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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Goethe als Erneuerer

Daneben ist eine Wendung wie die folgende nur noch eine ausdrückliche Be¬
stätigung des selbstherrlichen Standpunktes auch gegenüber biblischen Begriffen:
"In den geistreichen und kunstliebenden Kreisen unsrer Herzogin Amalie war
es herkömmlich, daß Italien jederzeit als das neue Jerusalem wahrer Gebildeter
betrachtet wurde." Nennt Goethe doch auch den großen, starken Trüger, der
als episodische Figur der Wanderjahre auftritt, eine Gestalt, wie wir uns etwa
den von Goethe ins Auge gefaßten epischen Helden Tell zu denken haben,
einfach Se. Christoph, und gelassen beginnt er die Wanderjahre mit nichts
mehr und nichts weniger als einer Erneuerung des Evangeliencmfaugs, der
Geschichte von Joseph und Maria, in eine gegenwärtig-idyllische, human¬
freundliche Novelle herübergebildet mit der Überschrift Se. Joseph der Zweite,
als wahren Schatzgräber, nachdem er den falschen, äußerlichen wiederholt poetisch
abgelehnt hatte, hier mit Verwunderung und Genugtuung sich bezeichnend:

Einen spät gehobnen alten Schatz enthalten die Wanderjahre auch in der
Neuen Melusine, der reizenden, mit kindlicher Phantasie ausgestatteten Er¬
neuerung eines der deutschen Volksbücher. Mit ihr deuten wir auf den alt¬
deutsch-romantischen Kreis, der für uns seit Goethe an Umfang und Wert ge¬
wachsen ist und dadurch zu einem entsprechenden Verblassen der Antike beigetragen
hat. Von den drei großen bisher ins Auge gefaßten Kulturtraditionen -- denen
als vierte noch die klassische arabische Lyrik samt ihrer Goethischen Erneuerung,
dem West-Ostlichen Divcin, anzuschließen wäre -- könnte er die für Goethe am
wenigsten ergiebige scheinen. Ein Gedicht wie der Neue Amadis, wie schon
Wielands erneuernder Roman betitelt war, steht ziemlich vereinzelt in Goethes
Lyrik, aber dafür wird dieser Sphäre ein größtes im Faust verdankt. Der
alternde Goethe hat sich dann auch einige Begriffe der deutschen Mythe zu
eigen gemacht: wiederholt bedient er sich als teurer Symbole des getreuen
Eckarts, des Warners, der Schweigen lehrt, und der großen Frau Holde, d. h.
der Mutter Natur, wie ein Idyll Tischbeins sie ihm vergegenwärtigte, und
wie er noch 1828 die schönen altersgreisen Dornburger Septembervcrse an sie
gewendet schließt:

Wir begnügen uns mit diesen wenigen, mehr oder weniger zufällig ge-
griffnen Beispielen -- jeder kann sie aus seiner Goethekenntnis heraus ver¬
mehren -- und werfen zunächst einen Blick rückwärts und fragen, ob nicht in
diesem Zusammenhange Licht auf das oft zitierte Wort falle, daß das beste
an der Geschichte der Enthusiasmus sei, den sie erwecke? Kenntnisse von ver-


Goethe als Erneuerer

Daneben ist eine Wendung wie die folgende nur noch eine ausdrückliche Be¬
stätigung des selbstherrlichen Standpunktes auch gegenüber biblischen Begriffen:
„In den geistreichen und kunstliebenden Kreisen unsrer Herzogin Amalie war
es herkömmlich, daß Italien jederzeit als das neue Jerusalem wahrer Gebildeter
betrachtet wurde." Nennt Goethe doch auch den großen, starken Trüger, der
als episodische Figur der Wanderjahre auftritt, eine Gestalt, wie wir uns etwa
den von Goethe ins Auge gefaßten epischen Helden Tell zu denken haben,
einfach Se. Christoph, und gelassen beginnt er die Wanderjahre mit nichts
mehr und nichts weniger als einer Erneuerung des Evangeliencmfaugs, der
Geschichte von Joseph und Maria, in eine gegenwärtig-idyllische, human¬
freundliche Novelle herübergebildet mit der Überschrift Se. Joseph der Zweite,
als wahren Schatzgräber, nachdem er den falschen, äußerlichen wiederholt poetisch
abgelehnt hatte, hier mit Verwunderung und Genugtuung sich bezeichnend:

