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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Gräfin Susanna

Uhr in der Halle, deren Ticktack allein die tiefe Stille des Hauses unterbrach, zeigte
erst ein Viertel nach vier Uhr.

Er trat auf die Terrasse hinaus und atmete in vollen Zügen die köstliche,
balsamische Morgenluft ein, dann trat er einen ziellosen Morgenbummel an.

In großen Perlen glitzerte der Tau auf den Wiesen, wo die Schafe schon
eifrig am Frühstücken waren; wie Ruhme glänzte er in den scharlachroten Kelchen
des Modus und wie Topase in denen der zierlichen Butterblümchen, während er
die Wege, die noch im Schatten lagen, wie mit Rauhfrost bedeckte. Noch waren
die Schatten lang und die Sonnenstrahlen beinahe wagerecht. Die Sonne schien
sanft, wie durch einen Schleier, und vergoldete alles, was sie berührte: die glatten
Blätter und die rauhe Rinde der Bäume und die Spitzen der Grashalme. Ein
dichterer Schleier, ein gleichsam mit Perlen und Silber durchwobner Flor dämpfte
das leuchtende Blau der See und verwischte die scharfen Umrisse der Klippen.
Am Horizont ruhte eine graue Wolke über dem Wasserspiegel, ein langer, weicher
Wolkenstreif, weich wie grauer Sammet -- er war grau, ganz grau, aber er
schillerte doch in allen Farben des Regenbogens.

Es war ein unaussprechlich schöner, ruhiger Morgen; aber trotz all der Ruhe
und all dem Frieden, die über ihm lagen, war er voll Bewegung und Leben.
Dohlen kreisten in der Höhe und krächzten im Predigtton unsichtbar über fernen
Feldern schwebenden Saatkrähen heuchlerische Ermahnungen zu; Kiebitze kamen aus
dem Gesträuch hervor, unter dem sie ihre Eier verborgen hielten, und flatterten
schwerfällig ins Freie. Zahllose Sperlinge unterhielten sich lärmend und aufgeregt;
Amseln wiederholten wieder und wieder ihr melodisches Liebeswerben, das sie seit
Erschaffung der Welt vernehmen lassen, und dessen noch nie ein Mensch überdrüssig
geworden ist; Finken aller Arten zwitscherten lustig und froh. In den Wipfeln
der Bäume ließen die Drosseln ihr begeistertes Lied ertönen, das weiter unten die
Meisen nachzusingen versuchten. Dazwischen hinein ließ sich in gemessenen Pausen
ans der Entfernung auch der Ruf des Kuckucks vernehmen. Mit düstrer Ent¬
schlossenheit lagen die Bienen ihrer Arbeit ob und summten vor sich hin: Muß
sein -- traurig, daß es sein muß -- muß sein -- traurig, daß es sein muß,
woraus zu ersehen ist, daß -- vom Standpunkt einer Biene aus -- sogar die
schöne Aufgabe, von Blume zu Blume zu fliegen und Honig zu sammeln, kein
dauerndes Interesse zu erwecken vermag, sondern einer Willensanstrengung bedarf;
dagegen genießt der Schmetterling, von jeder leuchtenden Blüte angelockt, unbe¬
kümmert um das, was kommen soll, die Freuden des Augenblicks in vollen Zügen.
Ringsum war alles von geschäftigem Leben erfüllt, aber trotzdem lag über diesen
frühen Morgenstunden, in denen der Mensch, der Friedensstörer, noch der Ruhe
pflegt, ein unsagbar süßer Friede. Und dazu diese köstliche, reine, prickelnde Luft,
die in alle Poren zu dringen und Gefühl und Einbildungskraft zu beleben schien:
es war herrlich!

Ziellos schlenderte Anthony dahin auf den rötlich beschatteten Pfaden, unter
den breitästigen Eichen und den tiefhängenden Ulmen, über den sonnenbeschienenen,
saftiggrünen Rasen und genoß, gleich dem Schmetterling, unbekümmert in vollen
Zügen den Augenblick und all das Schöne, was ihm auf seinem Weg entgegen¬
trat. Alles Traurige und Trübe, all die Alltäglichkeiten des Lebens waren ver¬
gessen, und es war ihm zumute, als hätte er im Hause des Lebens eine neue
Zimmertür entdeckt, hinter der neue, verheißungsvolle Abenteuer seiner harrten.
Fröhlich seinen Stock schwingend schlenderte er aufs Geratewohl weiter, bis . . . ja,
bis er plötzlich etwas sah, was ihn und für einen Augenblick auch das Herz in
ihm zum Stillstehn brachte: etwas, woran er mehr oder weniger die ganze Zeit
gedacht hatte, ohne sich darüber klar zu werden.

Eben hatte er einen kleinen Hügel erstiegen und schaute vor sich hinunter,
da sah er unter einem in voller Blüte stehenden Weißdorn -- Signora Torrebianca,
so wahr ich lebe! sagte er heftig atmend zu sich.


