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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Das "Rotwelsch" des deutschen Gauners

Teil, mit solchen Abkürzungen zusammen. Denn die erste Hälfte dieses Wortes
bedeutet die Sträflingsarbeit, namentlich die Erdarbeiten, wie sie mit dem Karren,
Schubkarren (rotw. Schinagole, zusammengesetzt aus der Abbreviatur sadin
für Schub und Agole oder Göte, vom jüd. agolo, Wagen, Karren) verrichtet zu
werden pflegen. In ähnlicher Weise sind von den Gaunern (nach jüdischem Muster)
auch viele Städtennmcn gebildet worden, indem man die jüdisch-deutsche Bezeichnung
des Anfangsbuchstabens in Verbindung mit dem Worte Motum (Stadt) gesetzt hat.
Demgemäß bedeutet z. B. Motum Dollet. Dresden, Motum Hey (oder He)
Hannover oder Hamburg (beide auch wohl als "godel sgroU M. Hey" gegen¬
über Hildesheim bezeichnet), M. Kuf. Kassel, M. Mem, München oder Magde¬
burg, M. Lammet oder Lommet. Leipzig, M Resch, Regensburg. M. Schim,
Stuttgart, M. Zaddik, Celle usw. Die erst ganz moderne und auf lokalen
Gebrauch (Hamburg) beschränkte Abkürzung Z (Zee) für Zuchthaus entspricht wohl
dein studentischen 8. v. für Senioren-Konvent, dem M (Em) für Mark dem D
(De) in der allbekannten Verbindung "D-Zug" (Durchgangszug) und 'ähnlichen
"sprachlichen Versteinerungen." für die unsre Sprache in der Gegenwart offenbar
eine gewisse Borliebe hat.

Auch die Art der Wortverkürzuug, bei länger" Vokabeln einzelne Silben
wegzustreichen und nur die Anfangs- oder die Endsilben stehn zu lassen (sogenannte
Aphärese und Apokope), die namentlich im französischen Argot beliebt ist (wie
ti-a ti'iivml, basoll" -- bascMeisr, t^po -- tFpo^i'g.pb.e.; en^ut -- eng.rob.Ära,
vio-it -- mullieipirl usw.). kommt bisweilen im Rotwelsch vor. So sind seit Mitte
des achtzehnten Jahrhunderts die Abkürzungen Ne und Prae für Religiösen und
Prädikcmten, gewisse Arten betrügerischer Bettler, überliefert, und noch heute
bedeutet in der Berliner Verbrechersprache Sonne das Zuchthaus zu Sonnenburg,
Brand die Strafanstalt in Brandenburg, Plötze die in Plötzensee (vergl. dazu
das neuerdings in unsrer Umgangssprache aufgekommne "Ober" statt Oberkellner).
Umgekehrt findet sich schon in der ältern Gnunersprache z. B. Stande (statt: Haus¬
stande) für Hemd, Fang (statt: Windfang) für Mantel, Brand (statt: Schürn-
brand) für Bier (vergl. auch Klack oder Lack für Siegellack). Auch Quetsch für
Amtsdiener, Polizist ist wohl eine Kürzung von Poliquetsch, Butze sür Gans
wahrscheinlich eine solche von Strohbutze oder Strohputzer.

