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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

So jetzt wieder in der Behandlung des jüngsten französisch-englischen Abkommens
über koloniale Fragen. Sicherlich ist das ein höchst bedeutsames Ereignis der Welt¬
politik. Gegen den Verzicht auf einige unbedeutende Fischereirechte in Neufundland
und die Anerkennung der englischen Herrschaft über Ägypten, an der doch nicht zu
rütteln war, hat Frankreich die wenig verhüllte Schutzherrschaft über Marokko und
Sinn sowie größere Grenzberichtigungen in Westafrika eingetauscht. Daß dieses
Einvernehmen der beiden Westmächte für uus kein Vorteil ist, abgesehen davon, daß
es zunächst dem Weltfrieden vielleicht förderlich ist, braucht nicht erst hervorgehoben
zu werden. Wie es auf das Verhältnis Frankreichs zu Rußland einwirken wird, läßt
sich noch nicht sagen; russische Äußerungen klingen ja vorläufig so, als ob man sich
dort über diesen Erfolg des "Bundesgenossen" aufrichtig freue. Vorläufig kaun
man ja wohl auch nicht anders. Und doch Wird man es in Petersburg schwerlich
vergessen, daß, während der Zar in seiner ehrlichen Friedensliebe sein ritterlich
gegebnes Versprechen, England während des Bnrenkricgcs nicht anzugreifen, ritter¬
lich hielt, obwohl es nur eines Wortes bedurft hätte, seine bereitstehenden Heer¬
säulen gegen Afghanistan und Indien in Bewegung zu setzen, England die erste
Verlegenheit Rußlands benutzt hat, seine Hand auf Tibet, das nördliche Glacis
von Indien, zu legen. Vielleicht bedeutet das Abkommen auch die Einleitung zu
dem entscheidenden Wassergange zwischen England und Rußland, und vielleicht
erklärt sich auch daraus die bis jetzt rein defensive Haltung der Russen im fernsten
Osten; sie wollen sich wohl dort nicht gar zu sehr engagieren. Was aber wird
in einem solchen Falle Frankreich tun? Sollte England ihm etwa so große Zu¬
geständnisse gemacht haben, um es schließlich auf Rußlands Seite zu sehen? Oder
sucht es in ihm mehr einen künftigen Bundesgenossen gegen Deutschland, den ge¬
fährlichsten wirtschaftlichen Gegner Englands, wie mau dort meint? Eine englisch-
französische Koalition wäre uns aber viel gefährlicher als eine russisch-französische.

Und in einer so schwierigen Lage überhäuft ein guter Teil unsrer Tages¬
presse den Reichskanzler mit neuen und alten Vorwürfen! Er hat Englands
Übermacht die Burenstaaten "zerstampfen" lassen, er hat den Vereinigten Staaten
und ihrer anmaßenden Monroedoktrin zu viel Nachgiebigkeit gezeigt, er nimmt
auch jetzt das englisch-französische Abkommen ruhig hin, ohne für die deutschen
Interessen zu sorgen. "Haben die Herren ein kurzes Gedärm!" Wann ist die
Möglichkeit, Siam und die Burenstaaten unter deutschen Schutz zu nehmen oder
zwischen diesen und dem deutschen Südwestafrika eine Landverbindung herzustellen,
aufgetaucht, ohne benutzt zu werden? In den achtziger Jahren. Wann ist die Scmta-
Luciabai preisgegeben worden? In derselben Zeit. Wann ist der Ausbau der
deutschen Schlachtflotte zugunsten der neuen Torpedowaffe völlig vernachlässigt
worden? In demselben Jahrzehnt. Wer hat bei dem Flotteugründungsplan den
größten Teil der Kreuzer, also der Auslandschisfe, gestrichen? Der Reichstag. Wer
hat jetzt wieder große Abstriche an dem Personal für die Marine vorgenommen?
