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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Luthers Lehre in spöttischem Klageton gedruckt, auf die Melodie "Ich stund an
einem Morgen/' Immerhin war die Fähigkeit, charakteristische Typen zu bilden,
mit der zunehmenden Mannigfaltigkeit der Tonarten- und Nhythmenbehandlung
gewachsen.

Noch mehr als die lyrische Dichtung sah sich die erzählende, bei der der
musikalische Drang mit dem sinkenden Mittelalter schwächer wurde, auf die Be¬
nutzung andrer Melodien angewiesen, soweit sie überhaupt noch gesungen werden
wollte. Das historische Lied des hohen Mittelalters hatte allerdings noch
genug lyrischen Saft in sich, um auch eigne Melodien zu treiben. Zweier schönen
Beispiele dafür, wenigstens näherer Beziehungen zu ihnen, kann sich das alte
Leipzig rühmen.

1065 hatte nicht weit westlich von Leipzig, in einem Holze bei Scheiplitz
an der Saale, der Salier Ludwig von Schönburg deu sächsischen Pfalzgrafen
Friedrich zur Weißenburg mit dem Sauspieß getötet, unversehens, wie die Mönchs¬
chroniken berichten, während es das Volkslied anders sang: Friedrichs Gemahlin
Adelheid habe ihren Mann an ihren Buhlen Ludwig verraten, und die Sage
ging, Ludwig habe Adelheid bald darauf geheiratet. Brotuffs 1557 in Leipzig
erschienene Merseburger Chronik erzählt dazu: "Von dieser Historie singet man
noch heute im Ampte Freiburg und an anderen enden des orth ein öffentlich
lieb, im Ton der xroxorrion I'rixlö, mit einem Suspirio anzufahen, das Lied
von der Frauen zur Weißenburg." Melodie und erste Strophe heißen:



Schon zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts muß das Lied von einer
Leipziger Winkeldruckerei etwa als fliegendes Blatt zum Weitervertrieb für
Bänkelsänger gedruckt worden sein: der Holzschnitt, den ein Leipziger Tann¬
häuserdruck von 1520 am Kopfe trägt, zeigt zwei Reiter vor einem Schlosse
ankommend, wo sie eine Frau empfängt, eine Situation, die auf das Tann¬
häuserlied ebensowenig paßt wie auf irgend ein andres bekanntes Lied außer
auf das von der Frau von Weißenburg, wo sie am Anfang und am Ende
eine bedeutende Rolle spielt: nur für dieses Lied kann der Holzschnitt herge¬
stellt sein.

Das zweite Beispiel für ein spütmittelalterliches halb historisches, halb
sagenmäßiges thüringisches Lied, das wie die Frau von Weißenburg die Wander¬
schaft durch ganz Deutschland von Leipzig aus angetreten haben könnte -- hier¬
her stammt der älteste von ihm nachgewiesene datierte Druck --, ist nun eben
das Tannhäuserlied, dessen "großes christlich-katholisches Motiv" nach Jahr¬
hunderten wieder ein Sohn Leipzigs mit neuer Musik gesättigt zu einem Welt¬
lauf aussenden sollte. Von der alten vierzeiligen Tannhäusermelodie sind nur
die ersten drei Zeilen sicher überliefert:


Grenzboten III 1904 61

Luthers Lehre in spöttischem Klageton gedruckt, auf die Melodie „Ich stund an
einem Morgen/' Immerhin war die Fähigkeit, charakteristische Typen zu bilden,
mit der zunehmenden Mannigfaltigkeit der Tonarten- und Nhythmenbehandlung
gewachsen.

Noch mehr als die lyrische Dichtung sah sich die erzählende, bei der der
musikalische Drang mit dem sinkenden Mittelalter schwächer wurde, auf die Be¬
nutzung andrer Melodien angewiesen, soweit sie überhaupt noch gesungen werden
wollte. Das historische Lied des hohen Mittelalters hatte allerdings noch
genug lyrischen Saft in sich, um auch eigne Melodien zu treiben. Zweier schönen
Beispiele dafür, wenigstens näherer Beziehungen zu ihnen, kann sich das alte
Leipzig rühmen.

1065 hatte nicht weit westlich von Leipzig, in einem Holze bei Scheiplitz
an der Saale, der Salier Ludwig von Schönburg deu sächsischen Pfalzgrafen
Friedrich zur Weißenburg mit dem Sauspieß getötet, unversehens, wie die Mönchs¬
chroniken berichten, während es das Volkslied anders sang: Friedrichs Gemahlin
Adelheid habe ihren Mann an ihren Buhlen Ludwig verraten, und die Sage
ging, Ludwig habe Adelheid bald darauf geheiratet. Brotuffs 1557 in Leipzig
erschienene Merseburger Chronik erzählt dazu: „Von dieser Historie singet man
noch heute im Ampte Freiburg und an anderen enden des orth ein öffentlich
lieb, im Ton der xroxorrion I'rixlö, mit einem Suspirio anzufahen, das Lied
von der Frauen zur Weißenburg." Melodie und erste Strophe heißen:



