Menschheit nur bei völliger Freiheit des Forschens und Debattierens immer mehr der Wahrheit nähern kann. Alle Meinungen, die verschiedensten, die entgegengesetztesten, müssen der Erörterung dargeboten werden; jede Theokratie aber, mag sie aus Priestern oder aus einer Gelehrtenzunft bestehen, jede Auto¬ kratie, jede Aristokratie, jede Plutokratie halt den Fortschritt auf, Soll das menschliche Denken sein Höchstes leisten, so muß es frei vou jeder Fessel sein. Dieses Freiheitsideal soll nun unsre Revue soviel wie möglich verwirklichen. Ihre Direktoren schreiben nichts vor und üben keine Zensur; sie beschränken sich ans die organisatorische Tätigkeit. Was verbindet aber da die Mitarbeiter? Ihre Unabhängigkeit. Sie sind eben so geartet, daß sie Zwang und Zensur nicht ertragen würden, sich einer Sekte, Schule, Partei nicht verschreiben mögen. Daß der Versuch, diese vollkommene Freiheit zu verwirklichen, sogar manchen Mitarbeiter irre macht, ist nicht zu verwundern; wir leiden eben alle noch ein wenig an der unserm Geschlecht seit Jahrtausenden unerzognen Vorstellung, daß jeder'Mensch entweder befehlen oder gehorchen, entweder andern seine Meinung aufzwingen oder andrer Meinung annehmen müsse. Gerade diese Vorstellung wollen wir durch unser Beispiel allmählich überwinden. Vor allem soll keiner unsrer Mitarbeiter für ein niedriges Interesse kämpfen. Bei uns wird keine Leidenschaft erregt; nur die Vernunft waltet; die Empfindung tritt hinter dem Intellekt zurück.' So die Herausgeber. Ihre Menschheit ist nun freilich eine Illusion. Weder ist ein großes Volk denkbar, dessen Mitglieder allesamt selb¬ ständige Denker wären, und wo jeder nur nach seinem Kopfe handelte, der ganze Staat eine rabelaisische Abtei Thelema wäre, noch läßt sich der Intellekt von den Lebensinteressen ablösen. Gerade die Freidenker geraten ja jedesmal in leidenschaftliche Erregung und erklären die heiligsten Güter der Menschheit für gefährdet, so oft sie etwas erblicken, was ihrer Ansicht nach Aberglauben, Ver¬ finsterung oder Reaktion ist, z.B. eine Fronleichnamsprozession, oder eine Mönchs¬ kutte, oder einen Orthodoxen auf einem Lehrstuhl. Aber der Satz, daß die Wahrheit, das ist die gerade im Augenblick notwendige neue Erkenntnis, aus der freien Debatte hervorspringt wie der Funke aus dem vom Stahl getroffnen Stein, ist richtig, ein solcher papierner Debattierklub demnach, wie ihn die Herren der neuen Menschheit geschaffen haben, eine sehr nützliche Einrichtung.