Gräfin Susanna

Uhr in der Halle, deren Ticktack allein die tiefe Stille des Hauses unterbrach, zeigte
erst ein Viertel nach vier Uhr.

Er trat auf die Terrasse hinaus und atmete in vollen Zügen die köstliche,
balsamische Morgenluft ein, dann trat er einen ziellosen Morgenbummel an.

In großen Perlen glitzerte der Tau auf den Wiesen, wo die Schafe schon
eifrig am Frühstücken waren; wie Ruhme glänzte er in den scharlachroten Kelchen
des Modus und wie Topase in denen der zierlichen Butterblümchen, während er
die Wege, die noch im Schatten lagen, wie mit Rauhfrost bedeckte. Noch waren
die Schatten lang und die Sonnenstrahlen beinahe wagerecht. Die Sonne schien
sanft, wie durch einen Schleier, und vergoldete alles, was sie berührte: die glatten
Blätter und die rauhe Rinde der Bäume und die Spitzen der Grashalme. Ein
dichterer Schleier, ein gleichsam mit Perlen und Silber durchwobner Flor dämpfte
das leuchtende Blau der See und verwischte die scharfen Umrisse der Klippen.
Am Horizont ruhte eine graue Wolke über dem Wasserspiegel, ein langer, weicher
Wolkenstreif, weich wie grauer Sammet — er war grau, ganz grau, aber er
schillerte doch in allen Farben des Regenbogens.

Es war ein unaussprechlich schöner, ruhiger Morgen; aber trotz all der Ruhe
und all dem Frieden, die über ihm lagen, war er voll Bewegung und Leben.
Dohlen kreisten in der Höhe und krächzten im Predigtton unsichtbar über fernen
Feldern schwebenden Saatkrähen heuchlerische Ermahnungen zu; Kiebitze kamen aus
dem Gesträuch hervor, unter dem sie ihre Eier verborgen hielten, und flatterten
schwerfällig ins Freie. Zahllose Sperlinge unterhielten sich lärmend und aufgeregt;
Amseln wiederholten wieder und wieder ihr melodisches Liebeswerben, das sie seit
Erschaffung der Welt vernehmen lassen, und dessen noch nie ein Mensch überdrüssig
geworden ist; Finken aller Arten zwitscherten lustig und froh. In den Wipfeln
der Bäume ließen die Drosseln ihr begeistertes Lied ertönen, das weiter unten die
Meisen nachzusingen versuchten. Dazwischen hinein ließ sich in gemessenen Pausen
ans der Entfernung auch der Ruf des Kuckucks vernehmen. Mit düstrer Ent¬
schlossenheit lagen die Bienen ihrer Arbeit ob und summten vor sich hin: Muß
sein — traurig, daß es sein muß — muß sein — traurig, daß es sein muß,
woraus zu ersehen ist, daß — vom Standpunkt einer Biene aus — sogar die
schöne Aufgabe, von Blume zu Blume zu fliegen und Honig zu sammeln, kein
dauerndes Interesse zu erwecken vermag, sondern einer Willensanstrengung bedarf;
dagegen genießt der Schmetterling, von jeder leuchtenden Blüte angelockt, unbe¬
kümmert um das, was kommen soll, die Freuden des Augenblicks in vollen Zügen.
Ringsum war alles von geschäftigem Leben erfüllt, aber trotzdem lag über diesen
frühen Morgenstunden, in denen der Mensch, der Friedensstörer, noch der Ruhe
pflegt, ein unsagbar süßer Friede. Und dazu diese köstliche, reine, prickelnde Luft,
die in alle Poren zu dringen und Gefühl und Einbildungskraft zu beleben schien:
es war herrlich!

Ziellos schlenderte Anthony dahin auf den rötlich beschatteten Pfaden, unter
den breitästigen Eichen und den tiefhängenden Ulmen, über den sonnenbeschienenen,
saftiggrünen Rasen und genoß, gleich dem Schmetterling, unbekümmert in vollen
Zügen den Augenblick und all das Schöne, was ihm auf seinem Weg entgegen¬
trat. Alles Traurige und Trübe, all die Alltäglichkeiten des Lebens waren ver¬
gessen, und es war ihm zumute, als hätte er im Hause des Lebens eine neue
Zimmertür entdeckt, hinter der neue, verheißungsvolle Abenteuer seiner harrten.
Fröhlich seinen Stock schwingend schlenderte er aufs Geratewohl weiter, bis . . . ja,
bis er plötzlich etwas sah, was ihn und für einen Augenblick auch das Herz in
ihm zum Stillstehn brachte: etwas, woran er mehr oder weniger die ganze Zeit
gedacht hatte, ohne sich darüber klar zu werden.

Eben hatte er einen kleinen Hügel erstiegen und schaute vor sich hinunter,
da sah er unter einem in voller Blüte stehenden Weißdorn — Signora Torrebianca,
so wahr ich lebe! sagte er heftig atmend zu sich.


