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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Zur Geschichte der deutschen Nationalhymnen

zu zerbrechen, warum das nicht geschehen ist. Andre Zeiten, andre Bedürfnisse,
andre Moden. Man hatte damals offenbar noch kein Bedürfnis, die nationale
Empfindung in der Form eines offiziellen, allgemein giltigen poetischen Be¬
kenntnisses zusammenzufassen. Dieses Bedürfnis scheint erst entstanden zu sein,
als sich in neuerer Zeit eine wichtige politische Umwandlung im nationalen
Leben vollzogen hatte: erst seitdem aus dein Staatsoberhaupt ein Landesvater
und aus den Bürgern des Staats getreue Untertanen geworden waren, erst
seitdem der Patriotismus die Form der Loyalität angenommen hatte, erst da
waren die Bedingungen für die Entstehung der modernen Nationalhymne ge¬
geben, die der poetische Ausdruck nationaler Zufriedenheit und Ergebenheit ist.

Es ist darum kein Zufall, daß die älteste Nationalhymne der Welt im
loyalen und monarchischen England entstanden ist. Die berühmte englische
Volkshymne 6vel sg-of elf XinZ wurde zum erstenmal öffentlich zu London im
Jahre 1745 zum Geburtstage des Königs Georgs des Zweiten gesungen. Diese
Hymne ist das Vor- und Urbild aller andern Nationalhymnen geworden. In
England hat also die Nationalhymne das Gepräge erhalten, das ihre Eigen¬
tümlichkeit bezeichnet: sie ist eine Königshymne, ein nationaler Festgesang, der
zunächst für den Geburtstag des Landesvaters bestimmt war. Die englische
Nationalhymne kam "ans Flügeln des Gesanges" schon im achtzehnten Jahr¬
hundert, wie nachgewiesen ist, nach Deutschland und wurde hier in kurzer Zeit
bekannt und vielfach nachgeahmt. Ihr berühmtester Ableger ist die preußische
Volkshymne "Heil dir im Siegerkranz." Hier hilft nun alles Leugnen und
Sträuben nichts: die preußische Hymne ist ein doppeltes Plagiat. Die Melodie
stammt aus England, der Text ist mit unwesentlichen Änderungen einer in
Schleswig entstandnen Hymne auf den dünischen König Christian den Siebenten
entlehnt, als deren Verfasser sich der Flensburger Pastor Heinrich Harnes
(1762 bis 1802) erwiesen hat. Harries hatte nämlich 1790 im Flensburger
Wochenblatt ein Gedicht mit folgendem Titel veröffentlicht: "Lied für den
dünischen Untertan, an seines Königs Geburtstag zu singen in der Melodie
des englischen Volksliedes 6va save Zreat (Zsorgs etre- Log." Der Text
lautet nach der von Professor Dr. O. Bochen in Wismar neu veröffentlichten
Lesart folgendermaßen:

[Beginn Spaltensatz] 1. Heil dir, dem liebenden
Herrscher des Vaterlands!
Heil, Christian, dir!
Fühl in des Thrones Glanz
Die hohe Wonne ganz,
Vater des Volks zu sein!
Heil, Christian, dir! 2. Nicht Ross' und Reisige
Sichern die steile Höh,
Wo Fürsten stehn.
Liebe des Unterlans,
Liebe des freien Manns
Gründen den Herrscherthron
Wie Fels im Meer. [Spaltenumbruch] 3. Heilige Flamme, glüh,
Glüh und erlösche nie
Fürs Vaterland!
Wir alle stehen dann
Mutig für einen Mann,
Kämpfen und bluten gern
Für Thron und Land! 4. Sei noch, o Christian, hier
Lange des Thrones Zier,
Des Landes Stolz!
Eifer und Männertat
Finde sein Lorbeerblatt
Treu aufgehoben dort
An deinem Thron! [Ende Spaltensatz]

Zur Geschichte der deutschen Nationalhymnen

zu zerbrechen, warum das nicht geschehen ist. Andre Zeiten, andre Bedürfnisse,
andre Moden. Man hatte damals offenbar noch kein Bedürfnis, die nationale
Empfindung in der Form eines offiziellen, allgemein giltigen poetischen Be¬
kenntnisses zusammenzufassen. Dieses Bedürfnis scheint erst entstanden zu sein,
als sich in neuerer Zeit eine wichtige politische Umwandlung im nationalen
Leben vollzogen hatte: erst seitdem aus dein Staatsoberhaupt ein Landesvater
und aus den Bürgern des Staats getreue Untertanen geworden waren, erst
seitdem der Patriotismus die Form der Loyalität angenommen hatte, erst da
waren die Bedingungen für die Entstehung der modernen Nationalhymne ge¬
geben, die der poetische Ausdruck nationaler Zufriedenheit und Ergebenheit ist.

