aussehen. Auch Marianne sah nun anders aus, und sogar ihre
Stimme klang schärfer und härter. Sie mochte meine Gedanken erraten, denn sie
sagte plötzlich: Nicht wahr, was man versprochen hat, das hält man. Ich nickte
und machte mich, nachdem ich gegessen und getrunken hatte, reisefertig. Zuletzt wurde
Marianne noch einmal weich, küßte mich n"d sagte: Nun geh, Heinrich, hier habe
ich dir meine Adresse aufgeschrieben, schreibe mir einmal, wie dirs ergangen ist.
Damit drückte sie mich zur Tür hinaus, und so ging ich die Treppe wieder hinunter
und hinaus in deu strömenden Regen. Da während ich trübselig durch die Straßen
schlich, stieg plötzlich ein Bild aus meiner ersten Kindheit in mir auf, die Stadt,
wo meine Eltern wohnten, rote Dächer überragt von einigen schlanken Türmen und
eine frische weite Wiesenflur mit dem Hintergrunde eines grünen Waldes, der
Fichten, für die meine Mutter zu gut gewesen war.

Als sich der Zug in Bewegung setzte, sah ich Marianne in einen Winkel
gedrückt mir freundlich zuwinken. Zuerst machte ich Miene, mich gekränkt zu fühlen,
da sie mir ja doch nur aus Mißtraue" gegen die Festigkeit meiner Versprechungen
gefolgt sein konnte; aber das Dankesgefühl, das ich ihr schuldig war, vertrieb schnell
die ärgerliche Stimmung, und dennoch habe ich ihr nicht geschrieben. Zuerst kam
ich nicht dazu, da ich andres zu denken hatte, nachher habe ich mein Versprechen
vergessen, und als ich nach Jahren nach ihr forschte, fand ich keine Spur mehr
von ihrem armen Leben, es war verweht wie die Wolken, die an jenem Abend am
Himmel gestanden haben. Ob sie gestorben und verdorben ist, ob irgend ein braver
Mensch sie aus ihrem Elend herausgerissen hat, oder ob sie noch immer umherirrt,
wer weiß es? In meiner Seele aber steht ihr Bild unter meinen wenigen Heilig¬
tümern. Ans der Straße, wo sie ging, wandelt eine bunte und unter sich sehr ver-
schiedne Menge, schöne strahlende Gesichter, die doch von keiner wärmern Empfindung
bewegt werden, und eine große gleichgiltige Masse, dazwischen aber feine und zarte
Wesen, die eigentlich in einen schönen goldnen Käfig und unter die Augen freund¬
licher Menschen gehören. Aber durch eine Nachlässigkeit ist die Tür an ihrem
Käfig einmal offen geblieben, und von einem dunkeln Gefühl getrieben sind sie
hinausgezogen in die freie Welt und haben eine Stunde trilliert und gesungen.
Dann ergreift sie die Angst und die Reue, und sie suchen den Weg zurück, den sie
aber nur selten finden, und wenn sie ihn finden, so lassen sie den Kopf hängen
und schweigen und sterben.

Es wäre möglich gewesen, daß sich mein Leben um gewandt hätte und in
einer geraden Linie verlaufen wäre, wenn ich nicht trotz meiner Jugend schon
ein Stück Vergangenheit mit mir herumgetragen hätte und dafür verantwortlich
gewesen wäre. Mit einem einfachen Bekenntnis nach der Weise des Verlornen
Sohnes war es nicht abgetan, was ich angerichtet hatte. Die fortgesetzten Räubereien


Grenzboten I V 1903 17
Zwei Seelen

Kinderhand passend, ein kleines goldnes Kreuz, einige Briefe, ein paar bunte Bänder,
ein Gesangbuch, und was dergleichen Besitztümer sind, die einer andern Zeit ent¬
stammen, und wie ich von andern Erlebnissen her weiß, in der verschloßnen Truhe
mancher armen Sünderin ruhn und von ihr hin und her geschleppt und in stillen
Stunden mit sanfter Rührung betrachtet werden, wie sich wohl der heruntergekommne
Adliche an seinem Wappenbrief, der längst für ihn keine Geltung mehr hat, eine
freud- und leidvolle Stunde bereitet. Nun wurde mir auf dem Sofa ein Lager
bereitet, und ich schlief auch bald ein und hatte wunderliche Träume, die aber sämtlich
auf etwas Glückliches hinausliefen und gleich den Gipfeln des Wolkengebirges mit
ihrem Saum in ein strahlendes und glänzendes Licht hineinragten.

Am andern Morgen war ein weißer Himmel über der Stadt, und es fing
bald an zu regnen.

Ich bin schon ausgewesen, sagte Marianne. In einer Stunde mußt du reisen.
Du wirst dich wohl allein dahin finden, oder soll ich angehn?