Endlich hat das Rotwelsch auch von den Buchstaben- und den Silbenumstellungen
Gebrauch gemacht, wenngleich lauge nicht in dem Maße wie andre Geheim¬
sprachen, beispielsweise die sogenannte Frickhöfer Sprache, ein Krämerlatein der
Hausierer in der Umgegend vou Limburg und Hndamar, die ganz vorwiegend
aus solchen Silbenspielereien besteht. Unsre Gruner und Vagabunden haben sich
zuweilen sogar nur mit einer Veränderung des Anfangskonsounnteu eines Wortes
begnügt und dadurch (nach Art des englischen rb^minA stauF) nicht ohne Witz
aus dem Kaufmann einen "Laufmann" und aus dem jüdisch-deutschen ..Gcillach,"
Pfarrer (eigentlich der Geschorene, der Tonsurierte, vou Aoloaen, scheren) einen
"Wallach" gemacht, während umgekehrt der deutsche Schulmeister zu einem
halbjüdischen .,Dul(l)meister" oder zu dem völlig jüdischen -- ,.Dul(l)goi"
(von eint, et!Ü arm und Api, Christ) unigewandelt ist -- eine Anspielung auf die
meist recht knappe Besoldung der christlichen Volksschullehrer. Inwieweit übrigens
auf diesem Gebiet auch Druckfehler ihr Spiel angetrieben haben (so vielleicht bei
Witze statt Hitze sür Wärme und Zopsianns statt Hopfianus, Latinisiernng des
Hopfenbauers), ring hier dahingestellt bleiben. Zuweilen finden sich auch An¬
stellungen einzelner Buchstaben innerhalb eines Wortes, wie bei "Tirach" oder
"Dirach" im Sinne von Weg, Landstraße, Bettelbezirk, gebildet vielleicht aus
dem uns schon bekannten halb lateinischen, halb deutschen Terich, Erde, bei
Manistere, Suppe aus dem italienischen minssiiA., Kains, Messer aus dem
französischen Linie' (Kcmif) und dem auch schon früher erwähnten Fischneß, Weste
aus dem englischen tasnicmisr (gesprochen: Feschenist). Beinahe unbekannt' scheint


Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners

Teil, mit solchen Abkürzungen zusammen. Denn die erste Hälfte dieses Wortes
bedeutet die Sträflingsarbeit, namentlich die Erdarbeiten, wie sie mit dem Karren,
Schubkarren (rotw. Schinagole, zusammengesetzt aus der Abbreviatur sadin
für Schub und Agole oder Göte, vom jüd. agolo, Wagen, Karren) verrichtet zu
werden pflegen. In ähnlicher Weise sind von den Gaunern (nach jüdischem Muster)
auch viele Städtennmcn gebildet worden, indem man die jüdisch-deutsche Bezeichnung
des Anfangsbuchstabens in Verbindung mit dem Worte Motum (Stadt) gesetzt hat.
Demgemäß bedeutet z. B. Motum Dollet. Dresden, Motum Hey (oder He)
Hannover oder Hamburg (beide auch wohl als „godel sgroU M. Hey" gegen¬
über Hildesheim bezeichnet), M. Kuf. Kassel, M. Mem, München oder Magde¬
burg, M. Lammet oder Lommet. Leipzig, M Resch, Regensburg. M. Schim,
Stuttgart, M. Zaddik, Celle usw. Die erst ganz moderne und auf lokalen
Gebrauch (Hamburg) beschränkte Abkürzung Z (Zee) für Zuchthaus entspricht wohl
dein studentischen 8. v. für Senioren-Konvent, dem M (Em) für Mark dem D
(De) in der allbekannten Verbindung „D-Zug" (Durchgangszug) und 'ähnlichen
„sprachlichen Versteinerungen." für die unsre Sprache in der Gegenwart offenbar
eine gewisse Borliebe hat.

Auch die Art der Wortverkürzuug, bei länger» Vokabeln einzelne Silben
wegzustreichen und nur die Anfangs- oder die Endsilben stehn zu lassen (sogenannte
Aphärese und Apokope), die namentlich im französischen Argot beliebt ist (wie
ti-a ti'iivml, basoll" — bascMeisr, t^po — tFpo^i'g.pb.e.; en^ut — eng.rob.Ära,
vio-it — mullieipirl usw.). kommt bisweilen im Rotwelsch vor. So sind seit Mitte
des achtzehnten Jahrhunderts die Abkürzungen Ne und Prae für Religiösen und
Prädikcmten, gewisse Arten betrügerischer Bettler, überliefert, und noch heute
bedeutet in der Berliner Verbrechersprache Sonne das Zuchthaus zu Sonnenburg,
Brand die Strafanstalt in Brandenburg, Plötze die in Plötzensee (vergl. dazu
das neuerdings in unsrer Umgangssprache aufgekommne „Ober" statt Oberkellner).
Umgekehrt findet sich schon in der ältern Gnunersprache z. B. Stande (statt: Haus¬
stande) für Hemd, Fang (statt: Windfang) für Mantel, Brand (statt: Schürn-
brand) für Bier (vergl. auch Klack oder Lack für Siegellack). Auch Quetsch für
Amtsdiener, Polizist ist wohl eine Kürzung von Poliquetsch, Butze sür Gans
wahrscheinlich eine solche von Strohbutze oder Strohputzer.

