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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Erst wenn es ihm gelungen ist, alle störenden Nebenvorstellungen auszuschalten,
ganz voraussetzungslos an das Dichterwerk heranzutreten, erst dann gewinnt er
den vollen Eindruck. Die komischen Szenen, die teilweise zu diesem Zweck von
Kleist auch gekürzt worden sind, treten dann mehr zurück und bilden nur noch
die krausen Umrahmnngslinien eines einfach und edel entworfnen Bildes.
Gerade wie in unsern Märchen und Sagen eine tolle Welt von Zwergen,
Kobolden und Hexen den Hintergrund abgibt für die zartesten, poetischen Ge¬
bilde, wie Schneewittchen erst bei den Zwergen, Dornröschen bei der Hexe ihren
ganzen Zauber entfalten, so erscheint anch erst dnrch die phantastische Realistik
der Sosiasszenen die Gestalt der Alkmene in ihrer ganzen leuchtenden Reinheit.

Will man Kleists Amphitryon einem Gattungsbegriff unterordnen, so kann
es nnr ein sehr weiter, umfassender oder ein unbestimmter sein, etwa: drama¬
tisches Gedicht oder romantisches Schauspiel. Die Berufung von Gentz ans
Shakespeares Lustspiele scheint mir nicht zutreffend. Sogar die ernstesten unter
ihnen, die wir auch lieber romantische Schauspiele nennen möchten, enthalten
leine so aufregenden, qualvollen Seelenkonflikte. Sie stellen Unglück dar und
rühren uus zu herzlichem Mitgefühl; es ist aber immer mehr äußeres Unglück:
Nerbcmuung, Verfolgung, Mißverständnisse und dergleichen. Immer sehen wir
die Möglichkeit des guten Ausgangs voraus; immer klingen sie rein und kräftig
aus, ohne das Mitschwingen so vieler Obertöue, daß wir uns unsicher fragen:
Was war das? Das einzige Lustspiel Shakespeares, das wir hier herbciziehn
dürften, weil es anch ein erschütterndes Seeleuproblem enthält, wäre der Kauf¬
mann von Venedig; aber gerade dem gegenüber empfinden wir heute so anders
als Shakespeares Zeitgenossen, daß wir uns nur schwer einen Begriff von der
beabsichtigten Wirkung macheu können. Und anch nach unserm heutigen
Empfinden gemessen bleibt noch ein großer Abstand vom Amphitryon, denn
hier ist der Konflikt in die Seele der Hauptperson gelegt, die wir mit voller
Liebe umfassen. Auch löst sich die Verwicklung nicht in reiner Freude, in
tiefem, heiligem Ernst, in Andacht klingt sie aus.

Ganz unfaßlich wird es jedem bleiben, der diese Dichtung Kleists unbe¬
fangen auf sich hat wirken lassen, wie man sie je habe herbciziehn können, um
den sittlichen Charakter Kleists zu verdächtigen. Ein sittlich niedrig stehender
Mensch vermag nicht eine Gestalt wie Alkmene zu schauen; er ist unfähig eines
so hohen, idealistischen Gedankenfluges; er würde nie ein solches Thema mit
solcher Ruhe und Sicherheit behandeln können. Kleist schreckt vor keiner Auf¬
gabe zurück, weil er sich die Fähigkeit zutraut, sie mit reinem Herzen zu lösen,
weil er seinem Volke so viel gesundes sittliches Gefühl zutraut, rein nachzu¬
empfinden, was er ihm mit reinen Händen bringt. Das ist echter, deutscher
Id Paula Schlodtmann ealismus.




Erst wenn es ihm gelungen ist, alle störenden Nebenvorstellungen auszuschalten,
ganz voraussetzungslos an das Dichterwerk heranzutreten, erst dann gewinnt er
den vollen Eindruck. Die komischen Szenen, die teilweise zu diesem Zweck von
Kleist auch gekürzt worden sind, treten dann mehr zurück und bilden nur noch
die krausen Umrahmnngslinien eines einfach und edel entworfnen Bildes.
Gerade wie in unsern Märchen und Sagen eine tolle Welt von Zwergen,
Kobolden und Hexen den Hintergrund abgibt für die zartesten, poetischen Ge¬
bilde, wie Schneewittchen erst bei den Zwergen, Dornröschen bei der Hexe ihren
ganzen Zauber entfalten, so erscheint anch erst dnrch die phantastische Realistik
der Sosiasszenen die Gestalt der Alkmene in ihrer ganzen leuchtenden Reinheit.

Will man Kleists Amphitryon einem Gattungsbegriff unterordnen, so kann
es nnr ein sehr weiter, umfassender oder ein unbestimmter sein, etwa: drama¬
tisches Gedicht oder romantisches Schauspiel. Die Berufung von Gentz ans
Shakespeares Lustspiele scheint mir nicht zutreffend. Sogar die ernstesten unter
ihnen, die wir auch lieber romantische Schauspiele nennen möchten, enthalten
leine so aufregenden, qualvollen Seelenkonflikte. Sie stellen Unglück dar und
rühren uus zu herzlichem Mitgefühl; es ist aber immer mehr äußeres Unglück:
Nerbcmuung, Verfolgung, Mißverständnisse und dergleichen. Immer sehen wir
die Möglichkeit des guten Ausgangs voraus; immer klingen sie rein und kräftig
aus, ohne das Mitschwingen so vieler Obertöue, daß wir uns unsicher fragen:
Was war das? Das einzige Lustspiel Shakespeares, das wir hier herbciziehn
dürften, weil es anch ein erschütterndes Seeleuproblem enthält, wäre der Kauf¬
mann von Venedig; aber gerade dem gegenüber empfinden wir heute so anders
als Shakespeares Zeitgenossen, daß wir uns nur schwer einen Begriff von der
beabsichtigten Wirkung macheu können. Und anch nach unserm heutigen
Empfinden gemessen bleibt noch ein großer Abstand vom Amphitryon, denn
hier ist der Konflikt in die Seele der Hauptperson gelegt, die wir mit voller
Liebe umfassen. Auch löst sich die Verwicklung nicht in reiner Freude, in
tiefem, heiligem Ernst, in Andacht klingt sie aus.

Ganz unfaßlich wird es jedem bleiben, der diese Dichtung Kleists unbe¬
fangen auf sich hat wirken lassen, wie man sie je habe herbciziehn können, um
den sittlichen Charakter Kleists zu verdächtigen. Ein sittlich niedrig stehender
Mensch vermag nicht eine Gestalt wie Alkmene zu schauen; er ist unfähig eines
so hohen, idealistischen Gedankenfluges; er würde nie ein solches Thema mit
solcher Ruhe und Sicherheit behandeln können. Kleist schreckt vor keiner Auf¬
gabe zurück, weil er sich die Fähigkeit zutraut, sie mit reinem Herzen zu lösen,
weil er seinem Volke so viel gesundes sittliches Gefühl zutraut, rein nachzu¬
empfinden, was er ihm mit reinen Händen bringt. Das ist echter, deutscher
Id Paula Schlodtmann ealismus.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/288>, abgerufen am 20.05.2024.