Ich versicherte, daß ich den Weg finden würde. Mir war jedoch nicht gut
zumute. In dem grauen Tageslicht bekam mein Versprechen, nach Hanse gehn zu
»vollen, ein andres Aussehen. Auch Marianne sah nun anders aus, und sogar ihre
Stimme klang schärfer und härter. Sie mochte meine Gedanken erraten, denn sie
sagte plötzlich: Nicht wahr, was man versprochen hat, das hält man. Ich nickte
und machte mich, nachdem ich gegessen und getrunken hatte, reisefertig. Zuletzt wurde
Marianne noch einmal weich, küßte mich n»d sagte: Nun geh, Heinrich, hier habe
ich dir meine Adresse aufgeschrieben, schreibe mir einmal, wie dirs ergangen ist.
Damit drückte sie mich zur Tür hinaus, und so ging ich die Treppe wieder hinunter
und hinaus in deu strömenden Regen. Da während ich trübselig durch die Straßen
schlich, stieg plötzlich ein Bild aus meiner ersten Kindheit in mir auf, die Stadt,
wo meine Eltern wohnten, rote Dächer überragt von einigen schlanken Türmen und
eine frische weite Wiesenflur mit dem Hintergrunde eines grünen Waldes, der
Fichten, für die meine Mutter zu gut gewesen war.

Als sich der Zug in Bewegung setzte, sah ich Marianne in einen Winkel
gedrückt mir freundlich zuwinken. Zuerst machte ich Miene, mich gekränkt zu fühlen,
da sie mir ja doch nur aus Mißtraue» gegen die Festigkeit meiner Versprechungen
gefolgt sein konnte; aber das Dankesgefühl, das ich ihr schuldig war, vertrieb schnell
die ärgerliche Stimmung, und dennoch habe ich ihr nicht geschrieben. Zuerst kam
ich nicht dazu, da ich andres zu denken hatte, nachher habe ich mein Versprechen
vergessen, und als ich nach Jahren nach ihr forschte, fand ich keine Spur mehr
von ihrem armen Leben, es war verweht wie die Wolken, die an jenem Abend am
Himmel gestanden haben. Ob sie gestorben und verdorben ist, ob irgend ein braver
Mensch sie aus ihrem Elend herausgerissen hat, oder ob sie noch immer umherirrt,
wer weiß es? In meiner Seele aber steht ihr Bild unter meinen wenigen Heilig¬
tümern. Ans der Straße, wo sie ging, wandelt eine bunte und unter sich sehr ver-
schiedne Menge, schöne strahlende Gesichter, die doch von keiner wärmern Empfindung
bewegt werden, und eine große gleichgiltige Masse, dazwischen aber feine und zarte
Wesen, die eigentlich in einen schönen goldnen Käfig und unter die Augen freund¬
licher Menschen gehören. Aber durch eine Nachlässigkeit ist die Tür an ihrem
Käfig einmal offen geblieben, und von einem dunkeln Gefühl getrieben sind sie
hinausgezogen in die freie Welt und haben eine Stunde trilliert und gesungen.
Dann ergreift sie die Angst und die Reue, und sie suchen den Weg zurück, den sie
aber nur selten finden, und wenn sie ihn finden, so lassen sie den Kopf hängen
und schweigen und sterben.

Es wäre möglich gewesen, daß sich mein Leben um gewandt hätte und in
einer geraden Linie verlaufen wäre, wenn ich nicht trotz meiner Jugend schon
ein Stück Vergangenheit mit mir herumgetragen hätte und dafür verantwortlich
gewesen wäre. Mit einem einfachen Bekenntnis nach der Weise des Verlornen
Sohnes war es nicht abgetan, was ich angerichtet hatte. Die fortgesetzten Räubereien