Endlich hat das Rotwelsch auch von den Buchstaben- und den Silbenumstellungen
Gebrauch gemacht, wenngleich lauge nicht in dem Maße wie andre Geheim¬
sprachen, beispielsweise die sogenannte Frickhöfer Sprache, ein Krämerlatein der
Hausierer in der Umgegend vou Limburg und Hndamar, die ganz vorwiegend
aus solchen Silbenspielereien besteht. Unsre Gruner und Vagabunden haben sich
zuweilen sogar nur mit einer Veränderung des Anfangskonsounnteu eines Wortes
begnügt und dadurch (nach Art des englischen rb^minA stauF) nicht ohne Witz
aus dem Kaufmann einen „Laufmann" und aus dem jüdisch-deutschen ..Gcillach,"
Pfarrer (eigentlich der Geschorene, der Tonsurierte, vou Aoloaen, scheren) einen
„Wallach" gemacht, während umgekehrt der deutsche Schulmeister zu einem
halbjüdischen .,Dul(l)meister" oder zu dem völlig jüdischen — ,.Dul(l)goi"
(von eint, et!Ü arm und Api, Christ) unigewandelt ist — eine Anspielung auf die
meist recht knappe Besoldung der christlichen Volksschullehrer. Inwieweit übrigens
auf diesem Gebiet auch Druckfehler ihr Spiel angetrieben haben (so vielleicht bei
Witze statt Hitze sür Wärme und Zopsianns statt Hopfianus, Latinisiernng des
Hopfenbauers), ring hier dahingestellt bleiben. Zuweilen finden sich auch An¬
stellungen einzelner Buchstaben innerhalb eines Wortes, wie bei „Tirach" oder
„Dirach" im Sinne von Weg, Landstraße, Bettelbezirk, gebildet vielleicht aus
dem uns schon bekannten halb lateinischen, halb deutschen Terich, Erde, bei
Manistere, Suppe aus dem italienischen minssiiA., Kains, Messer aus dem
französischen Linie' (Kcmif) und dem auch schon früher erwähnten Fischneß, Weste
aus dem englischen tasnicmisr (gesprochen: Feschenist). Beinahe unbekannt' scheint