Der Reichstag. Wer zeigt sich allen für koloniale Zwecke notwendigen Ausgaben
gegenüber zurückhaltend und knauserig? Der Reichstag. Wem verdanken wir die
Neugründung unsrer Kriegsflotte, wem das energische Eingreifen in die chinesischen
Wirren? Dem Kaiser und seinem Kanzler. Wer den Zweck will, muß auch die
Mittel wollen; wer will, daß Deutschland eine Kolonial- und Weltmacht sei oder
werde, der muß eine starke Flotte wollen, und der darf in den Kolonien keine Ernte
erwarten, ohne gesät zu haben. Zum erstenmal wird in den diesjährigen Flotten¬
manövern ein vollwertiges Geschwader von acht bis neun Linienschiffen auftreten
-- die Brandenburgklasse ist noch im Umbau begriffen, also nicht verwendungs-
bercit --, und bis das letzte Flottengesetz verwirklicht ist, wird das Jahr 1917 heran¬
kommen! Und mit solchen Mitteln soll Deutschland eine Politik führen, die es mit
großen Seemächten in Konflikt bringen könnte, wenn es den Weisen unsrer Re¬
daktionsstuben nachginge! Sie sehen auch uicht, daß die deutsche Politik heute viel
vielseitiger ist als vor zwanzig oder dreißig Jahren; damals war sie europäisch
beschränkt, und was draußen vorging, kümmerte sie nicht. Heute sind wir in,


Maßgebliches und Unmaßgebliches

So jetzt wieder in der Behandlung des jüngsten französisch-englischen Abkommens
über koloniale Fragen. Sicherlich ist das ein höchst bedeutsames Ereignis der Welt¬
politik. Gegen den Verzicht auf einige unbedeutende Fischereirechte in Neufundland
und die Anerkennung der englischen Herrschaft über Ägypten, an der doch nicht zu
rütteln war, hat Frankreich die wenig verhüllte Schutzherrschaft über Marokko und
Sinn sowie größere Grenzberichtigungen in Westafrika eingetauscht. Daß dieses
Einvernehmen der beiden Westmächte für uus kein Vorteil ist, abgesehen davon, daß
es zunächst dem Weltfrieden vielleicht förderlich ist, braucht nicht erst hervorgehoben
zu werden. Wie es auf das Verhältnis Frankreichs zu Rußland einwirken wird, läßt
sich noch nicht sagen; russische Äußerungen klingen ja vorläufig so, als ob man sich
dort über diesen Erfolg des „Bundesgenossen" aufrichtig freue. Vorläufig kaun
man ja wohl auch nicht anders. Und doch Wird man es in Petersburg schwerlich
vergessen, daß, während der Zar in seiner ehrlichen Friedensliebe sein ritterlich
gegebnes Versprechen, England während des Bnrenkricgcs nicht anzugreifen, ritter¬
lich hielt, obwohl es nur eines Wortes bedurft hätte, seine bereitstehenden Heer¬
säulen gegen Afghanistan und Indien in Bewegung zu setzen, England die erste
Verlegenheit Rußlands benutzt hat, seine Hand auf Tibet, das nördliche Glacis
von Indien, zu legen. Vielleicht bedeutet das Abkommen auch die Einleitung zu
dem entscheidenden Wassergange zwischen England und Rußland, und vielleicht
erklärt sich auch daraus die bis jetzt rein defensive Haltung der Russen im fernsten
Osten; sie wollen sich wohl dort nicht gar zu sehr engagieren. Was aber wird
in einem solchen Falle Frankreich tun? Sollte England ihm etwa so große Zu¬
geständnisse gemacht haben, um es schließlich auf Rußlands Seite zu sehen? Oder
sucht es in ihm mehr einen künftigen Bundesgenossen gegen Deutschland, den ge¬
fährlichsten wirtschaftlichen Gegner Englands, wie mau dort meint? Eine englisch-
französische Koalition wäre uns aber viel gefährlicher als eine russisch-französische.