Einen spät gehobnen alten Schatz enthalten die Wanderjahre auch in der
Neuen Melusine, der reizenden, mit kindlicher Phantasie ausgestatteten Er¬
neuerung eines der deutschen Volksbücher. Mit ihr deuten wir auf den alt¬
deutsch-romantischen Kreis, der für uns seit Goethe an Umfang und Wert ge¬
wachsen ist und dadurch zu einem entsprechenden Verblassen der Antike beigetragen
hat. Von den drei großen bisher ins Auge gefaßten Kulturtraditionen — denen
als vierte noch die klassische arabische Lyrik samt ihrer Goethischen Erneuerung,
dem West-Ostlichen Divcin, anzuschließen wäre — könnte er die für Goethe am
wenigsten ergiebige scheinen. Ein Gedicht wie der Neue Amadis, wie schon
Wielands erneuernder Roman betitelt war, steht ziemlich vereinzelt in Goethes
Lyrik, aber dafür wird dieser Sphäre ein größtes im Faust verdankt. Der
alternde Goethe hat sich dann auch einige Begriffe der deutschen Mythe zu
eigen gemacht: wiederholt bedient er sich als teurer Symbole des getreuen
Eckarts, des Warners, der Schweigen lehrt, und der großen Frau Holde, d. h.
der Mutter Natur, wie ein Idyll Tischbeins sie ihm vergegenwärtigte, und
wie er noch 1828 die schönen altersgreisen Dornburger Septembervcrse an sie
gewendet schließt:

Wir begnügen uns mit diesen wenigen, mehr oder weniger zufällig ge-
griffnen Beispielen — jeder kann sie aus seiner Goethekenntnis heraus ver¬
mehren — und werfen zunächst einen Blick rückwärts und fragen, ob nicht in
diesem Zusammenhange Licht auf das oft zitierte Wort falle, daß das beste
an der Geschichte der Enthusiasmus sei, den sie erwecke? Kenntnisse von ver-


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[0158] Goethe als Erneuerer Daneben ist eine Wendung wie die folgende nur noch eine ausdrückliche Be¬ stätigung des selbstherrlichen Standpunktes auch gegenüber biblischen Begriffen: „In den geistreichen und kunstliebenden Kreisen unsrer Herzogin Amalie war es herkömmlich, daß Italien jederzeit als das neue Jerusalem wahrer Gebildeter betrachtet wurde." Nennt Goethe doch auch den großen, starken Trüger, der als episodische Figur der Wanderjahre auftritt, eine Gestalt, wie wir uns etwa den von Goethe ins Auge gefaßten epischen Helden Tell zu denken haben, einfach Se. Christoph, und gelassen beginnt er die Wanderjahre mit nichts mehr und nichts weniger als einer Erneuerung des Evangeliencmfaugs, der Geschichte von Joseph und Maria, in eine gegenwärtig-idyllische, human¬ freundliche Novelle herübergebildet mit der Überschrift Se. Joseph der Zweite, als wahren Schatzgräber, nachdem er den falschen, äußerlichen wiederholt poetisch abgelehnt hatte, hier mit Verwunderung und Genugtuung sich bezeichnend: Einen spät gehobnen alten Schatz enthalten die Wanderjahre auch in der Neuen Melusine, der reizenden, mit kindlicher Phantasie ausgestatteten Er¬ neuerung eines der deutschen Volksbücher. Mit ihr deuten wir auf den alt¬ deutsch-romantischen Kreis, der für uns seit Goethe an Umfang und Wert ge¬ wachsen ist und dadurch zu einem entsprechenden Verblassen der Antike beigetragen hat. Von den drei großen bisher ins Auge gefaßten Kulturtraditionen — denen als vierte noch die klassische arabische Lyrik samt ihrer Goethischen Erneuerung, dem West-Ostlichen Divcin, anzuschließen wäre — könnte er die für Goethe am wenigsten ergiebige scheinen. Ein Gedicht wie der Neue Amadis, wie schon Wielands erneuernder Roman betitelt war, steht ziemlich vereinzelt in Goethes Lyrik, aber dafür wird dieser Sphäre ein größtes im Faust verdankt. Der alternde Goethe hat sich dann auch einige Begriffe der deutschen Mythe zu eigen gemacht: wiederholt bedient er sich als teurer Symbole des getreuen Eckarts, des Warners, der Schweigen lehrt, und der großen Frau Holde, d. h. der Mutter Natur, wie ein Idyll Tischbeins sie ihm vergegenwärtigte, und wie er noch 1828 die schönen altersgreisen Dornburger Septembervcrse an sie gewendet schließt: Wir begnügen uns mit diesen wenigen, mehr oder weniger zufällig ge- griffnen Beispielen — jeder kann sie aus seiner Goethekenntnis heraus ver¬ mehren — und werfen zunächst einen Blick rückwärts und fragen, ob nicht in diesem Zusammenhange Licht auf das oft zitierte Wort falle, daß das beste an der Geschichte der Enthusiasmus sei, den sie erwecke? Kenntnisse von ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/158>, abgerufen am 28.05.2024.