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[0171] Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners Teil, mit solchen Abkürzungen zusammen. Denn die erste Hälfte dieses Wortes bedeutet die Sträflingsarbeit, namentlich die Erdarbeiten, wie sie mit dem Karren, Schubkarren (rotw. Schinagole, zusammengesetzt aus der Abbreviatur sadin für Schub und Agole oder Göte, vom jüd. agolo, Wagen, Karren) verrichtet zu werden pflegen. In ähnlicher Weise sind von den Gaunern (nach jüdischem Muster) auch viele Städtennmcn gebildet worden, indem man die jüdisch-deutsche Bezeichnung des Anfangsbuchstabens in Verbindung mit dem Worte Motum (Stadt) gesetzt hat. Demgemäß bedeutet z. B. Motum Dollet. Dresden, Motum Hey (oder He) Hannover oder Hamburg (beide auch wohl als „godel sgroU M. Hey" gegen¬ über Hildesheim bezeichnet), M. Kuf. Kassel, M. Mem, München oder Magde¬ burg, M. Lammet oder Lommet. Leipzig, M Resch, Regensburg. M. Schim, Stuttgart, M. Zaddik, Celle usw. Die erst ganz moderne und auf lokalen Gebrauch (Hamburg) beschränkte Abkürzung Z (Zee) für Zuchthaus entspricht wohl dein studentischen 8. v. für Senioren-Konvent, dem M (Em) für Mark dem D (De) in der allbekannten Verbindung „D-Zug" (Durchgangszug) und 'ähnlichen „sprachlichen Versteinerungen." für die unsre Sprache in der Gegenwart offenbar eine gewisse Borliebe hat. Auch die Art der Wortverkürzuug, bei länger» Vokabeln einzelne Silben wegzustreichen und nur die Anfangs- oder die Endsilben stehn zu lassen (sogenannte Aphärese und Apokope), die namentlich im französischen Argot beliebt ist (wie ti-a ti'iivml, basoll" — bascMeisr, t^po — tFpo^i'g.pb.e.; en^ut — eng.rob.Ära, vio-it — mullieipirl usw.). kommt bisweilen im Rotwelsch vor. So sind seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Abkürzungen Ne und Prae für Religiösen und Prädikcmten, gewisse Arten betrügerischer Bettler, überliefert, und noch heute bedeutet in der Berliner Verbrechersprache Sonne das Zuchthaus zu Sonnenburg, Brand die Strafanstalt in Brandenburg, Plötze die in Plötzensee (vergl. dazu das neuerdings in unsrer Umgangssprache aufgekommne „Ober" statt Oberkellner). Umgekehrt findet sich schon in der ältern Gnunersprache z. B. Stande (statt: Haus¬ stande) für Hemd, Fang (statt: Windfang) für Mantel, Brand (statt: Schürn- brand) für Bier (vergl. auch Klack oder Lack für Siegellack). Auch Quetsch für Amtsdiener, Polizist ist wohl eine Kürzung von Poliquetsch, Butze sür Gans wahrscheinlich eine solche von Strohbutze oder Strohputzer. Endlich hat das Rotwelsch auch von den Buchstaben- und den Silbenumstellungen Gebrauch gemacht, wenngleich lauge nicht in dem Maße wie andre Geheim¬ sprachen, beispielsweise die sogenannte Frickhöfer Sprache, ein Krämerlatein der Hausierer in der Umgegend vou Limburg und Hndamar, die ganz vorwiegend aus solchen Silbenspielereien besteht. Unsre Gruner und Vagabunden haben sich zuweilen sogar nur mit einer Veränderung des Anfangskonsounnteu eines Wortes begnügt und dadurch (nach Art des englischen rb^minA stauF) nicht ohne Witz aus dem Kaufmann einen „Laufmann" und aus dem jüdisch-deutschen ..Gcillach," Pfarrer (eigentlich der Geschorene, der Tonsurierte, vou Aoloaen, scheren) einen „Wallach" gemacht, während umgekehrt der deutsche Schulmeister zu einem halbjüdischen .,Dul(l)meister" oder zu dem völlig jüdischen — ,.Dul(l)goi" (von eint, et!Ü arm und Api, Christ) unigewandelt ist — eine Anspielung auf die meist recht knappe Besoldung der christlichen Volksschullehrer. Inwieweit übrigens auf diesem Gebiet auch Druckfehler ihr Spiel angetrieben haben (so vielleicht bei Witze statt Hitze sür Wärme und Zopsianns statt Hopfianus, Latinisiernng des Hopfenbauers), ring hier dahingestellt bleiben. Zuweilen finden sich auch An¬ stellungen einzelner Buchstaben innerhalb eines Wortes, wie bei „Tirach" oder „Dirach" im Sinne von Weg, Landstraße, Bettelbezirk, gebildet vielleicht aus dem uns schon bekannten halb lateinischen, halb deutschen Terich, Erde, bei Manistere, Suppe aus dem italienischen minssiiA., Kains, Messer aus dem französischen Linie' (Kcmif) und dem auch schon früher erwähnten Fischneß, Weste aus dem englischen tasnicmisr (gesprochen: Feschenist). Beinahe unbekannt' scheint

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/171>, abgerufen am 13.05.2024.