Und in einer so schwierigen Lage überhäuft ein guter Teil unsrer Tages¬
presse den Reichskanzler mit neuen und alten Vorwürfen! Er hat Englands
Übermacht die Burenstaaten „zerstampfen" lassen, er hat den Vereinigten Staaten
und ihrer anmaßenden Monroedoktrin zu viel Nachgiebigkeit gezeigt, er nimmt
auch jetzt das englisch-französische Abkommen ruhig hin, ohne für die deutschen
Interessen zu sorgen. „Haben die Herren ein kurzes Gedärm!" Wann ist die
Möglichkeit, Siam und die Burenstaaten unter deutschen Schutz zu nehmen oder
zwischen diesen und dem deutschen Südwestafrika eine Landverbindung herzustellen,
aufgetaucht, ohne benutzt zu werden? In den achtziger Jahren. Wann ist die Scmta-
Luciabai preisgegeben worden? In derselben Zeit. Wann ist der Ausbau der
deutschen Schlachtflotte zugunsten der neuen Torpedowaffe völlig vernachlässigt
worden? In demselben Jahrzehnt. Wer hat bei dem Flotteugründungsplan den
größten Teil der Kreuzer, also der Auslandschisfe, gestrichen? Der Reichstag. Wer
hat jetzt wieder große Abstriche an dem Personal für die Marine vorgenommen?
Der Reichstag. Wer zeigt sich allen für koloniale Zwecke notwendigen Ausgaben
gegenüber zurückhaltend und knauserig? Der Reichstag. Wem verdanken wir die
Neugründung unsrer Kriegsflotte, wem das energische Eingreifen in die chinesischen
Wirren? Dem Kaiser und seinem Kanzler. Wer den Zweck will, muß auch die
Mittel wollen; wer will, daß Deutschland eine Kolonial- und Weltmacht sei oder
werde, der muß eine starke Flotte wollen, und der darf in den Kolonien keine Ernte
erwarten, ohne gesät zu haben. Zum erstenmal wird in den diesjährigen Flotten¬
manövern ein vollwertiges Geschwader von acht bis neun Linienschiffen auftreten
— die Brandenburgklasse ist noch im Umbau begriffen, also nicht verwendungs-
bercit —, und bis das letzte Flottengesetz verwirklicht ist, wird das Jahr 1917 heran¬
kommen! Und mit solchen Mitteln soll Deutschland eine Politik führen, die es mit
großen Seemächten in Konflikt bringen könnte, wenn es den Weisen unsrer Re¬
daktionsstuben nachginge! Sie sehen auch uicht, daß die deutsche Politik heute viel
vielseitiger ist als vor zwanzig oder dreißig Jahren; damals war sie europäisch
beschränkt, und was draußen vorging, kümmerte sie nicht. Heute sind wir in,


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[0186] Maßgebliches und Unmaßgebliches So jetzt wieder in der Behandlung des jüngsten französisch-englischen Abkommens über koloniale Fragen. Sicherlich ist das ein höchst bedeutsames Ereignis der Welt¬ politik. Gegen den Verzicht auf einige unbedeutende Fischereirechte in Neufundland und die Anerkennung der englischen Herrschaft über Ägypten, an der doch nicht zu rütteln war, hat Frankreich die wenig verhüllte Schutzherrschaft über Marokko und Sinn sowie größere Grenzberichtigungen in Westafrika eingetauscht. Daß dieses Einvernehmen der beiden Westmächte für uus kein Vorteil ist, abgesehen davon, daß es zunächst dem Weltfrieden vielleicht förderlich ist, braucht nicht erst hervorgehoben zu werden. Wie es auf das Verhältnis Frankreichs zu Rußland einwirken wird, läßt sich noch nicht sagen; russische Äußerungen klingen ja vorläufig so, als ob man sich dort über diesen Erfolg des „Bundesgenossen" aufrichtig freue. Vorläufig kaun man ja wohl auch nicht anders. Und doch Wird man es in Petersburg schwerlich vergessen, daß, während der Zar in seiner ehrlichen Friedensliebe