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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Die zwölf Nächte

tun sich weigern können, da ans dem Kirchhof Liebhaber nichts zu suchen hatten --,
war die gegenwärtige Jahreszeit für in geordneten Verhältnissen lebende Gespenster
gerade ti'e rechte, wie der Mai für die Maikäfer und der November für die ge-
bratnen Gänse. Weihnachten war, nachdem es den Kindern geschienen hatte, als ob
es nie Weihnachten werden wollte, nun endlich da, und dieses froheste aller Feste hatte
die heiligen zwölf Nächte bis zum Dreikönigtag im Gefolge, während deren sich be¬
kanntlich Dinge zu ereignen Pflegen, die das ganze übrige Jahr als Unmöglichketten
gelten. Mädchen sahen den ihnen bestimmten Bräutigam, wenn sie in einer dieser
Nächte Schlag Mitternacht in den Spiegel schauten, man konnte auch sonst mit Hilfe
von Bleigießen und erleuchteten, auf dem Waschfaß herumgondelnden Nußschalen ge¬
heimnisvolle Blicke in die Zukunft tun, zum Ausgraben gewisser wundertätiger Wurzeln,
die man unter dem Schnee suchen mußte, waren keine andern Nächte im ganzen
Jahre so geeignet, und der Bann, der die Gespenster an ihre Gräber fesselte, wurde
-- wenn je -- in diesen zwölf durch die Erinnerung an die ersten Tage der Kindheit
des Welterlösers geweihten Nächten für Stunden gelöst.

Mußten, da auch die Natur und das Geisterreich das beseligende Ereignis durch
allerhand Außerordentliches feierten, die Menschen, denen die frohe Botschaft doch
vor allem galt, nicht auch möglichst ungewöhnliche Dinge tun, um ihre Freude zu
bezeugen, und wenn das mitunter in etwas täppischer Form und unter Gebräuchen
geschah, die mehr an die alten Heiden als an die ersten Christen erinnerten, so lag
das daran, daß man noch nicht auf dem höhern geistigen Standpunkt stand und zur
Erheiterung eben das tat, was einem das meiste Vergnügen machte. Es wäre i,a
"hre Zweifel besser und Passender gewesen, wenn man statt zu schwärmen und zu
schmausen mehr gebetet und heilige Lieder gesungen hätte, aber man hätte, so lind
es einem tut, es sagen zu müssen, nicht so viel Vergnügen von solchen geistlichen
Heiern gehabt und hätte, wenn man einmal am heiligen Abend und ein zweites mal
am ersten Feiertage, wo mit Posaunen vom Chor herab geblasen wurde, in der
Kirche gewesen war, lieber geschlafen als sich zu laugen Gebeten zu vereinigen und
erbauliche Lieder zu singen. Stadt Westen war darin nicht um ein Haar besser
"is Dorf Westen und Ebenheit, von Ober- und Niederpostci, wo der leibhaftige Sauf-
teufel in die Steinbrecher gefahren war, gar nicht erst zu reden.

In Westen feierte der alte Steuermann Hcsekiel diese privilegierten Tage seit
Menschengedenken dadurch, daß er vom ersten Feiertag früh bis zum Abend des
Dreikönigtags nicht völlig nüchtern wurde; die das Treiben der jungen Leute des
Orts beschränkende Aufsicht wurde in jeder Weise lässiger geübt; die Fiedeln und
dle Klarinetten kamen auch bei nachtschlafender Zeit nnr wenig zur Ruhe, es wurde
geschlachtet, gebacken und gebraut, und die solenne Weihnachtskeilerei der zur
Wiederherstellung des sozialen Gleichgewichts einige andre weniger offizielle^folgten,
Wid altem Herkommen zufolge um Abend des zweiten Feiertags in dem ^anzsaal
statt. In ganz besonders genußreicher Weise feierte man das Fest dndnrch, daß
'"an nicht arbeitete, sondern in stark geheizten Stuben zusammensaß und die Zeit
'"it Essen und Verdauen hinbrachte. Wo einer die Zither spielte, fand sich auch am
Tage die Jugend gern ein, wahrend die Alten die Fleischtöpfe des heimischen Herdes
kaum verließen und nur in der nächsten Nachbarschaft ub und zu einen Besuch ab¬
statteten, bei dem es auch in der Hauptsache auf Essen und Trinken, und was die
Männer anlangte, auf ein Pfeifchen hinauslief.