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[0423] Gräfin Susanna Uhr in der Halle, deren Ticktack allein die tiefe Stille des Hauses unterbrach, zeigte erst ein Viertel nach vier Uhr. Er trat auf die Terrasse hinaus und atmete in vollen Zügen die köstliche, balsamische Morgenluft ein, dann trat er einen ziellosen Morgenbummel an. In großen Perlen glitzerte der Tau auf den Wiesen, wo die Schafe schon eifrig am Frühstücken waren; wie Ruhme glänzte er in den scharlachroten Kelchen des Modus und wie Topase in denen der zierlichen Butterblümchen, während er die Wege, die noch im Schatten lagen, wie mit Rauhfrost bedeckte. Noch waren die Schatten lang und die Sonnenstrahlen beinahe wagerecht. Die Sonne schien sanft, wie durch einen Schleier, und vergoldete alles, was sie berührte: die glatten Blätter und die rauhe Rinde der Bäume und die Spitzen der Grashalme. Ein dichterer Schleier, ein gleichsam mit Perlen und Silber durchwobner Flor dämpfte das leuchtende Blau der See und verwischte die scharfen Umrisse der Klippen. Am Horizont ruhte eine graue Wolke über dem Wasserspiegel, ein langer, weicher Wolkenstreif, weich wie grauer Sammet — er war grau, ganz grau, aber er schillerte doch in allen Farben des Regenbogens. Es war ein unaussprechlich schöner, ruhiger Morgen; aber trotz all der Ruhe und all dem Frieden, die über ihm lagen, war er voll Bewegung und Leben. Dohlen kreisten in der Höhe und krächzten im Predigtton unsichtbar über fernen Feldern schwebenden Saatkrähen heuchlerische Ermahnungen zu; Kiebitze kamen aus dem Gesträuch hervor, unter dem sie ihre Eier verborgen hielten, und flatterten schwerfällig ins Freie. Zahllose Sperlinge unterhielten sich lärmend und aufgeregt; Amseln wiederholten wieder und wieder ihr melodisches Liebeswerben, das sie seit Erschaffung der Welt vernehmen lassen, und dessen noch nie ein Mensch überdrüssig geworden ist; Finken aller Arten zwitscherten lustig und froh. In den Wipfeln der Bäume ließen die Drosseln ihr begeistertes Lied ertönen, das weiter unten die Meisen nachzusingen versuchten. Dazwischen hinein ließ sich in gemessenen Pausen ans der Entfernung auch der Ruf des Kuckucks vernehmen. Mit düstrer Ent¬ schlossenheit lagen die Bienen ihrer Arbeit ob und summten vor sich hin: Muß sein — traurig, daß es sein muß — muß sein — traurig, daß es sein muß, woraus zu ersehen ist, daß — vom Standpunkt einer Biene aus — sogar die schöne Aufgabe, von Blume zu Blume zu fliegen und Honig zu sammeln, kein dauerndes Interesse zu erwecken vermag, sondern einer Willensanstrengung bedarf; dagegen genießt der Schmetterling, von jeder leuchtenden Blüte angelockt, unbe¬ kümmert um das, was kommen soll, die Freuden des Augenblicks in vollen Zügen. Ringsum war alles von geschäftigem Leben erfüllt, aber trotzdem lag über diesen frühen Morgenstunden, in denen der Mensch, der Friedensstörer, noch der Ruhe pflegt, ein unsagbar süßer Friede. Und dazu diese köstliche, reine, prickelnde Luft, die in alle Poren zu dringen und Gefühl und Einbildungskraft zu beleben schien: es war herrlich! Ziellos schlenderte Anthony dahin auf den rötlich beschatteten Pfaden, unter den breitästigen Eichen und den tiefhängenden Ulmen, über den sonnenbeschienenen, saftiggrünen Rasen und genoß, gleich dem Schmetterling, unbekümmert in vollen Zügen den Augenblick und all das Schöne, was ihm auf seinem Weg entgegen¬ trat. Alles Traurige und Trübe, all die Alltäglichkeiten des Lebens waren ver¬ gessen, und es war ihm zumute, als hätte er im Hause des Lebens eine neue Zimmertür entdeckt, hinter der neue, verheißungsvolle Abenteuer seiner harrten. Fröhlich seinen Stock schwingend schlenderte er aufs Geratewohl weiter, bis . . . ja, bis er plötzlich etwas sah, was ihn und für einen Augenblick auch das Herz in ihm zum Stillstehn brachte: etwas, woran er mehr oder weniger die ganze Zeit gedacht hatte, ohne sich darüber klar zu werden. Eben hatte er einen kleinen Hügel erstiegen und schaute vor sich hinunter, da sah er unter einem in voller Blüte stehenden Weißdorn — Signora Torrebianca, so wahr ich lebe! sagte er heftig atmend zu sich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/423>, abgerufen am 13.05.2024.