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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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weltliche Musik im alten Leipzig

Der Meistergesang hat vor seiner oberdeutschen Glanzzeit eine erste Blüte
in den mitteldeutschen Städten von Mainz und Köln bis Prag erlebt, und hier
dauerte er in bescheidnen Verhältnissen auch weiter: um 1530 wurde er z. B.
noch in Koburg, Magdeburg, Dresden geübt, und Zwickau war nach wie vor
eine Hauptpflegstütte des ostmitteldeutschen Meistergesangs. Aus Leipzig fehlen
Zeugnisse meistersingerischer Übungen und Wettgesänge; nur wenige erhaltene
Drucke lassen darauf schließen, daß dieser Ruhmestitel des spütmittelalterlichen
Bürgertums Leipzig doch auch streift. 1518 z. B. wurde ein Meisterlied "Von
dem hungerigen in der Not Im starken Poppen thon," d. h. in der Weise,
die der starke Voppe, ein Mainzer Meistersinger vor zweihundert Jahren, er¬
funden hatte, in Leipzig gedruckt, 1555 bei Georg Hantzsch ein moralisch-didak¬
tisches "Wider das groß Fluchen und Gottslestern. In des Benzenauers thon
zu singen." Beide also auch nach fremder Melodie, von denen die zweite eine
Landsknechtsweise war. Die musikalische Seite ist jedenfalls wie überhaupt so
auch in Leipzig an der Bildung der Meistersinger die schwächste gewesen und hat
sich in den längst gebahnten Liedgeleisen bewegt.

Was über die Kreise dieser zünftisch geschloßnen bürgerlichen Singer von
ihren Sachen ins Publikum drang, wurde dort wohl fast nur noch gelesen, wie
schon 1465 Michael Beyaim über sein Buch von den Wienern, eine Art un¬
endlichen historischen Meistersingerliedes, schrieb: "und steht, daß man es lesen
mag als einen Spruch oder singen als ein Lied." Im wesentlichen wohl nur
Bänkelsänger haben Meisterlieder außerhalb der Singschulen dem Publikum in
Wirtshäusern und an Straßenecken vorgesungen, Lahme und Blinde, alte Männer
oder auch alte Weiber: Herzog Georg schrieb 1519 aus Leipzig an den Merse-
burger Bischof, er und seine Kapitelherren sollten ihre Ämter ordentlich ver¬
walten, sonst wolle er lieber Waisenkinder und alte Frauenzimmer unterhalten
als Domkapitel, die alten Weiber verstünden doch zu spinnen, und wenn sie
nichts andres leisten könnten, "streichelten sie wenigstens durch lieblichen Gesang
die Ohren der Zuhörer" -- eine gar nicht so befremdliche Äußerung für eine
Zeit, wo man den Hahn noch singen hörte.




Die oben mitgeteilte Melodie zu dem Abschiedsliede "Ich stund an einem
Morgen" könnte man sich recht wohl auch in der rhythmisch einfachern Form
des Tannhäuserliedes vorstellen; sie würde dann heißen:



Neben dem ehemaligen Kloster der Paulinermönche.
weltliche Musik im alten Leipzig

Der Meistergesang hat vor seiner oberdeutschen Glanzzeit eine erste Blüte
in den mitteldeutschen Städten von Mainz und Köln bis Prag erlebt, und hier
dauerte er in bescheidnen Verhältnissen auch weiter: um 1530 wurde er z. B.
noch in Koburg, Magdeburg, Dresden geübt, und Zwickau war nach wie vor
eine Hauptpflegstütte des ostmitteldeutschen Meistergesangs. Aus Leipzig fehlen
Zeugnisse meistersingerischer Übungen und Wettgesänge; nur wenige erhaltene
Drucke lassen darauf schließen, daß dieser Ruhmestitel des spütmittelalterlichen
Bürgertums Leipzig doch auch streift. 1518 z. B. wurde ein Meisterlied „Von
dem hungerigen in der Not Im starken Poppen thon," d. h. in der Weise,
die der starke Voppe, ein Mainzer Meistersinger vor zweihundert Jahren, er¬
funden hatte, in Leipzig gedruckt, 1555 bei Georg Hantzsch ein moralisch-didak¬
tisches „Wider das groß Fluchen und Gottslestern. In des Benzenauers thon
zu singen." Beide also auch nach fremder Melodie, von denen die zweite eine
Landsknechtsweise war. Die musikalische Seite ist jedenfalls wie überhaupt so
auch in Leipzig an der Bildung der Meistersinger die schwächste gewesen und hat
sich in den längst gebahnten Liedgeleisen bewegt.