Die Politik wird auf dem Titelblatt nicht genannt und ist auch in der Zeitschrift nur schwach vertreten, aber doch nicht ganz ausgeschlossen. Die meisten politischen Artikel stammen aus andern Ländern; mehrere, von ver- schiedtten Verfassern, aus Finnland, dessen Leidensgeschichte sehr ausführlich erzählt wird. Bei dem Geiste der Zeitschrift versteht sich das verwerfende Urteil über die Unterdrückungspolitik des Zarentums trotz der französischen Nusseu- freuiidschaft von selbst. Im Dezemberheft 1900 spricht ein Anouhmus einen sehr beachtenswerten Gedanken aus: In Skandinavien und in England (doch anch in Deutschland, Italien und Frankreich) ist immer die historische .Konti¬ nuität das Grundgesetz der Entwicklung und des Fortschritts gewesen, und nach diesem Gesetz haben die Regierungen gehandelt, indem sie die Regierungsform den Anforderungen der Zeiten gemäß immer freier und zweckmäßiger gestalteten. Das russische Volk, das ein so ungeheures Gebiet inne hat, könnte sich eine
Grenzboten IV 1903 4
Menschheit nur bei völliger Freiheit des Forschens und Debattierens immer mehr der Wahrheit nähern kann. Alle Meinungen, die verschiedensten, die entgegengesetztesten, müssen der Erörterung dargeboten werden; jede Theokratie aber, mag sie aus Priestern oder aus einer Gelehrtenzunft bestehen, jede Auto¬ kratie, jede Aristokratie, jede Plutokratie halt den Fortschritt auf, Soll das menschliche Denken sein Höchstes leisten, so muß es frei vou jeder Fessel sein. Dieses Freiheitsideal soll nun unsre Revue soviel wie möglich verwirklichen. Ihre Direktoren schreiben nichts vor und üben keine Zensur; sie beschränken sich ans die organisatorische Tätigkeit. Was verbindet aber da die Mitarbeiter? Ihre Unabhängigkeit. Sie sind eben so geartet, daß sie Zwang und Zensur nicht ertragen würden, sich einer Sekte, Schule, Partei nicht verschreiben mögen. Daß der Versuch, diese vollkommene Freiheit zu verwirklichen, sogar manchen Mitarbeiter irre macht, ist nicht zu verwundern; wir leiden eben alle noch ein wenig an der unserm Geschlecht seit Jahrtausenden unerzognen Vorstellung, daß jeder'Mensch entweder befehlen oder gehorchen, entweder andern seine Meinung aufzwingen oder andrer Meinung annehmen müsse. Gerade diese Vorstellung wollen wir durch unser Beispiel allmählich überwinden. Vor allem soll keiner unsrer Mitarbeiter für ein niedriges Interesse kämpfen. Bei uns wird keine Leidenschaft erregt; nur die Vernunft waltet; die Empfindung tritt hinter dem Intellekt zurück.' So die Herausgeber. Ihre Menschheit ist nun freilich eine Illusion. Weder ist ein großes Volk denkbar, dessen Mitglieder allesamt selb¬ ständige Denker wären, und wo jeder nur nach seinem Kopfe handelte, der ganze Staat eine rabelaisische Abtei Thelema wäre, noch läßt sich der Intellekt von den Lebensinteressen ablösen. Gerade die Freidenker geraten ja jedesmal in leidenschaftliche Erregung und erklären die heiligsten Güter der Menschheit für gefährdet, so oft sie etwas erblicken, was ihrer Ansicht nach Aberglauben, Ver¬ finsterung oder Reaktion ist, z.B. eine Fronleichnamsprozession, oder eine Mönchs¬ kutte, oder einen Orthodoxen auf einem Lehrstuhl. Aber der Satz, daß die Wahrheit, das ist die gerade im Augenblick notwendige neue Erkenntnis, aus der freien Debatte hervorspringt wie der Funke aus dem vom Stahl getroffnen Stein, ist richtig, ein solcher papierner Debattierklub demnach, wie ihn die Herren der neuen Menschheit geschaffen haben, eine sehr nützliche Einrichtung.
Die Politik wird auf dem Titelblatt nicht genannt und ist auch in der Zeitschrift nur schwach vertreten, aber doch nicht ganz ausgeschlossen. Die meisten politischen Artikel stammen aus andern Ländern; mehrere, von ver- schiedtten Verfassern, aus Finnland, dessen Leidensgeschichte sehr ausführlich erzählt wird. Bei dem Geiste der Zeitschrift versteht sich das verwerfende Urteil über die Unterdrückungspolitik des Zarentums trotz der französischen Nusseu- freuiidschaft von selbst. Im Dezemberheft 1900 spricht ein Anouhmus einen sehr beachtenswerten Gedanken aus: In Skandinavien und in England (doch anch in Deutschland, Italien und Frankreich) ist immer die historische .Konti¬ nuität das Grundgesetz der Entwicklung und des Fortschritts gewesen, und nach diesem Gesetz haben die Regierungen gehandelt, indem sie die Regierungsform den Anforderungen der Zeiten gemäß immer freier und zweckmäßiger gestalteten. Das russische Volk, das ein so ungeheures Gebiet inne hat, könnte sich eine
Grenzboten IV 1903 4
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mehr der Wahrheit nähern kann. Alle Meinungen, die verschiedensten, die
entgegengesetztesten, müssen der Erörterung dargeboten werden; jede Theokratie
aber, mag sie aus Priestern oder aus einer Gelehrtenzunft bestehen, jede Auto¬
kratie, jede Aristokratie, jede Plutokratie halt den Fortschritt auf, Soll das
menschliche Denken sein Höchstes leisten, so muß es frei vou jeder Fessel sein.