Schon zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts muß das Lied von einer
Leipziger Winkeldruckerei etwa als fliegendes Blatt zum Weitervertrieb für
Bänkelsänger gedruckt worden sein: der Holzschnitt, den ein Leipziger Tann¬
häuserdruck von 1520 am Kopfe trägt, zeigt zwei Reiter vor einem Schlosse
ankommend, wo sie eine Frau empfängt, eine Situation, die auf das Tann¬
häuserlied ebensowenig paßt wie auf irgend ein andres bekanntes Lied außer
auf das von der Frau von Weißenburg, wo sie am Anfang und am Ende
eine bedeutende Rolle spielt: nur für dieses Lied kann der Holzschnitt herge¬
stellt sein.

Das zweite Beispiel für ein spütmittelalterliches halb historisches, halb
sagenmäßiges thüringisches Lied, das wie die Frau von Weißenburg die Wander¬
schaft durch ganz Deutschland von Leipzig aus angetreten haben könnte — hier¬
her stammt der älteste von ihm nachgewiesene datierte Druck —, ist nun eben
das Tannhäuserlied, dessen „großes christlich-katholisches Motiv" nach Jahr¬
hunderten wieder ein Sohn Leipzigs mit neuer Musik gesättigt zu einem Welt¬
lauf aussenden sollte. Von der alten vierzeiligen Tannhäusermelodie sind nur
die ersten drei Zeilen sicher überliefert:


Grenzboten III 1904 61
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[0467] Luthers Lehre in spöttischem Klageton gedruckt, auf die Melodie „Ich stund an einem Morgen/' Immerhin war die Fähigkeit, charakteristische Typen zu bilden, mit der zunehmenden Mannigfaltigkeit der Tonarten- und Nhythmenbehandlung gewachsen. Noch mehr als die lyrische Dichtung sah sich die erzählende, bei der der musikalische Drang mit dem sinkenden Mittelalter schwächer wurde, auf die Be¬ nutzung andrer Melodien angewiesen, soweit sie überhaupt noch gesungen werden wollte. Das historische Lied des hohen Mittelalters hatte allerdings noch genug lyrischen Saft in sich, um auch eigne Melodien zu treiben. Zweier schönen Beispiele dafür, wenigstens näherer Beziehungen zu ihnen, kann sich das alte Leipzig rühmen. 1065 hatte nicht weit westlich von Leipzig, in einem Holze bei Scheiplitz an der Saale, der Salier Ludwig von Schönburg deu sächsischen Pfalzgrafen Friedrich zur Weißenburg mit dem Sauspieß getötet, unversehens, wie die Mönchs¬ chroniken berichten, während es das Volkslied anders sang: Friedrichs Gemahlin Adelheid habe ihren Mann an ihren Buhlen Ludwig verraten, und die Sage ging, Ludwig habe Adelheid bald darauf geheiratet. Brotuffs 1557 in Leipzig erschienene Merseburger Chronik erzählt dazu: „Von dieser Historie singet man noch heute im Ampte Freiburg und an anderen enden des orth ein öffentlich lieb, im Ton der xroxorrion I'rixlö, mit einem Suspirio anzufahen, das Lied von der Frauen zur Weißenburg." Melodie und erste Strophe heißen: [Abbildung] Schon zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts muß das Lied von einer Leipziger Winkeldruckerei etwa als fliegendes Blatt zum Weitervertrieb für Bänkelsänger gedruckt worden sein: der Holzschnitt, den ein Leipziger Tann¬ häuserdruck von 1520 am Kopfe trägt, zeigt zwei Reiter vor einem Schlosse ankommend, wo sie eine Frau empfängt, eine Situation, die auf das Tann¬ häuserlied ebensowenig paßt wie auf irgend ein andres bekanntes Lied außer auf das von der Frau von Weißenburg, wo sie am Anfang und am Ende eine bedeutende Rolle spielt: nur für dieses Lied kann der Holzschnitt herge¬ stellt sein. Das zweite Beispiel für ein spütmittelalterliches halb historisches, halb sagenmäßiges thüringisches Lied, das wie die Frau von Weißenburg die Wander¬ schaft durch ganz Deutschland von Leipzig aus angetreten haben könnte — hier¬ her stammt der älteste von ihm nachgewiesene datierte Druck —, ist nun eben das Tannhäuserlied, dessen „großes christlich-katholisches Motiv" nach Jahr¬ hunderten wieder ein Sohn Leipzigs mit neuer Musik gesättigt zu einem Welt¬ lauf aussenden sollte. Von der alten vierzeiligen Tannhäusermelodie sind nur die ersten drei Zeilen sicher überliefert: Grenzboten III 1904 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/467>, abgerufen am 16.06.2024.