. Der alte Merguer war, weil es zweiter Feiertag war, früh in der Kirche ge-
'"eM und hatte sich Nachmittags gegen drei Uhr zum Kaffee bei Hodewitjchens ein¬
münden. Das war zu Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten und Weihnachten für ihn
althergebrachter Brauch; er nannte sich mit dem alten Hodewitsch, mit dem er wcit-
uwstg verwandt war, du und titulierte dessen Gattin, Hclenchens Mutter, in der
oritten Pechm der Einzahl, indem er zum Beispiel sagte: Hörsche, Hvdewitsche".
Heimchen saß nicht mit am Kaffeetisch, sondern ging ab und zu und bediente die
/Ulm, nicht ohne von Zeit zu Zeit einen Blick durchs Fenster z" werfen, ob "er
Deiche "ganz zufällig vorbeigelatscht käme." Latschen im Wchlcner Dialekt hat
"lebt die unfreundliche, an eine Prozession von Gänsen und Gänserichen erinnernde
^edeutung; es entspricht vielmehr unserm Bummelu. Sie wollte also feheii. vo "er
Deiche ganz zufällig vorbeigelatscht käme, und dan.it sollte in ihrem Herzen der
^ngart des "er" kein Vorwurf gemacht werden; o ganz und gar nicht. "Er
er wußte sie denn nicht, daß Röberkarl im Körbchen lag und weder vorbeilatschen


Grenzboten IV 1908 102
Die zwölf Nächte

tun sich weigern können, da ans dem Kirchhof Liebhaber nichts zu suchen hatten —,
war die gegenwärtige Jahreszeit für in geordneten Verhältnissen lebende Gespenster
gerade ti'e rechte, wie der Mai für die Maikäfer und der November für die ge-
bratnen Gänse. Weihnachten war, nachdem es den Kindern geschienen hatte, als ob
es nie Weihnachten werden wollte, nun endlich da, und dieses froheste aller Feste hatte
die heiligen zwölf Nächte bis zum Dreikönigtag im Gefolge, während deren sich be¬
kanntlich Dinge zu ereignen Pflegen, die das ganze übrige Jahr als Unmöglichketten
gelten. Mädchen sahen den ihnen bestimmten Bräutigam, wenn sie in einer dieser
Nächte Schlag Mitternacht in den Spiegel schauten, man konnte auch sonst mit Hilfe
von Bleigießen und erleuchteten, auf dem Waschfaß herumgondelnden Nußschalen ge¬
heimnisvolle Blicke in die Zukunft tun, zum Ausgraben gewisser wundertätiger Wurzeln,
die man unter dem Schnee suchen mußte, waren keine andern Nächte im ganzen
Jahre so geeignet, und der Bann, der die Gespenster an ihre Gräber fesselte, wurde
— wenn je — in diesen zwölf durch die Erinnerung an die ersten Tage der Kindheit
des Welterlösers geweihten Nächten für Stunden gelöst.

Mußten, da auch die Natur und das Geisterreich das beseligende Ereignis durch
allerhand Außerordentliches feierten, die Menschen, denen die frohe Botschaft doch
vor allem galt, nicht auch möglichst ungewöhnliche Dinge tun, um ihre Freude zu
bezeugen, und wenn das mitunter in etwas täppischer Form und unter Gebräuchen
geschah, die mehr an die alten Heiden als an die ersten Christen erinnerten, so lag
das daran, daß man noch nicht auf dem höhern geistigen Standpunkt stand und zur
Erheiterung eben das tat, was einem das meiste Vergnügen machte. Es wäre i,a
»hre Zweifel besser und Passender gewesen, wenn man statt zu schwärmen und zu
schmausen mehr gebetet und heilige Lieder gesungen hätte, aber man hätte, so lind
es einem tut, es sagen zu müssen, nicht so viel Vergnügen von solchen geistlichen
Heiern gehabt und hätte, wenn man einmal am heiligen Abend und ein zweites mal
am ersten Feiertage, wo mit Posaunen vom Chor herab geblasen wurde, in der
Kirche gewesen war, lieber geschlafen als sich zu laugen Gebeten zu vereinigen und
erbauliche Lieder zu singen. Stadt Westen war darin nicht um ein Haar besser
"is Dorf Westen und Ebenheit, von Ober- und Niederpostci, wo der leibhaftige Sauf-
teufel in die Steinbrecher gefahren war, gar nicht erst zu reden.