Was über die Kreise dieser zünftisch geschloßnen bürgerlichen Singer von
ihren Sachen ins Publikum drang, wurde dort wohl fast nur noch gelesen, wie
schon 1465 Michael Beyaim über sein Buch von den Wienern, eine Art un¬
endlichen historischen Meistersingerliedes, schrieb: „und steht, daß man es lesen
mag als einen Spruch oder singen als ein Lied." Im wesentlichen wohl nur
Bänkelsänger haben Meisterlieder außerhalb der Singschulen dem Publikum in
Wirtshäusern und an Straßenecken vorgesungen, Lahme und Blinde, alte Männer
oder auch alte Weiber: Herzog Georg schrieb 1519 aus Leipzig an den Merse-
burger Bischof, er und seine Kapitelherren sollten ihre Ämter ordentlich ver¬
walten, sonst wolle er lieber Waisenkinder und alte Frauenzimmer unterhalten
als Domkapitel, die alten Weiber verstünden doch zu spinnen, und wenn sie
nichts andres leisten könnten, „streichelten sie wenigstens durch lieblichen Gesang
die Ohren der Zuhörer" — eine gar nicht so befremdliche Äußerung für eine
Zeit, wo man den Hahn noch singen hörte.




Die oben mitgeteilte Melodie zu dem Abschiedsliede „Ich stund an einem
Morgen" könnte man sich recht wohl auch in der rhythmisch einfachern Form
des Tannhäuserliedes vorstellen; sie würde dann heißen:



Neben dem ehemaligen Kloster der Paulinermönche.
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[0469] weltliche Musik im alten Leipzig Der Meistergesang hat vor seiner oberdeutschen Glanzzeit eine erste Blüte in den mitteldeutschen Städten von Mainz und Köln bis Prag erlebt, und hier dauerte er in bescheidnen Verhältnissen auch weiter: um 1530 wurde er z. B. noch in Koburg, Magdeburg, Dresden geübt, und Zwickau war nach wie vor eine Hauptpflegstütte des ostmitteldeutschen Meistergesangs. Aus Leipzig fehlen Zeugnisse meistersingerischer Übungen und Wettgesänge; nur wenige erhaltene Drucke lassen darauf schließen, daß dieser Ruhmestitel des spütmittelalterlichen Bürgertums Leipzig doch auch streift. 1518 z. B. wurde ein Meisterlied „Von dem hungerigen in der Not Im starken Poppen thon," d. h. in der Weise, die der starke Voppe, ein Mainzer Meistersinger vor zweihundert Jahren, er¬ funden hatte, in Leipzig gedruckt, 1555 bei Georg Hantzsch ein moralisch-didak¬ tisches „Wider das groß Fluchen und Gottslestern. In des Benzenauers thon zu singen." Beide also auch nach fremder Melodie, von denen die zweite eine Landsknechtsweise war. Die musikalische Seite ist jedenfalls wie überhaupt so auch in Leipzig an der Bildung der Meistersinger die schwächste gewesen und hat sich in den längst gebahnten Liedgeleisen bewegt. Was über die Kreise dieser zünftisch geschloßnen bürgerlichen Singer von ihren Sachen ins Publikum drang, wurde dort wohl fast nur noch gelesen, wie schon 1465 Michael Beyaim über sein Buch von den Wienern, eine Art un¬ endlichen historischen Meistersingerliedes, schrieb: „und steht, daß man es lesen mag als einen Spruch oder singen als ein Lied." Im wesentlichen wohl nur Bänkelsänger haben Meisterlieder außerhalb der Singschulen dem Publikum in Wirtshäusern und an Straßenecken vorgesungen, Lahme und Blinde, alte Männer oder auch alte Weiber: Herzog Georg schrieb 1519 aus Leipzig an den Merse- burger Bischof, er und seine Kapitelherren sollten ihre Ämter ordentlich ver¬ walten, sonst wolle er lieber Waisenkinder und alte Frauenzimmer unterhalten als Domkapitel, die alten Weiber verstünden doch zu spinnen, und wenn sie nichts andres leisten könnten, „streichelten sie wenigstens durch lieblichen Gesang die Ohren der Zuhörer" — eine gar nicht so befremdliche Äußerung für eine Zeit, wo man den Hahn noch singen hörte. Die oben mitgeteilte Melodie zu dem Abschiedsliede „Ich stund an einem Morgen" könnte man sich recht wohl auch in der rhythmisch einfachern Form des Tannhäuserliedes vorstellen; sie würde dann heißen: Neben dem ehemaligen Kloster der Paulinermönche.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/469>, abgerufen am 13.05.2024.