Es ist darum kein Zufall, daß die älteste Nationalhymne der Welt im
loyalen und monarchischen England entstanden ist. Die berühmte englische
Volkshymne 6vel sg-of elf XinZ wurde zum erstenmal öffentlich zu London im
Jahre 1745 zum Geburtstage des Königs Georgs des Zweiten gesungen. Diese
Hymne ist das Vor- und Urbild aller andern Nationalhymnen geworden. In
England hat also die Nationalhymne das Gepräge erhalten, das ihre Eigen¬
tümlichkeit bezeichnet: sie ist eine Königshymne, ein nationaler Festgesang, der
zunächst für den Geburtstag des Landesvaters bestimmt war. Die englische
Nationalhymne kam „ans Flügeln des Gesanges" schon im achtzehnten Jahr¬
hundert, wie nachgewiesen ist, nach Deutschland und wurde hier in kurzer Zeit
bekannt und vielfach nachgeahmt. Ihr berühmtester Ableger ist die preußische
Volkshymne „Heil dir im Siegerkranz." Hier hilft nun alles Leugnen und
Sträuben nichts: die preußische Hymne ist ein doppeltes Plagiat. Die Melodie
stammt aus England, der Text ist mit unwesentlichen Änderungen einer in
Schleswig entstandnen Hymne auf den dünischen König Christian den Siebenten
entlehnt, als deren Verfasser sich der Flensburger Pastor Heinrich Harnes
(1762 bis 1802) erwiesen hat. Harries hatte nämlich 1790 im Flensburger
Wochenblatt ein Gedicht mit folgendem Titel veröffentlicht: „Lied für den
dünischen Untertan, an seines Königs Geburtstag zu singen in der Melodie
des englischen Volksliedes 6va save Zreat (Zsorgs etre- Log." Der Text
lautet nach der von Professor Dr. O. Bochen in Wismar neu veröffentlichten
Lesart folgendermaßen:

[Beginn Spaltensatz] 1. Heil dir, dem liebenden
Herrscher des Vaterlands!
Heil, Christian, dir!
Fühl in des Thrones Glanz
Die hohe Wonne ganz,
Vater des Volks zu sein!
Heil, Christian, dir! 2. Nicht Ross' und Reisige
Sichern die steile Höh,
Wo Fürsten stehn.
Liebe des Unterlans,
Liebe des freien Manns
Gründen den Herrscherthron
Wie Fels im Meer. [Spaltenumbruch] 3. Heilige Flamme, glüh,
Glüh und erlösche nie
Fürs Vaterland!
Wir alle stehen dann
Mutig für einen Mann,
Kämpfen und bluten gern
Für Thron und Land! 4. Sei noch, o Christian, hier
Lange des Thrones Zier,
Des Landes Stolz!
Eifer und Männertat
Finde sein Lorbeerblatt
Treu aufgehoben dort
An deinem Thron! [Ende Spaltensatz]

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[0714] Zur Geschichte der deutschen Nationalhymnen zu zerbrechen, warum das nicht geschehen ist. Andre Zeiten, andre Bedürfnisse, andre Moden. Man hatte damals offenbar noch kein Bedürfnis, die nationale Empfindung in der Form eines offiziellen, allgemein giltigen poetischen Be¬ kenntnisses zusammenzufassen. Dieses Bedürfnis scheint erst entstanden zu sein, als sich in neuerer Zeit eine wichtige politische Umwandlung im nationalen Leben vollzogen hatte: erst seitdem aus dein Staatsoberhaupt ein Landesvater und aus den Bürgern des Staats getreue Untertanen geworden waren, erst seitdem der Patriotismus die Form der Loyalität angenommen hatte, erst da waren die Bedingungen für die Entstehung der modernen Nationalhymne ge¬ geben, die der poetische Ausdruck nationaler Zufriedenheit und Ergebenheit ist. Es ist darum kein Zufall, daß die älteste Nationalhymne der Welt im loyalen und monarchischen England entstanden ist. Die berühmte englische Volkshymne 6vel sg-of elf XinZ wurde zum erstenmal öffentlich zu London im Jahre 1745 zum Geburtstage des Königs Georgs des Zweiten gesungen. Diese Hymne ist das Vor- und Urbild aller andern Nationalhymnen geworden. In England hat also die Nationalhymne das Gepräge erhalten, das ihre Eigen¬ tümlichkeit bezeichnet: sie ist eine Königshymne, ein nationaler Festgesang, der zunächst für den Geburtstag des Landesvaters bestimmt war. Die englische Nationalhymne kam „ans Flügeln des Gesanges" schon im achtzehnten Jahr¬ hundert, wie nachgewiesen ist, nach Deutschland und wurde hier in kurzer Zeit bekannt und vielfach nachgeahmt. Ihr berühmtester Ableger ist die preußische Volkshymne „Heil dir im Siegerkranz." Hier hilft nun alles Leugnen und Sträuben nichts: die preußische Hymne ist ein doppeltes Plagiat. Die Melodie stammt aus England, der Text ist mit unwesentlichen Änderungen einer in Schleswig entstandnen Hymne auf den dünischen König Christian den Siebenten entlehnt, als deren Verfasser sich der Flensburger Pastor Heinrich Harnes (1762 bis 1802) erwiesen hat. Harries hatte nämlich 1790 im Flensburger Wochenblatt ein Gedicht mit folgendem Titel veröffentlicht: „Lied für den dünischen Untertan, an seines Königs Geburtstag zu singen in der Melodie des englischen Volksliedes 6va save Zreat (Zsorgs etre- Log." Der Text lautet nach der von Professor Dr. O. Bochen in Wismar neu veröffentlichten Lesart folgendermaßen: 1. Heil dir, dem liebenden Herrscher des Vaterlands! Heil, Christian, dir! Fühl in des Thrones Glanz Die hohe Wonne ganz, Vater des Volks zu sein! Heil, Christian, dir! 2. Nicht Ross' und Reisige Sichern die steile Höh, Wo Fürsten stehn. Liebe des Unterlans, Liebe des freien Manns Gründen den Herrscherthron Wie Fels im Meer. 3. Heilige Flamme, glüh, Glüh und erlösche nie Fürs Vaterland! Wir alle stehen dann Mutig für einen Mann, Kämpfen und bluten gern Für Thron und Land! 4. Sei noch, o Christian, hier Lange des Thrones Zier, Des Landes Stolz! Eifer und Männertat Finde sein Lorbeerblatt Treu aufgehoben dort An deinem Thron!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/714>, abgerufen am 14.05.2024.