In Westen feierte der alte Steuermann Hcsekiel diese privilegierten Tage seit
Menschengedenken dadurch, daß er vom ersten Feiertag früh bis zum Abend des
Dreikönigtags nicht völlig nüchtern wurde; die das Treiben der jungen Leute des
Orts beschränkende Aufsicht wurde in jeder Weise lässiger geübt; die Fiedeln und
dle Klarinetten kamen auch bei nachtschlafender Zeit nnr wenig zur Ruhe, es wurde
geschlachtet, gebacken und gebraut, und die solenne Weihnachtskeilerei der zur
Wiederherstellung des sozialen Gleichgewichts einige andre weniger offizielle^folgten,
Wid altem Herkommen zufolge um Abend des zweiten Feiertags in dem ^anzsaal
statt. In ganz besonders genußreicher Weise feierte man das Fest dndnrch, daß
'"an nicht arbeitete, sondern in stark geheizten Stuben zusammensaß und die Zeit
'"it Essen und Verdauen hinbrachte. Wo einer die Zither spielte, fand sich auch am
Tage die Jugend gern ein, wahrend die Alten die Fleischtöpfe des heimischen Herdes
kaum verließen und nur in der nächsten Nachbarschaft ub und zu einen Besuch ab¬
statteten, bei dem es auch in der Hauptsache auf Essen und Trinken, und was die
Männer anlangte, auf ein Pfeifchen hinauslief.

. Der alte Merguer war, weil es zweiter Feiertag war, früh in der Kirche ge-
'"eM und hatte sich Nachmittags gegen drei Uhr zum Kaffee bei Hodewitjchens ein¬
münden. Das war zu Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten und Weihnachten für ihn
althergebrachter Brauch; er nannte sich mit dem alten Hodewitsch, mit dem er wcit-
uwstg verwandt war, du und titulierte dessen Gattin, Hclenchens Mutter, in der
oritten Pechm der Einzahl, indem er zum Beispiel sagte: Hörsche, Hvdewitsche».
Heimchen saß nicht mit am Kaffeetisch, sondern ging ab und zu und bediente die
/Ulm, nicht ohne von Zeit zu Zeit einen Blick durchs Fenster z» werfen, ob „er
Deiche „ganz zufällig vorbeigelatscht käme." Latschen im Wchlcner Dialekt hat
«lebt die unfreundliche, an eine Prozession von Gänsen und Gänserichen erinnernde
^edeutung; es entspricht vielmehr unserm Bummelu. Sie wollte also feheii. vo „er
Deiche ganz zufällig vorbeigelatscht käme, und dan.it sollte in ihrem Herzen der
^ngart des „er" kein Vorwurf gemacht werden; o ganz und gar nicht. „Er
er wußte sie denn nicht, daß Röberkarl im Körbchen lag und weder vorbeilatschen