Grenzboten I V 1903 17
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0137" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/242205"/>
            <fw type="header" place="top"> Zwei Seelen</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_417" prev="#ID_416"> Kinderhand passend, ein kleines goldnes Kreuz, einige Briefe, ein paar bunte Bänder,<lb/>
ein Gesangbuch, und was dergleichen Besitztümer sind, die einer andern Zeit ent¬<lb/>
stammen, und wie ich von andern Erlebnissen her weiß, in der verschloßnen Truhe<lb/>
mancher armen Sünderin ruhn und von ihr hin und her geschleppt und in stillen<lb/>
Stunden mit sanfter Rührung betrachtet werden, wie sich wohl der heruntergekommne<lb/>
Adliche an seinem Wappenbrief, der längst für ihn keine Geltung mehr hat, eine<lb/>
freud- und leidvolle Stunde bereitet. Nun wurde mir auf dem Sofa ein Lager<lb/>
bereitet, und ich schlief auch bald ein und hatte wunderliche Träume, die aber sämtlich<lb/>
auf etwas Glückliches hinausliefen und gleich den Gipfeln des Wolkengebirges mit<lb/>
ihrem Saum in ein strahlendes und glänzendes Licht hineinragten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_418"> Am andern Morgen war ein weißer Himmel über der Stadt, und es fing<lb/>
bald an zu regnen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_419"> Ich bin schon ausgewesen, sagte Marianne. In einer Stunde mußt du reisen.<lb/>
Du wirst dich wohl allein dahin finden, oder soll ich angehn?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_420"> Ich versicherte, daß ich den Weg finden würde. Mir war jedoch nicht gut<lb/>
zumute. In dem grauen Tageslicht bekam mein Versprechen, nach Hanse gehn zu<lb/>
»vollen, ein andres Aussehen. Auch Marianne sah nun anders aus, und sogar ihre<lb/>
Stimme klang schärfer und härter. Sie mochte meine Gedanken erraten, denn sie<lb/>
sagte plötzlich: Nicht wahr, was man versprochen hat, das hält man. Ich nickte<lb/>
und machte mich, nachdem ich gegessen und getrunken hatte, reisefertig. Zuletzt wurde<lb/>
Marianne noch einmal weich, küßte mich n»d sagte: Nun geh, Heinrich, hier habe<lb/>
ich dir meine Adresse aufgeschrieben, schreibe mir einmal, wie dirs ergangen ist.<lb/>
Damit drückte sie mich zur Tür hinaus, und so ging ich die Treppe wieder hinunter<lb/>
und hinaus in deu strömenden Regen. Da während ich trübselig durch die Straßen<lb/>
schlich, stieg plötzlich ein Bild aus meiner ersten Kindheit in mir auf, die Stadt,<lb/>
wo meine Eltern wohnten, rote Dächer überragt von einigen schlanken Türmen und<lb/>
eine frische weite Wiesenflur mit dem Hintergrunde eines grünen Waldes, der<lb/>
Fichten, für die meine Mutter zu gut gewesen war.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_421"> Als sich der Zug in Bewegung setzte, sah ich Marianne in einen Winkel<lb/>
gedrückt mir freundlich zuwinken. Zuerst machte ich Miene, mich gekränkt zu fühlen,<lb/>
da sie mir ja doch nur aus Mißtraue» gegen die Festigkeit meiner Versprechungen<lb/>
gefolgt sein konnte; aber das Dankesgefühl, das ich ihr schuldig war, vertrieb schnell<lb/>
die ärgerliche Stimmung, und dennoch habe ich ihr nicht geschrieben. Zuerst kam<lb/>
ich nicht dazu, da ich andres zu denken hatte, nachher habe ich mein Versprechen<lb/>
vergessen, und als ich nach Jahren nach ihr forschte, fand ich keine Spur mehr<lb/>
von ihrem armen Leben, es war verweht wie die Wolken, die an jenem Abend am<lb/>
Himmel gestanden haben. Ob sie gestorben und verdorben ist, ob irgend ein braver<lb/>
Mensch sie aus ihrem Elend herausgerissen hat, oder ob sie noch immer umherirrt,<lb/>
wer weiß es? In meiner Seele aber steht ihr Bild unter meinen wenigen Heilig¬<lb/>
tümern. Ans der Straße, wo sie ging, wandelt eine bunte und unter sich sehr ver-<lb/>
schiedne Menge, schöne strahlende Gesichter, die doch von keiner wärmern Empfindung<lb/>
bewegt werden, und eine große gleichgiltige Masse, dazwischen aber feine und zarte<lb/>
Wesen, die eigentlich in einen schönen goldnen Käfig und unter die Augen freund¬<lb/>
licher Menschen gehören. Aber durch eine Nachlässigkeit ist die Tür an ihrem<lb/>
Käfig einmal offen geblieben, und von einem dunkeln Gefühl getrieben sind sie<lb/>
hinausgezogen in die freie Welt und haben eine Stunde trilliert und gesungen.<lb/>
Dann ergreift sie die Angst und die Reue, und sie suchen den Weg zurück, den sie<lb/>
aber nur selten finden, und wenn sie ihn finden, so lassen sie den Kopf hängen<lb/>
und schweigen und sterben.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_422" next="#ID_423"> Es wäre möglich gewesen, daß sich mein Leben um gewandt hätte und in<lb/>
einer geraden Linie verlaufen wäre, wenn ich nicht trotz meiner Jugend schon<lb/>