sein ritterlich gegebnes Versprechen, England während des Bnrenkricgcs nicht anzugreifen, ritter¬ lich hielt, obwohl es nur eines Wortes bedurft hätte, seine bereitstehenden Heer¬ säulen gegen Afghanistan und Indien in Bewegung zu setzen, England die erste Verlegenheit Rußlands benutzt hat, seine Hand auf Tibet, das nördliche Glacis von Indien, zu legen. Vielleicht bedeutet das Abkommen auch die Einleitung zu dem entscheidenden Wassergange zwischen England und Rußland, und vielleicht erklärt sich auch daraus die bis jetzt rein defensive Haltung der Russen im fernsten Osten; sie wollen sich wohl dort nicht gar zu sehr engagieren. Was aber wird in einem solchen Falle Frankreich tun? Sollte England ihm etwa so große Zu¬ geständnisse gemacht haben, um es schließlich auf Rußlands Seite zu sehen? Oder sucht es in ihm mehr einen künftigen Bundesgenossen gegen Deutschland, den ge¬ fährlichsten wirtschaftlichen Gegner Englands, wie mau dort meint? Eine englisch- französische Koalition wäre uns aber viel gefährlicher als eine russisch-französische. Und in einer so schwierigen Lage überhäuft ein guter Teil unsrer Tages¬ presse den Reichskanzler mit neuen und alten Vorwürfen! Er hat Englands Übermacht die Burenstaaten „zerstampfen" lassen, er hat den Vereinigten Staaten und ihrer anmaßenden Monroedoktrin zu viel Nachgiebigkeit gezeigt, er nimmt auch jetzt das englisch-französische Abkommen ruhig hin, ohne für die deutschen Interessen zu sorgen. „Haben die Herren ein kurzes Gedärm!" Wann ist die Möglichkeit, Siam und die Burenstaaten unter deutschen Schutz zu nehmen oder zwischen diesen und dem deutschen Südwestafrika eine Landverbindung herzustellen, aufgetaucht, ohne benutzt zu werden? In den achtziger Jahren. Wann ist die Scmta- Luciabai preisgegeben worden? In derselben Zeit. Wann ist der Ausbau der deutschen Schlachtflotte zugunsten der neuen Torpedowaffe völlig vernachlässigt worden? In demselben Jahrzehnt. Wer hat bei dem Flotteugründungsplan den größten Teil der Kreuzer, also der Auslandschisfe, gestrichen? Der Reichstag. Wer hat jetzt wieder große Abstriche an dem Personal für die Marine vorgenommen? Der Reichstag. Wer zeigt sich allen für koloniale Zwecke notwendigen Ausgaben gegenüber zurückhaltend und knauserig? Der Reichstag. Wem verdanken wir die Neugründung unsrer Kriegsflotte, wem das energische Eingreifen in die chinesischen Wirren? Dem Kaiser und seinem Kanzler. Wer den Zweck will, muß auch die Mittel wollen; wer will, daß Deutschland eine Kolonial- und Weltmacht sei oder werde, der muß eine starke Flotte wollen, und der darf in den Kolonien keine Ernte erwarten, ohne gesät zu haben. Zum erstenmal wird in den diesjährigen Flotten¬ manövern ein vollwertiges Geschwader von acht bis neun Linienschiffen auftreten — die Brandenburgklasse ist noch im Umbau begriffen, also nicht verwendungs- bercit —, und bis das letzte Flottengesetz verwirklicht ist, wird das Jahr 1917 heran¬ kommen! Und mit solchen Mitteln soll Deutschland eine Politik führen, die es mit großen Seemächten in Konflikt bringen könnte, wenn es den Weisen unsrer Re¬ daktionsstuben nachginge! Sie sehen auch uicht, daß die deutsche Politik heute viel vielseitiger ist als vor zwanzig oder dreißig Jahren; damals war sie europäisch beschränkt, und was draußen vorging, kümmerte sie nicht. Heute sind wir in,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/186>, abgerufen am 20.05.2024.