Dieses Freiheitsideal soll nun unsre Revue soviel wie möglich verwirklichen.
Ihre Direktoren schreiben nichts vor und üben keine Zensur; sie beschränken sich
ans die organisatorische Tätigkeit. Was verbindet aber da die Mitarbeiter?
Ihre Unabhängigkeit. Sie sind eben so geartet, daß sie Zwang und Zensur
nicht ertragen würden, sich einer Sekte, Schule, Partei nicht verschreiben mögen.
Daß der Versuch, diese vollkommene Freiheit zu verwirklichen, sogar manchen
Mitarbeiter irre macht, ist nicht zu verwundern; wir leiden eben alle noch ein
wenig an der unserm Geschlecht seit Jahrtausenden unerzognen Vorstellung, daß
jeder'Mensch entweder befehlen oder gehorchen, entweder andern seine Meinung
aufzwingen oder andrer Meinung annehmen müsse. Gerade diese Vorstellung
wollen wir durch unser Beispiel allmählich überwinden. Vor allem soll keiner
unsrer Mitarbeiter für ein niedriges Interesse kämpfen. Bei uns wird keine
Leidenschaft erregt; nur die Vernunft waltet; die Empfindung tritt hinter dem
Intellekt zurück.' So die Herausgeber. Ihre Menschheit ist nun freilich eine
Illusion. Weder ist ein großes Volk denkbar, dessen Mitglieder allesamt selb¬
ständige Denker wären, und wo jeder nur nach seinem Kopfe handelte, der ganze
Staat eine rabelaisische Abtei Thelema wäre, noch läßt sich der Intellekt von
den Lebensinteressen ablösen. Gerade die Freidenker geraten ja jedesmal in
leidenschaftliche Erregung und erklären die heiligsten Güter der Menschheit für
gefährdet, so oft sie etwas erblicken, was ihrer Ansicht nach Aberglauben, Ver¬
finsterung oder Reaktion ist, z.B. eine Fronleichnamsprozession, oder eine Mönchs¬
kutte, oder einen Orthodoxen auf einem Lehrstuhl. Aber der Satz, daß die
Wahrheit, das ist die gerade im Augenblick notwendige neue Erkenntnis, aus
der freien Debatte hervorspringt wie der Funke aus dem vom Stahl getroffnen
Stein, ist richtig, ein solcher papierner Debattierklub demnach, wie ihn die
Herren der neuen Menschheit geschaffen haben, eine sehr nützliche Einrichtung.
Die Politik wird auf dem Titelblatt nicht genannt und ist auch in der
Zeitschrift nur schwach vertreten, aber doch nicht ganz ausgeschlossen. Die
meisten politischen Artikel stammen aus andern Ländern; mehrere, von ver-
schiedtten Verfassern, aus Finnland, dessen Leidensgeschichte sehr ausführlich
erzählt wird. Bei dem Geiste der Zeitschrift versteht sich das verwerfende Urteil
über die Unterdrückungspolitik des Zarentums trotz der französischen Nusseu-
freuiidschaft von selbst. Im Dezemberheft 1900 spricht ein Anouhmus einen
sehr beachtenswerten Gedanken aus: In Skandinavien und in England (doch
anch in Deutschland, Italien und Frankreich) ist immer die historische .Konti¬
nuität das Grundgesetz der Entwicklung und des Fortschritts gewesen, und nach
diesem Gesetz haben die Regierungen gehandelt, indem sie die Regierungsform
den Anforderungen der Zeiten gemäß immer freier und zweckmäßiger gestalteten.
Das russische Volk, das ein so ungeheures Gebiet inne hat, könnte sich eine
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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/35>, abgerufen am 25.05.2024.
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