ein Stück Vergangenheit mit mir herumgetragen hätte und dafür verantwortlich<lb/>
gewesen wäre. Mit einem einfachen Bekenntnis nach der Weise des Verlornen<lb/>
Sohnes war es nicht abgetan, was ich angerichtet hatte. Die fortgesetzten Räubereien</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I V 1903 17</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0137] Zwei Seelen Kinderhand passend, ein kleines goldnes Kreuz, einige Briefe, ein paar bunte Bänder, ein Gesangbuch, und was dergleichen Besitztümer sind, die einer andern Zeit ent¬ stammen, und wie ich von andern Erlebnissen her weiß, in der verschloßnen Truhe mancher armen Sünderin ruhn und von ihr hin und her geschleppt und in stillen Stunden mit sanfter Rührung betrachtet werden, wie sich wohl der heruntergekommne Adliche an seinem Wappenbrief, der längst für ihn keine Geltung mehr hat, eine freud- und leidvolle Stunde bereitet. Nun wurde mir auf dem Sofa ein Lager bereitet, und ich schlief auch bald ein und hatte wunderliche Träume, die aber sämtlich auf etwas Glückliches hinausliefen und gleich den Gipfeln des Wolkengebirges mit ihrem Saum in ein strahlendes und glänzendes Licht hineinragten. Am andern Morgen war ein weißer Himmel über der Stadt, und es fing bald an zu regnen. Ich bin schon ausgewesen, sagte Marianne. In einer Stunde mußt du reisen. Du wirst dich wohl allein dahin finden, oder soll ich angehn? Ich versicherte, daß ich den Weg finden würde. Mir war jedoch nicht gut zumute. In dem grauen Tageslicht bekam mein Versprechen, nach Hanse gehn zu »vollen, ein andres Aussehen. Auch Marianne sah nun anders aus, und sogar ihre Stimme klang schärfer und härter. Sie mochte meine Gedanken erraten, denn sie sagte plötzlich: Nicht wahr, was man versprochen hat, das hält man. Ich nickte und machte mich, nachdem ich gegessen und getrunken hatte, reisefertig. Zuletzt wurde Marianne noch einmal weich, küßte mich n»d sagte: Nun geh, Heinrich, hier habe ich dir meine Adresse aufgeschrieben, schreibe mir einmal, wie dirs ergangen ist. Damit drückte sie mich zur Tür hinaus, und so ging ich die Treppe wieder hinunter und hinaus in deu strömenden Regen. Da während ich trübselig durch die Straßen schlich, stieg plötzlich ein Bild aus meiner ersten Kindheit in mir auf, die Stadt, wo meine Eltern wohnten, rote Dächer überragt von einigen schlanken Türmen und eine frische weite Wiesenflur mit dem Hintergrunde eines grünen Waldes, der Fichten, für die meine Mutter zu gut gewesen war. Als sich der Zug in Bewegung setzte, sah ich Marianne in einen Winkel gedrückt mir freundlich zuwinken. Zuerst machte ich Miene, mich gekränkt zu fühlen, da sie mir ja doch nur aus Mißtraue» gegen die Festigkeit meiner Versprechungen gefolgt sein konnte; aber das Dankesgefühl, das ich ihr schuldig war, vertrieb schnell die ärgerliche Stimmung, und dennoch habe ich ihr nicht geschrieben. Zuerst kam ich nicht dazu, da ich andres zu denken hatte, nachher habe ich mein Versprechen vergessen, und als ich nach Jahren nach ihr forschte, fand ich keine Spur mehr von ihrem armen Leben, es war verweht wie die Wolken, die an jenem Abend am Himmel gestanden haben. Ob sie gestorben und verdorben ist, ob irgend ein braver Mensch sie aus ihrem Elend herausgerissen hat, oder ob sie noch immer umherirrt, wer weiß es? In meiner Seele aber steht ihr Bild unter meinen wenigen Heilig¬ tümern. Ans der Straße, wo sie ging, wandelt eine bunte und unter sich sehr ver- schiedne Menge, schöne strahlende Gesichter, die doch von keiner wärmern Empfindung bewegt werden, und eine große gleichgiltige Masse, dazwischen aber feine und zarte Wesen, die eigentlich in einen schönen goldnen Käfig und unter die Augen freund¬ licher Menschen gehören. Aber durch eine Nachlässigkeit ist die Tür an ihrem Käfig einmal offen geblieben, und von einem dunkeln Gefühl getrieben sind sie hinausgezogen in die freie Welt und haben eine Stunde trilliert und gesungen. Dann ergreift sie die Angst und die Reue, und sie suchen den Weg zurück, den sie aber nur selten finden, und wenn sie ihn finden, so lassen sie den Kopf hängen und schweigen und sterben. Es wäre möglich gewesen, daß sich mein Leben um gewandt hätte und in einer geraden Linie verlaufen wäre, wenn ich nicht trotz meiner Jugend schon ein Stück Vergangenheit mit mir herumgetragen hätte und dafür verantwortlich gewesen wäre. Mit einem einfachen Bekenntnis nach der Weise des Verlornen Sohnes war es nicht abgetan, was ich angerichtet hatte. Die fortgesetzten Räubereien Grenzboten I V 1903 17

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/137
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/137>, abgerufen am 19.05.2024.