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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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von Manchester bis Birmingham

Bright und der Antikornzollliga von Manchester betriebnen Freimachung von
jedem Zoll und jeder Beschränkung der Einfuhr von Lebensmitteln und Roh¬
erzeugnissen und war nur die weitere Folge der von den Männern aus
Manchester mit großem Geschick und bemerkenswerter Energie ins Werk ge¬
setzten Agitation. Die Antikornzollliga erweiterte sich zum Cobdenklub, der
mit reichen Geldmitteln und durch seine über alle Länder verbreiteten Mit¬
glieder unausgesetzt tütig war, der neuen, für England sehr einträglichen Lehre
Eingang zu verschaffen und namentlich in Deutschland und Frankreich einen
wohl vorbereiteten Boden fand. In Deutschland war in den fünfziger, den
sechziger und den siebziger Jahren die Bastiatökonomie die Seele alles theo¬
retischen und praktischen volkswirtschaftlichen Handelns, wie es besonders in den
Vereinen und in der Presse betrieben wurde. Wenn auch nicht mehr in ihrer
ursprünglichen Gestalt, war sie die Grundlage der Belehrungen, die von
Schulze-Delitzsch und seinen Anhängern an Arbeiter, Handwerker, junge Kauf¬
leute und auch an das gebildete Publikum gebracht wurde, und sie hatte in
den volkswirtschaftlichen Kongressen, den Lokalvereinen und in der durch diese
Vereine ermöglichten Verfügung über den größten Teil der Presse einen sichern
Rückhalt. Die Aufhebung der englischen Kornzölle mit den weitern Erfolgen
der Cobdenschen Richtung in England gestaltete die nationalökonomische Theorie
in vorwiegend freihändlerischen Sinne weiter fort.

England galt dem deutschen Liberalismus der dreißiger und der vierziger
Jahre überhaupt als politisches Ideal, denn es war das Land des Parla¬
mentarismus, der wohl bei den Franzosen auch eine Heimstätte gefunden hatte,
aber England blieb doch das Mekka, von wo die höhere parlamentarische
Weisheit kam, während man von den Franzosen mehr das Rezept für die
politische Agitation entlehnte. Eine Volkswirtschaftslehre, die von England
ausging, mit dem klangvollen Epitheton "frei" geziert war und schon land¬
läufig gewordnen Meinungen zu entsprechen schien, mußte so in Deutschland
begeisterte Aufnahme finden. Ende der fünfziger Jahre riß sich alles, was
Namen hatte, um Cobden und seine Lehre, die Aufnahme in den Cobdenklub
wurde als Auszeichnung angestrebt, einflußreiche Leute konnten sogar Ehren¬
mitglieder werden.

Die zahlreichen deutschen politischen Flüchtlinge aus den Jahren 1848 und
1849 saßen in England und in den Vereinigten Staaten und lobten die neue
Heimat über die Maßen, zum Teil aus Notwendigkeit, weil man sie sonst
nicht geduldet hätte, zum Teil auch aus Überzeugung, weil sie sich aus dem
politischen Elend des Deutschen Bundes in geordnete Großstaaten versetzt sahen,
deren Vorzüge sie freilich in begreiflicher Irrung nicht in der Natur des
Großstaats, sondern im Parlamentarismus und im Freihandel sehen zu müssen
glaubten. Die nordamerikanische Union hatte seit 1846 auch die Schutzzoll¬
politik aufgegeben, und die deutschen demokratischen Freiheitsschwärmer über¬
sahen dabei vollkommen, daß diese Politik nur von den Baumwollpflanzern des
Südens zugunsten des Freihandels in Schwarzen und andern Waren durch¬
gesetzt worden war. Frankreich hatte trotz Bastiat seine Schutzpolitik beibehalten,
und keine der Revolutionen hatte ungeachtet alles Freiheitslürms auch nur die


von Manchester bis Birmingham

Bright und der Antikornzollliga von Manchester betriebnen Freimachung von
jedem Zoll und jeder Beschränkung der Einfuhr von Lebensmitteln und Roh¬
erzeugnissen und war nur die weitere Folge der von den Männern aus
Manchester mit großem Geschick und bemerkenswerter Energie ins Werk ge¬
setzten Agitation. Die Antikornzollliga erweiterte sich zum Cobdenklub, der
mit reichen Geldmitteln und durch seine über alle Länder verbreiteten Mit¬
glieder unausgesetzt tütig war, der neuen, für England sehr einträglichen Lehre
Eingang zu verschaffen und namentlich in Deutschland und Frankreich einen
wohl vorbereiteten Boden fand. In Deutschland war in den fünfziger, den
sechziger und den siebziger Jahren die Bastiatökonomie die Seele alles theo¬
retischen und praktischen volkswirtschaftlichen Handelns, wie es besonders in den
Vereinen und in der Presse betrieben wurde. Wenn auch nicht mehr in ihrer
ursprünglichen Gestalt, war sie die Grundlage der Belehrungen, die von
Schulze-Delitzsch und seinen Anhängern an Arbeiter, Handwerker, junge Kauf¬
leute und auch an das gebildete Publikum gebracht wurde, und sie hatte in
den volkswirtschaftlichen Kongressen, den Lokalvereinen und in der durch diese
Vereine ermöglichten Verfügung über den größten Teil der Presse einen sichern
Rückhalt. Die Aufhebung der englischen Kornzölle mit den weitern Erfolgen
der Cobdenschen Richtung in England gestaltete die nationalökonomische Theorie
in vorwiegend freihändlerischen Sinne weiter fort.

England galt dem deutschen Liberalismus der dreißiger und der vierziger
Jahre überhaupt als politisches Ideal, denn es war das Land des Parla¬
mentarismus, der wohl bei den Franzosen auch eine Heimstätte gefunden hatte,
aber England blieb doch das Mekka, von wo die höhere parlamentarische
Weisheit kam, während man von den Franzosen mehr das Rezept für die
politische Agitation entlehnte. Eine Volkswirtschaftslehre, die von England
ausging, mit dem klangvollen Epitheton „frei" geziert war und schon land¬
läufig gewordnen Meinungen zu entsprechen schien, mußte so in Deutschland
begeisterte Aufnahme finden. Ende der fünfziger Jahre riß sich alles, was
Namen hatte, um Cobden und seine Lehre, die Aufnahme in den Cobdenklub
wurde als Auszeichnung angestrebt, einflußreiche Leute konnten sogar Ehren¬
mitglieder werden.

Die zahlreichen deutschen politischen Flüchtlinge aus den Jahren 1848 und
1849 saßen in England und in den Vereinigten Staaten und lobten die neue
Heimat über die Maßen, zum Teil aus Notwendigkeit, weil man sie sonst
nicht geduldet hätte, zum Teil auch aus Überzeugung, weil sie sich aus dem
politischen Elend des Deutschen Bundes in geordnete Großstaaten versetzt sahen,
deren Vorzüge sie freilich in begreiflicher Irrung nicht in der Natur des
Großstaats, sondern im Parlamentarismus und im Freihandel sehen zu müssen
glaubten. Die nordamerikanische Union hatte seit 1846 auch die Schutzzoll¬
politik aufgegeben, und die deutschen demokratischen Freiheitsschwärmer über¬
sahen dabei vollkommen, daß diese Politik nur von den Baumwollpflanzern des
Südens zugunsten des Freihandels in Schwarzen und andern Waren durch¬
gesetzt worden war. Frankreich hatte trotz Bastiat seine Schutzpolitik beibehalten,
und keine der Revolutionen hatte ungeachtet alles Freiheitslürms auch nur die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/190>, abgerufen am 28.05.2024.