Grenzboten IV 1908 102
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[0815] Die zwölf Nächte tun sich weigern können, da ans dem Kirchhof Liebhaber nichts zu suchen hatten —, war die gegenwärtige Jahreszeit für in geordneten Verhältnissen lebende Gespenster gerade ti'e rechte, wie der Mai für die Maikäfer und der November für die ge- bratnen Gänse. Weihnachten war, nachdem es den Kindern geschienen hatte, als ob es nie Weihnachten werden wollte, nun endlich da, und dieses froheste aller Feste hatte die heiligen zwölf Nächte bis zum Dreikönigtag im Gefolge, während deren sich be¬ kanntlich Dinge zu ereignen Pflegen, die das ganze übrige Jahr als Unmöglichketten gelten. Mädchen sahen den ihnen bestimmten Bräutigam, wenn sie in einer dieser Nächte Schlag Mitternacht in den Spiegel schauten, man konnte auch sonst mit Hilfe von Bleigießen und erleuchteten, auf dem Waschfaß herumgondelnden Nußschalen ge¬ heimnisvolle Blicke in die Zukunft tun, zum Ausgraben gewisser wundertätiger Wurzeln, die man unter dem Schnee suchen mußte, waren keine andern Nächte im ganzen Jahre so geeignet, und der Bann, der die Gespenster an ihre Gräber fesselte, wurde — wenn je — in diesen zwölf durch die Erinnerung an die ersten Tage der Kindheit des Welterlösers geweihten Nächten für Stunden gelöst. Mußten, da auch die Natur und das Geisterreich das beseligende Ereignis durch allerhand Außerordentliches feierten, die Menschen, denen die frohe Botschaft doch vor allem galt, nicht auch möglichst ungewöhnliche Dinge tun, um ihre Freude zu bezeugen, und wenn das mitunter in etwas täppischer Form und unter Gebräuchen geschah, die mehr an die alten Heiden als an die ersten Christen erinnerten, so lag das daran, daß man noch nicht auf dem höhern geistigen Standpunkt stand und zur Erheiterung eben das tat, was einem das meiste Vergnügen machte. Es wäre i,a »hre Zweifel besser und Passender gewesen, wenn man statt zu schwärmen und zu schmausen mehr gebetet und heilige Lieder gesungen hätte, aber man hätte, so lind es einem tut, es sagen zu müssen, nicht so viel Vergnügen von solchen geistlichen Heiern gehabt und hätte, wenn man einmal am heiligen Abend und ein zweites mal am ersten Feiertage, wo mit Posaunen vom Chor herab geblasen wurde, in der Kirche gewesen war, lieber geschlafen als sich zu laugen Gebeten zu vereinigen und erbauliche Lieder zu singen. Stadt Westen war darin nicht um ein Haar besser "is Dorf Westen und Ebenheit, von Ober- und Niederpostci, wo der leibhaftige Sauf- teufel in die Steinbrecher gefahren war, gar nicht erst zu reden. In Westen feierte der alte Steuermann Hcsekiel diese privilegierten Tage seit Menschengedenken dadurch, daß er vom ersten Feiertag früh bis zum Abend des Dreikönigtags nicht völlig nüchtern wurde; die das Treiben der jungen Leute des Orts beschränkende Aufsicht wurde in jeder Weise lässiger geübt; die Fiedeln und dle Klarinetten kamen auch bei nachtschlafender Zeit nnr wenig zur Ruhe, es wurde geschlachtet, gebacken und gebraut, und die solenne Weihnachtskeilerei der zur Wiederherstellung des sozialen Gleichgewichts einige andre weniger offizielle^folgten, Wid altem Herkommen zufolge um Abend des zweiten Feiertags in dem ^anzsaal statt. In ganz besonders genußreicher Weise feierte man das Fest dndnrch, daß '"an nicht arbeitete, sondern in stark geheizten Stuben zusammensaß und die Zeit '"it Essen und Verdauen hinbrachte. Wo einer die Zither spielte, fand sich auch am Tage die Jugend gern ein, wahrend die Alten die Fleischtöpfe des heimischen Herdes kaum verließen und nur in der nächsten Nachbarschaft ub und zu einen Besuch ab¬ statteten, bei dem es auch in der Hauptsache auf Essen und Trinken, und was die Männer anlangte, auf ein Pfeifchen hinauslief. . Der alte Merguer war, weil es zweiter Feiertag war, früh in der Kirche ge- '"eM und hatte sich Nachmittags gegen drei Uhr zum Kaffee bei Hodewitjchens ein¬ münden. Das war zu Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten und Weihnachten für ihn althergebrachter Brauch; er nannte sich mit dem alten Hodewitsch, mit dem er wcit- uwstg verwandt war, du und titulierte dessen Gattin, Hclenchens Mutter, in der oritten Pechm der Einzahl, indem er zum Beispiel sagte: Hörsche, Hvdewitsche». Heimchen saß nicht mit am Kaffeetisch, sondern ging ab und zu und bediente die /Ulm, nicht ohne von Zeit zu Zeit einen Blick durchs Fenster z» werfen, ob „er Deiche „ganz zufällig vorbeigelatscht käme." Latschen im Wchlcner Dialekt hat «lebt die unfreundliche, an eine Prozession von Gänsen und Gänserichen erinnernde ^edeutung; es entspricht vielmehr unserm Bummelu. Sie wollte also feheii. vo „er Deiche ganz zufällig vorbeigelatscht käme, und dan.it sollte in ihrem Herzen der ^ngart des „er" kein Vorwurf gemacht werden; o ganz und gar nicht. „Er er wußte sie denn nicht, daß Röberkarl im Körbchen lag und weder vorbeilatschen Grenzboten IV 1908 102

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/815>, abgerufen am 18.05.2024.